Wilhelm von Polenz
Das Land der Zukunft
Wilhelm von Polenz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Verfassung

Dem Fremden, der die amerikanische Verfassung studiert, fällt es am schwersten, das Verhältnis des Bundes zu den einzelnen Staaten zu verstehen. Es befremdet ihn, daß es in einem Lande zweierlei ganz verschiedene Regierungen zu geben scheint, die von demselben Bürger den nämlichen Gehorsam, die nämliche Treue fordern. Und noch mehr erstaunt er, wenn er bei näherem Kennenlernen amerikanischer Verhältnisse entdeckt, daß in der Seele des Yankees zwiefacher Patriotismus Platz hat: der Großamerikas und der des zufälligen Geburts- oder Wohnstaats.

Am ersten noch müßten wir Deutschen mit unserer kleinstaatlichen Vergangenheit, die sich allmählich in ein allumfassendes Reich ausgewachsen hat, wobei doch die Selbständigkeit des einzelnen Bundesstaats nicht aufgehoben worden ist, diese doppelte Buchführung des Staatsbürgertums verstehen. –

Die dreizehn englischen Kolonien der Ostküste hingen ursprünglich nur ganz lose zusammen. Das was sie am festesten hätte aneinander ketten können, wäre, sollte man meinen, die gemeinsame Abstammung gewesen. Aber wie man das bei Geschwistern oftmals findet, sobald sie das Elternhaus verlassen haben, streben sie zunächst auseinander, verlangen vor allem 36 nach Selbständigkeit. Jeder Staat baute erst einmal für sich sein Gemeinwesen aus, je nach den örtlichen Verhältnissen, die seine Gründer vorfanden, und je nach den gesellschaftlichen, politischen, religiösen Anschauungen, die sie aus den verschiedenen Ständen, Parteien und Sekten vom Mutterlande in die Neue Welt mitbrachten. Weit mehr als heute, wo die gemeinsame Geschichte und die gleiche Verfassung ganz Amerika nicht bloß politisch zur »Union« gemacht hat, hoben sich damals die Unterschiede des Bodens, der Lage, des Klimas, wirtschaftliche Grenzen schaffend, voneinander ab. In einer Zeit ohne Eisenbahnen und ohne Zeitungen konnte auf den miserablen Wegen auch kein reger Verkehr stattfinden. Eine Gesellschaft mit ausgeprägten Sitten und Anschauungen hatte sich noch nicht aus dem Chaos der Kolonialzeit entwickelt. Was diese primitiven Republiken dennoch zusammenhielt, ihnen ein Gefühl der Solidarität gab, war allein das Regiertwerden durch das Mutterland. Als Massachusetts, Plymouth, New-Haven und Konnecticut zur ersten Union auf amerikanischem Boden zusammentraten, geschah es ausdrücklich unter dem Namen »Vereinigte Kolonien«. Von England waren und blieben diese Geschwister tief abhängig trotz des atlantischen Ozeans. Gesellschaftlich, wissenschaftlich, literarisch, gewerblich in Recht und Sprache, war das Mutterland ihnen Vorbild und Autorität.

Mit Altengland teilte auch das Kolonialvolk den Franzosenhaß. Die Kolonien halfen den Erbfeind der 37 Angelsachsen in achtjährigem Ringen endgültig bezwingen und seine Herrschaft in Kanada und östlich vom Mississippi brechen. Ein Jahrzehnt aber nur nachdem dieser große Rassenkampf in der westlichen Hemisphäre ausgetragen worden war, entstand jener Konflikt zwischen Mutter und Kind, der Großbritannien den Verlust der dreizehn Kolonien einbringen sollte.

Der außerordentliche politische Fehler, den die englische Regierung damals beging, bestand darin, daß sie völlig verkannte, mit wem sie es zu tun habe. Gewiß hatten sich die Kolonien bis dahin nur von der loyalen Seite gezeigt, gewiß waren sie dem Mutterlande zu großem Danke verpflichtet; das gab aber dem Parlamente und Ministerium von London noch kein Recht, sie als wehrlose Untertanen zu behandeln, denen man gegen ihren Willen lästige Steuern und permanente Einquartierung auferlegen durfte. Man vergaß dabei, welches Blut diese Kolonisten in den Adern hatten, daß sie Nachkommen jener Puritaner, die um des Glaubens willen ausgewandert, oder Söhne der Kavaliere, der Rundköpfe, der Independenten waren. Mochten sich diese Männer ehemals bekämpft haben, eines blieb ihnen gemein, daß sie ihr Leben für ihre Überzeugung einzusetzen pflegten. Auf englischem Boden hatten ihre Großväter und Urgroßväter gekämpft für Glaubensfreiheit gegen Gewissenszwang, für Parlamentsrechte, Selbstverwaltung, Konstitution, gegen Tyrannei, Absolutismus und Willkür von Königen und Usurpatoren. Sie hatten im Aufruhr gegen Karl I. sich geübt im Verweigern 38 von ungesetzlichen Steuern und in der glorreichen Revolution gegen Jacob II. im siegreichen Durchfechten verfassungsmäßiger Volksfreiheit. Ein politischer Grundsatz vor allem war ihnen von damals her in Fleisch und Blut übergegangen, der lautete: Keine Besteuerung ohne Vertretung! Und nun forderte das Mutterland wohl Abgaben und Dienste, gab ihnen aber keinen Sitz in der gesetzgebenden Körperschaft, die diese Abgaben bestimmte. Mit einem Wort: England wollte den Kolonien ähnlichen Zwang auferlegen, wie er von ihm selbst in Jahrhunderte langem, erbittertem Bürgerkriege abgeschüttelt worden war, wollte dem Kolonialvolke die Rechte vorenthalten, die es widerstrebenden Fürsten in blutigen Revolutionen abgerungen hatte.

So wurden diese loyalen Untertanen künstlich von einer kurzsichtigen Regierung in verzweifelte Opposition getrieben. Als sich das gute Volk von Nordamerika dann aber blutenden Herzens losgerissen hatte von der Hand, die bis dahin seine Jugend geleitet, da wurde die gemeinsame Not, das Bewußtsein, in diesem Kampfe siegen oder untergehen zu müssen, ein viel festeres Band für die Revolutionäre, als es ehemals der Gehorsam gegen das Mutterland hatte sein können.

Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 trägt, obgleich sie mitten im Kriege gegen England erlassen wurde, und obgleich jeder ihrer Sätze gegen die unerträgliche Bevormundung durch das Mutterland gerichtet ist, doch ganz den Stempel des Angelsachsentums. Aus ihr spricht der Geist männlichen 39 Selbstbewußtseins, die Klarheit und der praktische Blick des Staatsmanns, die eines Chatam und Burke würdig gewesen wären. Bei allem radikalen Freiheitssinn, den dieses Revolutions-Dokument atmet, fehlt ihm nicht ein echt englischer konservativer Zug, jene Pietät, Mäßigung und Würde selbst in der Leidenschaft, die auch die Dichter und Seher Altenglands, einen Shakspeare und Milton, auszeichnen.

Die Unabhängigkeitserklärung, im Namen der dreizehn Staaten erlassen, machte das Volk von Nordamerika erst selbständig, mehr als der Freiheitskrieg, der mit wechselndem Glück gegen das Mutterland geführt wurde. Zwischen dem Frieden von Versailles, der die Unabhängigkeit anerkannte, und der eigentlichen Errichtung des Bundes liegt ein Provisorium von wenigen Jahren. Nun erst begann das viel heiklere Werk, die nur durch ein »Freundschaftsbündnis« gebundenen Kämpfer auch für den Frieden zu einigen und zur Annahme eines allen Teilen gerecht werdenden Grundgesetzes zu bringen. Die Verfassung ist nach John Quincy Adams »einem widerwilligen Volke durch die zermalmende Notwendigkeit abgerungen« worden.

Das schwierigste beim Entwerfen der Verfassung in den Jahren 1787, 1788 war vielleicht, daß sie in Zeiten äußeren Friedens entstand. Es fehlte jener Enthusiasmus, der die deutschen Stämme im Januar 1871 vor Paris zu einer ungewöhnlichen Höhe des Opfermuts und des idealen Schwunges emporhob.

Aber es gab doch etwas, was diese partikularistisch angehauchten, in ihre Staatsautonomie verliebten Bürger 40 der vormaligen dreizehn Kolonien eng verknüpfte: sie waren ihrer Gesinnung nach sämtlich Republikaner. Sie hatten während der Kolonialzeit die Vorzüge der Selbstverwaltung erprobt, und der Haß gegen Georg III. und seine Tyrannei hatte ihnen alle Liebe zum monarchischen Regierungssystem ausgetrieben. Durch eine begreifliche Gedankenübertragung bewirkte dieser Haß gegen den Despotismus, dem sie glücklich entronnen waren, daß sie bei der Verfassung, die sie sich nun zu geben anschickten, vor allem anderen jede Übermacht eines Staates, Standes, oder gar einer einzelnen Person ausgeschlossen sehen wollten. Schließlich ließ auch die Nachbarschaft dreier großer europäischer Mächte: Englands, Frankreichs, Spaniens, das bisher weder zur Nation noch zur Großmacht ausgereifte Kolonialvölkchen seine Kraft in der einen großen brennenden Pflicht suchen, wenigstens nach außen einig zu sein, mochte man sich im Verfassungskampf noch so heftig befehden.

Die »Väter« der Konstitution haben die Prinzipien des Grundgesetzes nicht aus dem Ärmel geschüttelt. Sie kannten vor allen Dingen die Verfassung des englischen Mutterlandes. In der amerikanischen Konstitution sind alle jene Garantien enthalten und erneuert, für Sicherheit von Leib und Leben, für Freiheit der Gesinnung, der Bewegung und der Äußerung, die das Volk von England seit 1215 bis zur glorreichen Revolution 1688 durch die Magna Charta, die Petition of Right, die Habeascorpus-Akte und andere wichtige Rechtsverbriefungen erlangt hatte.

41 Nicht minder aber als durch der englischen Vorfahren glänzende Errungenschaften wurden die Gesetzgeber von den Ideen ihrer Zeit selbst beherrscht. Schwärmerei für Volksfreiheit, Bürgertugend und Naturrecht war vor allem in gallischer Färbung zu ihnen gekommen. Die Sturmzeichen der französischen Revolution wurden auch jenseits des atlantischen Ozeans gesehen, jedoch konnten Schriftsteller wie Montesquieu und Rousseau dort in einer primitiveren, natürlicheren und gesünderen Gesellschaft nicht den Rausch erzeugen wie an der Seine. Das Ende des achtzehnten Jahrhunderts neigte zum Aufstellen abstrakter Systeme; man liebte es, verschwommene Phrasen für das Staatsleben als Allheilmittel zu empfehlen. Doch waren die Revolutionäre in Amerika Angelsachsen von Herkunft und keine Gallokelten; das ist der bedeutsame Unterschied zwischen den Mitgliedern des Konvents von Philadelphia und den ungefähr zur gleichen Zeit in Versailles tagenden Ständen Frankreichs.

Nur scheinbar haben die Abgesandten des »guten Volks« der ehemaligen englischen Kolonien einen Staat aus dem Nichts hervorgerufen; lange vor Ausbruch des Unabhängigkeitskriegs hatte es Provinzial-Kongresse gegeben und einen allgemeinen Kongreß zu Philadelphia. Ja mitten im Kriege mit England setzten die Staaten eigene Grundgesetze auf. Die Konstitution fußt auf diesen einzelstaatlichen Verfassungen und Statuten; entsprechend der Sturm- und Revolutionsperiode, in der sie entstanden, waren sie erfüllt von kampflustig republikanischem Reformgeist. Nur nach einer Richtung 42 war man in der Enge geblieben, hatte man den Bann puritanischer Gesetzesherrlichkeit doch nicht gänzlich abzuschütteln vermocht: im Religiösen.

In diesen ersten kurzlebigen Konstitutionen zeigt sich die Kirche noch nicht vom Staate getrennt. Zugehörigkeit zu einer Konfession wird vom Bürger gefordert, Äußerung des Unglaubens mit Strafe bedroht. Die Verfassung von 1787, 1788 hat erst den großen folgenreichen Schritt vorwärts getan zur Gewissensfreiheit, den wir in Deutschland versäumt haben, und damit die letzten Konsequenzen der Reformation gezogen, indem sie anordnete, daß der Kongreß keinerlei religiöse Einrichtungen betreffende Gesetze erlassen solle. Religion wurde dadurch für das Gebiet der Union in Praxis und in Theorie zur Privatsache erklärt.

Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika ist nicht mit Unrecht ein Kompromiß genannt worden. Sie mußte ein Kompromiß werden, wenn man die Stimmung der Zeit und die praktische Lage des Volks bedenkt. Zwei Prinzipien wiegen vor: einmal der Gedanke der Volkssouveränität. Alle Autorität stammt vom Volk, die öffentlichen Ämter sind vom Volkswillen kontrollierte Vertrauensstellungen. Die Regierung setzt die Zustimmung der Regierten voraus und hat zum Zweck die Wohlfahrt der Bürger. Das andere Prinzip trug mehr konservativen Charakter: die Einzelstaaten und ihre altbewährten Gesetze und Einrichtungen müssen nach Möglichkeit erhalten bleiben.

Die noch niemals gelöste, ungeheuer schwierige Frage, die den Schöpfern einer neuen Verfassung vorlag, 43 war die: wie konnte ein Staatsgebilde geschaffen werden, das einmal alle Autorität dem ganzen Volke gibt und das außerdem das historisch gewordene, das Lokale und Landsmannschaftliche schonen muß. Nationale und partikularistische Tendenzen, centripetale und centrifugale Bestrebungen sollten hier, so gut es gehen wollte, unter einen Hut gebracht werden. Das war eben nur möglich auf dem Wege des Kompromisses.

Dem Volke wurde das Selbstbestimmungsrecht gegeben durch die Wahlen. Die Volksboten nicht allein, nein auch das Bundesoberhaupt, das ganze Kabinett, die Magistratspersonen, ja sogar die niederen Justizbeamten wurden vom Stimmzettel abhängig gemacht.

Von vorn herein suchte man vorzubeugen, daß die vom Volke berufenen Männer ihre Befugnisse überschreiten, ihre Macht mißbrauchen könnten. An die Möglichkeit, daß das Selbstbestimmungsrecht mit der Zeit zur Korruption führen könne, scheint in jenen harmlosen Zeiten niemand gedacht zu haben. Man suchte die Gefahr auf ganz anderem Gebiet, nicht bei den Massen, von deren Erleuchtung man alles erwartete, denen man gar nicht genug Rechte anvertrauen zu können vermeinte, bei der Regierung glaubte man sie wittern zu müssen.

Darum jene scharfe Trennung der Exekutive, Legislative und Justiz, die bei der amerikanischen Verfassung weiter durchgeführt ist als bei irgend einer europäischen, die englische nicht ausgenommen. Ein Machtfaktor sollte den anderen balancieren, ein Ressort das andere im Schach halten. Die Exekutive legte 44 man in die Hand des Präsidenten; weil es jedoch mit dem Wesen der Demokratie für unvereinbar angesehen ward, daß ein Einzelner allzuviel zu bestimmen habe, wurde sein Geschäftskreis eng begrenzt. In dem Supreme Court erhielt er eine Art Aufsichtsbehörde an die Seite gestellt. Dieses oberste Staatsgericht, dieser Wächter der Verfassung, hat die Jurisdiktion in allen Bundesangelegenheiten, ferner in allen internationalen Materien und in den Streitigkeiten der einzelnen Staaten untereinander. Viele Maßregeln des Präsidenten haben nur Wirksamkeit mit Genehmigung des Senats. Vor allem aber hoffte man der überragenden Stellung des Präsidenten dadurch die Gefährlichkeit zu nehmen, daß man ihn nur auf vier Jahr wählbar machte. Damit aber ja nicht die Exekutive und die Legislative jemals unter einer Decke spielten und sich gegen den Götzen »Volk« verbänden, gehen Präsident und Vicepräsident nicht etwa aus dem Kongreß hervor, sondern für die Wahl des Bundesoberhaupts und seines Stellvertreters wird ein Plebiszit angerufen. Auf dieselbe Sorge vor möglicher Konspiration der verschiedenen Regierungsgewalten führt auch die Maßregel zurück, daß Kabinettsmitglieder nicht aus dem Parlament entnommen werden, und daß Beamte nicht im Kongreß sitzen dürfen.

Man sieht, die Regelung der Präsidentenfrage war ein Ergebnis großer Vorsicht. Tatsächlich wurde in der mehr als hundertjährigen Geltungsdauer der Verfassung kein Versuch zu einem Staatsstreich von oben her unternommen, wohl aber ist der Bestand der Union von einer ganz anderen Seite her ernstlich bedroht 45 worden, durch die zur Sezession führenden Sonderbestrebungen der einzelnen Staaten.

Durch das Grundgesetz war aus einem Staatenbunde ein Bundesstaat entstanden. Die Befugnisse der Bundesregierung betrafen alle großen allgemeinen Angelegenheiten, wie: Krieg und Frieden, Armee und Marine, Post- und Münzwesen, Handel, Patentwesen und Bundesgerichte. Alles was nicht in das Machtgebiet des Bundes fiel – das war unter anderem das ganze gemeine Recht – blieb der Gesetzgebung der Einzelstaaten überlassen. Jeder Staat hat seine eigene Verfassung, die bei den ursprünglichen dreizehn viel älter ist als die Bundesverfassung, denn sie geht auf alte englische Statuten und die Charters der Kolonien zurück. Auch die Regierung des Einzelstaats weist die Dreiteilung in Exekutive: Gouverneur, Legislative: zwei Häuser und Justiz auf. Die Territorien als noch nicht fertige Staaten wurden dem Kongreß zu Washington unterstellt. Bei ihnen weist der Grundsatz: Keine Besteuerung ohne Vertretung, und keine Regierung ohne Zustimmung der Regierten, eine arge Lücke auf, denn die Territorien haben weder Selbstverwaltung noch Stimme im Parlament. Das Drängen dieser stiefmütterlich bedachten Gebiete, aus ihrer Unselbständigkeit herauszukommen und den Staatscharakter zugesprochen zu erhalten, ist begreiflich, und hat wiederholt die Geschichte der Union beeinflußt.

Die Väter der Konstitution hatten den Partikularismus der Einzelstaaten schonen müssen, sonst wäre das Verfassungswerk, dessen Zustandekommen sowieso oft 46 nur an einem dünnen Faden hing, höchst wahrscheinlich gescheitert. Sie haben darum einige schwierige Probleme, bei denen Einzelinteressen in Frage kamen, unentschieden gelassen, zum Beispiel die Sklavenfrage. Sie sanktionierten damit schon im Grundgesetz, ohne ihr Wissen und Wollen, jenen damals nur im Keim vorhandenen Gegensatz zwischen Sklavenhaltern und Freibodenanhängern, der sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gefährlicher gestalten sollte, und der endgültig erst durch Ströme von Bürgerblut beseitigt werden konnte.

Andererseits war die Dehnbarkeit und Auslegbarkeit, ja die Unvollständigkeit der Verfassung ein Vorzug. Ihr Wesen ist von Haus aus undogmatisch, trotzdem ist sie von den Amerikanern längst heilig gesprochen worden und wird heute als eine Art »Volksbibel« behandelt. Sie legte in weiser Beschränkung nur die Grundlinie fest, der Ausbau im Einzelnen wurde von ihr der Praxis überlassen. Wie vorauszusehen war, ist sie durch den Gebrauch in wesentlichen Teilen ergänzt worden. Jene verhängnisvolle Lücke in der Sklavereifrage wurde erst achtzig Jahre später durch das berühmte dreizehnte Amendement geschlossen, wonach Sklaverei in dem gesamten Gebiet der Vereinigten Staaten verboten ist. Das vierzehnte Amendement gibt jedem Eingeborenen und jedem Naturalisierten die vollen Bürgerrechte. Das fünfzehnte bestimmt, daß das Stimmrecht nicht von Rasse, Farbe oder ehemaligem Sklavenverhältnis abhängen soll.

Die Geschichte hat die Interpretation der Verfassung besorgt; durch Zusätze ist ihre Einseitigkeit 47 ausgeglichen, manche ihrer Schärfen gemildert worden. Die Präsidenten mit ihren Vetos und mit ihren Botschaften haben wichtige Erläuterungen dazu gegeben, die Parteien in den Wahlkampagnen und die Parlamentarier in den Kongreßdebatten haben sie in sehr verschiedenem oft widersprechendem Sinne ausgelegt und ausgenutzt. Die Einzelstaaten und die Territorien mit ihrer eigentümlichen Entwickelung haben ihr hie und da eine buntere Färbung gegeben. Niemand konnte ja in jenen Jahren des Sturmes und Dranges das Wachstum der Nation und die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft voraussehen. Die Konstitution ward als eine Art Notdach errichtet, sie wurde von vornherein weit und luftig geplant und vermag darum noch heute alles zu überspannen, was inzwischen unter ihr herangewachsen ist an mannigfaltigen Formen des Staats- und des Gesellschaftslebens.

Einer jener dem angelsächsischen Common Sense entsprungenen einfachen und praktischen Grundsätze, an denen diese Verfassung reich ist, besagt, daß alles was nicht ausdrücklich in der Konstitution enthalten sei, mit Absicht ausgeschlossen werde und darum der Legislatur der Einzelstaaten zufalle.

Die Staaten wurden von der Verfassung als ideale Begriffe gesetzt; man fragte nicht danach wie groß, reich oder mächtig der einzelne sei. Jeder sollte dem Bunde gegenüber genau soviel Rechte haben wie der andere. Diese Parität kommt am deutlichsten zum Ausdruck darin, daß jeder Staat ohne Ansehen der Bevölkerungsziffer zwei Senatoren, nicht mehr und nicht 48 weniger, in den Senat schickt. Der Senat repräsentiert, wenn man will, die Urzellen des ganzen Verfassungsbaus, das Repräsentantenhaus dagegen die große, stetig wachsende und fluktuierende Bevölkerung Allamerikas. Das eine Haus zeigt daher konservativ aristokratischen Charakter, das andere mehr demokratisch bürgerliches Wesen.

Über beiden aber steht die Konstitution als Ausdruck des Volkswillens. Sie ist die centrale Sonne des nationalen Planetensystems. Durch sie werden die centrifugalen Kräfte des Staatspartikularismus und die centripetalen des zur Gleichmacherei strebenden Bundes aufs glücklichste im Gleichgewicht erhalten.

Der Staatspartikularismus war im Anfang lebendiger als heute, besonders als eine starke Partei, die anfänglichen Antiföderalisten, nachmaligen Republikaner und Vorläufer der heutigen Demokraten, den Gedanken des Selbstbestimmungsrechts der Massen gegen die Bundesautorität, der einzelstaatlichen Autonomie gegen den Zusammenschluß in der Föderation, mit Leidenschaft verfocht. Eine Gefahr von dieser Seite liegt nicht mehr vor. Die Aussichten haben sich für jede Art von Schismatikern verringert, seit der Bürgerkrieg die Sezession niedergeworfen hat. Hier besiegte der Unionsgedanke den Staatspartikularismus, soweit er zur Abtrünnigkeit neigte, ein für allemal. In jenen großen Tagen der Neugeburt des amerikanischen Volks sank die Macht der Staaten um ebensoviel wie das Ansehen des Bundes stieg.

Der Bund ist in Nordamerika allgegenwärtig; dabei 49 ist er viel weniger aufdringlich als etwa die Regierung in dem büreaukratisch centralistischen Frankreich. Die Organe der Bundesregierung liegen über dem ganzen Lande wie die Nerven unter der Haut des menschlichen Körpers, fast unsichtbar fein. Man merkt die Regierung des einzelnen Staats viel mehr als jene, die in Washington ihren Sitz hat. Das Staats-Hemd ist dem Yankee näher als der Unions-Rock. Der einzelne Bürger, wenn er nicht gerade Abgeordneter ist, kommt mit den Bundesgewalten kaum in direkte Berührung; nicht einmal durch die Abgaben, denn der Bund erhebt indirekte Steuern und überläßt die direkte Besteuerung den Staaten. Und auch alles andere, womit der Mensch täglich in oft nicht angenehme Fühlung oder Reibung kommt: Verwaltung, Bürgerliches Recht, Schulwesen, Polizei, Verkehrswesen ist Sache dieser.

Man hat die Einzelstaaten Nordamerikas auch mit wasserdichten Abteilungen eines Schiffes verglichen. In der Tat bietet die Abgeschlossenheit der Einzelteile für das Ganze eine große Garantie der Sicherheit. Fehler, die eine lokale Regierung macht, Nachteile, die einen Landesteil treffen, bleiben örtlich beschränkt, treffen die Gesamtheit der Nation nicht so schwer wie in einem centralisierten Gemeinwesen.

Es gilt auch für die größte Republik der Welt das Wort, das für das größte absolutistisch regierte Land Geltung hat: »Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit!« Mögen in einem Staate Nordamerikas die ärgsten Mißstände einreißen, die Bundesregierung kann nur dann eingreifen, wenn das Übel 50 sich gegen die Konstitution versündigt. Sie muß daher nur zu oft untätig bleiben, wo ihr Einschreiten recht am Platz wäre; denn nicht jede Art Willkür und Bosheit und nicht alle politischen Laster konnten mit der Verfassung in Verbindung gebracht werden. Manche Staaten, im Süden und Westen vor allem, haben sich denn auch durch ihre Korruption selbst an den Rand des Abgrunds gebracht. Die amerikanischen Staatsmänner beklagen solche Erscheinungen, aber sie denken nicht daran, nach Hilfe zu rufen. Es ist ein nationaler Glaubenssatz der Yankees, daß man Menschen, Völker und Staaten, die nicht gut tun, möglichst sich selbst überlassen solle, dann würden sie, durch Schaden klug gemacht, am ersten zur Vernunft kommen. Ein weiterer Grundsatz der Demokratie ist unbegrenztes Vertrauen zur Vernunft und zur Güte des Menschen zu hegen; hingegen soll es nach Ansicht der Yankees ein Charakteristikum der Despotie sein, in das Leben der Untertanen immerfort korrigierend und strafend einzugreifen. –

Schließlich sind in solchen Fragen die Resultate maßgebend. Die Einzelstaaten haben sich drüben in freier Selbstverwaltung glücklich entwickelt; trotz eigenartiger Ausgestaltung ihrer Sonderrechte haben sie den Bund bisher nicht gesprengt. Gegenwärtig ist es der Süden, als Sitz der ehemaligen Sklavokratie, der den Amerikanern am meisten Sorge und Kopfzerbrechen macht. Die Schwarzen haben sich nicht allenthalben als reif für die Selbstverwaltung erwiesen; aber eine Ausnahme kann der Bund um ihretwillen nicht machen. Es gehört nun einmal zu 51 den Konsequenzen der Demokratie, daß sie die Menschen wie die Verhältnisse mit der gleichen Elle messen muß. Die Konstitution besagt ausdrücklich, daß alle Menschen »gleich geschaffen« seien. Volkssouveränität und Polizeistaat widersprechen einander. In Amerika geht so manches unbeanstandet durch, was bei uns die Behörde in die Schranken rufen würde.

Der Hauptmangel, den man der Verfassung der Vereinigten Staaten vorzuwerfen gehabt hat, ist, daß sie innere Reibungen begünstige. Ein Beleg für die Richtigkeit dieses Vorwurfs wird immer die Parteigeschichte Amerikas bleiben. Kein Parlament hat im neunzehnten Jahrhundert so wüßte Kämpfe, so erbitterte und häßliche Zwistigkeiten und Ränke aufzuweisen gehabt, wie der Kongreß von Washington.

Hier zeigt sich ein wirklicher Mangel, den die »Väter« durch ihre Ängstlichkeit vor dem Übermächtigwerden der regierenden Gewalten selbst verschuldet haben. Es fehlt dem amerikanischen Verfassungsleben der große, auf eigener Kraft ruhende Regulator; ein Einzelner oder eine Korporation, die die oberste, ungeteilte, dauernde und unparteiische Instanz bildete in allen Fragen des öffentlichen Lebens, der überragende Felsen, an dem sich die Wogen des Parteilebens brächen. Der oberste Gerichtshof ist in seiner Kompetenz zu beschränkt, um diese Stellung ausfüllen zu können, der Präsident aber mit viel zu vielen Kautelen umgeben, als daß es seiner Regierung nach Innen und seiner Exekutive nach Außen nicht an durchschlagender Kraft gebrechen sollte. Und die Legislative wiederum 52 im Kongreß fußt ganz auf der Wahlmache der Berufspolitiker und hat wenig Fühlung mit dem eigentlichen Volke.

Erreicht ist durch die übergroße Vorsicht der Verfassungsbegründer, daß das Volk nicht offenkundig tyrannisiert wird, aber es wird auch nicht geleitet. Es hat in Nordamerika von jeher an genialen Männern des öffentlichen Lebens gefehlt, die dem Volke große Ziele hätten zeigen können. Die bedeutendsten Persönlichkeiten unter den Präsidenten: Washington, Jefferson, Monroe, Lincoln und Grant sind doch weit mehr Werkzeuge als Führer der öffentlichen Meinung und des nationalen Ingeniums gewesen.

Aber wenn auch die einzelnen Teile der Verfassung nicht immer wirkungsvoll und tadellos glatt zusammenarbeiten und ineinander greifen konnten, so hat die Maschine doch noch niemals gänzlich versagt. Gerade in schwerer Zeit, im Bürgerkriege, hat sie sich ausgezeichnet bewährt. Das liegt vielleicht weniger an ihrer Vorzüglichkeit als an ihrer Kompromißnatur. Weil ihre Bestimmungen elastisch sind, ist die Möglichkeit offen gelassen, in außerordentlichen Nöten zu Ausnahmemaßregeln zu greifen. Lincoln hat wiederholt ganz autokratisch mancherlei angeordnet und zum Vorteil der Union durchgeführt, was sich mit dem Buchstaben des Gesetzes nicht deckte.

Zudem regiert in keinem Lande der Welt ein Stück beschriebenen Papiers, sondern der oder die Menschen, die hinter den Gesetzesurkunden stehen. Der hohe Patriotismus der Yankees und ihr entwickelter politischer 53 Verstand machen es, daß die Verfassung der Vereinigten Staaten erträglich arbeitet.

Die Amerikaner haben sich an ihre Konstitution gewöhnt, verstehen es, sie zu handhaben, und lieben sie leidenschaftlich. Die Verfassung kleidet sie und sie kleiden die Verfassung. 54

 


 


 << zurück weiter >>