Wilhelm von Polenz
Das Land der Zukunft
Wilhelm von Polenz

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Der amerikanische Charakter

Die amerikanische Gesellschaft ist bereits jetzt von der europäischen stark verschieden. Die Tendenz geht dahin, die Ähnlichkeiten verschwinden zu lassen und die Besonderheiten immer stärker herauszutreiben. Das Volk der Vereinigten Staaten ist äußerlich vollständig amerikanisiert, obgleich die Zahl derer, deren Großeltern oder gar Urgroßeltern in Amerika geboren sind, eine kleine sein dürfte. Die Zuwanderung Fremder wird relativ bedeutungsloser, je schneller das ganze Volk wächst. Gemeinsame geschichtliche Erlebnisse, gemeinsame wirtschaftliche Interessen führen die Bürger immer näher zueinander. Ein übriges tun die Zeitungen, die allen den gleichen Unterhaltungsstoff zuführen und ähnliche Lebensauffassung weithin verbreiten, mag auch die Parteiansicht verschieden sein. Der gleichartige Jugendunterricht in den Public Schools macht die Söhne und Töchter des ganzen Landes zu waschechten Yankees. Die Jugend lernt auf der Schule fast nur die Geschichte des eigenen Landes kennen. Begriffe wie klassisches Altertum oder Mittelalter lassen den jungen Amerikaner, wenn er überhaupt damit in Berührung kommt, kalt. Auch die Tatsache, daß ein großer Teil des Volkes ohne schulmäßige Bibelkunde aufwächst, muß uns gegenüber mit der Zeit trennend wirken. Eine neue Ethik bildet 55 sich und veränderte Auffassungen wachsen heran von Pflicht und Schicklichkeit. Die Stellung der öffentlichen Meinung zur politischen Korruption beweist das. Über Geld und Gelderwerb denkt der Amerikaner ganz anders als wir. Die Frau ist freier und selbständiger in Haus wie Öffentlichkeit. In der Kindererziehung herrschen laxere Prinzipien als bei uns. Der Arbeiter, der Farmer können mit gleichen Ständen in Europa gar nicht verglichen werden. Unter den Männern der guten Gesellschaft bildet sich ein ganz neuer Typus heran, der der spezifisch amerikanische zu werden verspricht. Während nämlich für das Preußen einer bestimmten Periode der Offizier das tonangebende Vorbild darstellte, während England im Gentleman sein gesellschaftliches Ideal ausgebildet hat, ist in Amerika ein Typus in der Entwicklung begriffen, der mit dem Gentleman wohl verwandt erscheint, der aber seine Herkunft aus einer minder aristokratischen, mehr dem Geschäft zugewandten Welt nicht verleugnen kann: den »smartman« möchte man ihn taufen.

Die Absonderung der amerikanischen Gesellschaft wird immer ausgesprochener werden, je mehr der Westen in den Vordergrund kommt und der Süden erstarkt. Der Westen mit seinen noch ungehobenen Schätzen, die weit edler und kostbarer sind als alle kalifornischen Goldfunde zusammen, gravitiert nach Asien. Der Süden, der nur allmählich das im Sezessionskrieg verlorene soziale Gleichgewicht wiederfinden kann, weist nach Südamerika. Der Einfluß der halb europäischen Neuenglandstaaten aber muß schwächer und schwächer 56 werden, je mehr das übrige Land zum Bewußtsein seiner Kräfte kommt. Jetzt sitzt noch die Geldmacht und die Oberkontrolle des centralisierten Geschäftslebens in Wallstreet, und die feinste Geisteskultur blüht in Boston. Aber schon zieht Chicago Kapital und Geschäft des mittleren Westens in bedrohlicher Weise an sich. An der pacifischen Küste aber wird in der kalifornischen Staatsuniversität von Berkeley und in Leland Stanford University trotz Harvard und Yale geistiges Leben gepflegt. Charakteristisch ist auch, daß man es bereits wagen darf, in St. Louis, recht in der Mitte des Kontinents, eine Weltausstellung zu veranstalten. Je mehr aber das wirtschaftliche und kulturelle Schwergewicht von der Ostküste nach der Mitte und gar nach dem Westen rückt, desto nachhaltiger macht sich die Nation von europäischen Einflüssen frei.

Daß das Volk von Nordamerika, jung wie es ist, sich eine absonderliche, ihm allein eigene Weltanschauung ausgebildet hat, kann nicht verwundern; sie bildet sich ja beim Individuum wie bei Klassen und Völkern durch Erlebnisse. Die Nation hat ihre Lehr- und Wanderjahre durchgemacht. Sie war mündig in dem Augenblicke, als sie vom Westen dauernd Besitz ergriffen hatte. Erstaunlicher ist es vielleicht, daß in diesem buntscheckigen Konglomerat von Rassen und Nationalitäten sich etwas entwickeln konnte, was ich das rein amerikanische Temperament nennen möchte.

Es ist in erster Linie sanguinisch, aber in anderer Art als das gallische Temperament. Der Franzose bleibt bei aller Lebhaftigkeit Pessimist, der Yankee ist 57 ausgesprochener Optimist. Auch die Slaven sind ja sanguinisch veranlagt, aber ihre Flamme gleicht dem Strohfeuer; sie fallen aus leichtbewegtem Enthusiasmus schnell in melancholische Apathie zurück. Beim Amerikaner balancieren sich schnelle Begeisterungsfähigkeit und ausdauernde Tatkraft in glücklichster Weise.

Mit einem einzigen Beiwort ist das amerikanische Temperament kaum anzudeuten, geschweige denn zu umschreiben. Wie der Landschaft Nordamerikas an vielen Stellen, wie dem Klima, so ist auch dem Charakter der Menschen in jenem Lande etwas Sprunghaftes, Groteskes, manchmal Gewaltsames und Brutales eigen. Den für seine Geduld berühmten Yankee kann gelegentlich Berserkerwut erfassen, und die Nüchternheit des öffentlichen Lebens schlägt drüben, wenn die nationale Eitelkeit verletzt wird, in Hysterie um.

Will man amerikanische und deutsche Gemütsart vergleichen, so kann man dem Deutschen den Ruhm größerer Originalität und Tiefe zugestehen, dem Yankee muß man Beweglichkeit und Vielseitigkeit lassen.

Am liebenswürdigsten äußert sich das amerikanische Temperament im Humor. Er tritt viel mehr in der Öffentlichkeit zu Tage als bei uns, wo er am schönsten ist, wenn er das Familienleben durchwärmt, und am aufdringlichsten, wenn er sich am Stammtisch breit macht. In Amerika tritt er kecker auf und gewinnt durch Selbstbewußtsein, was er an Intimität verliert. Er ist die Würze der Zeitungen. Dem Politiker darf er nicht fehlen, wenn er, wie sie drüben sagen »magnetic« sein soll. Bei Bankettreden und Vorträgen wird 58 er mehr als Gründlichkeit vom Redner angestrebt. Selbst der Geistliche, der seine Kirche füllen will, wird mit ihm liebäugeln.

Der amerikanische Humor ist minder fein und sinnig als der deutsche oder der englische. Er ist nicht grimmig wie der von Dickens, nicht empfindsam, wie der Jean Pauls. Er hat selten jene geheime Verwandtschaft mit dem Tragischen, welche bei Reuter, Keller, Raabe das Auge mit Tränen füllt, während der Mund lacht. Er übertreibt lieber und zieht ins Lächerliche, statt zu versöhnen und zu trösten. Der Tiefsinn im Unsinn, für den Busch das ewig klassische Beispiel bleiben wird, ist ihm fremd. Er ist gutmütig, von schnellem Blick für klar zu Tage liegende Widersprüche, nicht tief, manchmal etwas pointelos, aber auch frei von Frivolität. Mark Twain und der Karikaturenzeichner Gibson sind gute Repräsentanten.

Der Deutsche, der Amerika nicht aus eigener Anschauung kennt, und der sich sein Urteil über die Amerikaner aus dem bildet, was die Zeitungen über Lynchjustiz, Streiks, Raubzüge der Multimillionäre, Korruption der städtischen Verwaltung, Exzentrizität des Smart Set Skandalöses zu berichten wissen, wird kaum geneigt sein, zu glauben, daß im amerikanischen Volkscharakter Ritterlichkeit und Großmut hervorstechende Züge sind. Man denkt sich den Yankee nur allzu gern als kalten, berechnenden Nur-Geschäftsmann, als rücksichtslos brutalen Egoisten, dem jede edlere Regung des Gemüts fremd bleibt, weil sie ihn bei seiner wichtigsten Beschäftigung, der Dollarjagd, stören könnte. 59 In Wahrheit ist diesem Volke eine Begeisterungsfähigkeit, eine Hoffnungsfreudigkeit eigen, die näher kennen zu lernen ich vielen unserer Pessimisten, Nörglern und Neidhämmeln zur Korrektur ihres verkrüppelten Gemüts dringend empfehlen möchte.

Wir pflegen es rühmend als eine Tugend hervorzuheben, wenn jemand sein Vaterland liebt. Dem Amerikaner ist der Patriotismus selbstverständlich. Eine Partei, die nicht als ersten Grundsatz in ihrem Programm den Bestand des Vaterlandes hätte, wäre drüben von vornherein unmöglich; Liebäugeln mit internationalen Gewalten würde als Landesverrat gelten. Der amerikanische Patriotismus erstreckt sich auf alles, auf die Gesetze, die Einrichtungen, selbst auf die anerkannten Mängel des Landes. »Amerikanisch, folglich gut!« ist das Argument. Der Yankee ist Patriot im Schlafen und Wachen, beim Essen und Trinken, in jeder Lebenslage. Der erste Schrei des Neugeborenen ist bereits ein Triumphgesang auf Amerika. Ich machte die Überfahrt mit einem hochbetagten Mann, der zehn Jahre lang bei seinen Kindern in Deutschland gelebt hatte, trotz schwersten Leidens kehrte er nach New York zurück aus dem einen, offen geäußerten Verlangen: in Amerika zu sterben.

Den Amerikaner, der eine Zeitlang in der Fremde gelebt hat, packt es plötzlich mit unerhörter Sehnsucht; das ist nicht das stille, zehrende Heimweh des Schmerzes, sondern ein bewußtes Aufbäumen der ganzen Person gegen die Fremde. »Amerika ist das einzige Land der Welt, wo man leben kann,« es ist »Godsland«, nach der 60 naiven Anschauung des echten Yankee. Man muß nur gesehen haben, wie gleichsam mit Zaubergewalt das Bewußtsein, sich der Heimat zu nähern, auf diese Leute wirkt, wie, je näher sie dem Ufer kommen, sie stärker und stärker unter den Bann des großen Landes geraten, bis schließlich, wenn am Horizont die ersten Häuserreihen von Jersey City und Hoboken, die Silhouette der Freiheitsstatue und die edle Linie der Brooklyn-Brücke auftauchen, der Jubel keine Grenzen kennt. Das ist mehr als prahlende Großtuerei. Es kommt da bei den kühlen Verstandesmenschen eine Glut des Gefühls, ein Hingeben des ganzen Menschen an eine Idee, eine Dankbarkeit und innige Kindesliebe für die allnährende Mutter: Amerika, zum elementaren Ausbruch, die unser angeblich gemütvolles und gefühlstiefes Volk in seiner temperamentlosen Zurückhaltung dem Vaterlande gegenüber gewaltig beschämt.

Dieser Patriotismus bleibt jedoch nicht in äußerlicher Begeisterung bei Ovationen und Demonstrationen stecken, er ist mehr als Hurrapatriotismus; er hat sich glänzend bewährt in schwerer Zeit, als Opfermut. Der Sezessionskrieg ist so außerordentlich in seiner Art, weil er ein Kampf war für Prinzipien und Ideale, nicht ein Rache- und Beutekrieg. Seine Dauer und Heftigkeit forderte von beiden Seiten Opfer und Ausdauer sondergleichen. Und seine Folgen: dauernde Versöhnung der erbittertsten Feinde, die sich nach dem Kriege näher standen als vorher, seltene Großmut auf seiten des Siegers und ungewöhnliche Selbstüberwindung von seiten des Besiegten.

61 Wir werden uns eben daran gewöhnen müssen, dem Yankee eine gewisse Ritterlichkeit zuzugestehen, wenn uns auch nicht alles, was er tut, schreibt und sagt, vornehm und selbstlos anmutet. Seine Ritterlichkeit zeigt sich in glänzendster Weise den Frauen gegenüber. Sie hat nichts gemein mit jener ekstatischen Verhimmelung des Weibes, in der sich die späteren Minnesänger mit unseren dekadenten Litteraturjüngelchen treffen, auch nichts gemein mit der hysterischen Verzückung der modernen Franzosen. Vor den Torheiten des Feminismus schützt den Amerikaner das Selbstbewußtsein der männlichen anglosächsischen Rasse. Er läßt die Frau auf dem Gebiete herrschen, das ihr zukommt: dem der Sitte. Er behandelt sie weder als Engel noch als Haustier, sondern als ein nur körperlich schwächeres, seelisch aber reiner und feiner veranlagtes, auf alle Fälle gleichwertiges Wesen, das zu schützen, wo es nötig, erste Pflicht des Mannes ist. Das kommt nicht nur in der Gesetzgebung zum Ausdruck, die in vielen Staaten Ungebühr gegen Frauen mit den schärfsten Strafen bedroht, das tritt in dem Benehmen des einfachsten Mannes zu Tage. Das Haranguieren schutzloser Frauen auf der Straße, wie es sich bei uns mit der Selbstachtung sogenannter anständiger Herren durchaus verträgt, kann Lynchgerichte zur Folge haben, welche unartigen Männern den Mut zu solcher Flegelei für immer verderben. Überhaupt besitzen die Massen drüben ein feines Gefühl für Schicklichkeit, einen hochentwickelten Sinn für Gerechtigkeit. Man kann es zum Beispiel im Theater erleben, daß vom Publikum stark 62 Partei genommen wird für das Gute gegen das Schlechte, Niedrige, Gemeine. Beifalls- und Mißfallensbezeugungen, spontan geäußert, beweisen, wie sich die Zuschauer mit dem, was sie für recht und billig halten, identifizieren. Keinen stärkeren Trumpf kann der Dichter ausspielen, als wenn er an den Edelmut seiner Landsleute appelliert.

Gegen Schwache, Kranke, Unmündige ist der Amerikaner voll hilfsbereiten Mitleidens. Nirgends stehen die Krankenhäuser, Irrenanstalten, Asyle für vernachlässigte Kinder, Blinden- und Taubstummenanstalten und Altersheime auf so hoher Stufe und sind so leicht zugänglich wie in den Vereinigten Staaten. Nirgends ist die Wohlthätigkeit so groß und frei und weitherzig. Sie verlangt keinerlei Zerknirschung und Tugendheuchelei, womit sie bei uns gelegentlich ihre gute Wirkung aufhebt. Sie ist auch nicht ans Konfessionelle gebunden; oft unterhalten verschiedene Denominationen dieselbe Anstalt.

Der Amerikaner vergiebt gern und schnell; für das Grollen und Nachtragen, das Ballen der Faust in der Tasche hat er kein Talent. Das hat sich nach allen Kriegen, die dieses Volk geführt hat, gezeigt. Das Vergeben- und Vergessenkönnen drückt sich auch in der Strafrechtspflege aus. Die Justiz, die im übrigen in Amerika durchaus nicht ideal gehandhabt wird, zeigt wenigstens menschlich schöne Seiten beim Strafvollzug, der nicht vom Geiste der Rache, sondern von dem der sorgenden Liebe durchdrungen ist. Der Jugend gegenüber werden vorbeugende Mittel angewandt, in den 63 sogenannten Schools of reform, wo man gefährdete Kinder beiderlei Geschlechts für das bürgerliche Leben ausbildet. Für Erwachsene dagegen giebt es in einzelnen Staaten die Reformatories. Hier werden bedingt Verurteilte aufgenommen. Man strebt in ihrer Behandlung vor allem Weckung des Ehrgefühls und Erhaltung aller besseren Triebe an. Nach einiger Zeit guter Führung werden die Korrektionäre entlassen, bleiben aber in Kontrolle der Anstalt. In diesen Instituten, soweit ich sie gesehen, herrschte wahrhaft humaner Geist.

Dem Yankee kann man viele üble Eigenschaften mit einem gewissen Scheine von Recht vorwerfen, nur nicht Kleinlichkeit oder Geiz. Daß seine Vorzüge ebenso wie seine Fehler ins Große gehen, zeigt sich auch in seinem Verhältnisse zum Gelde. Nirgends werden gigantische Vermögen unter rücksichtsloserer Ausnutzung aller Erwerbsmöglichkeiten gewonnen als in Amerika, nirgends aber wird auch von derselben Hand, die hier Milliarden aufhäuft, die Million mit solcher Freigebigkeit wieder herausgegeben wie in dem Lande der Bibliotheksgründungen und Universitätsstiftungen durch Privatleute. Mancherlei Fluch mag am amerikanischen Dollar kleben, zur schmutzigen Knauserei hat er seine Anbeter nicht gebracht. Den Yankee leitet bei seinen Spekulationen viel weniger die Gier nach Mammon, der Erwerb nimmt bei ihm mehr den Charakter des Sports an. Sein reger, energischer Geist will unausgesetzt wagen und wetten, das Glück versuchen. Ans Sparen und Haushalten denkt er dabei selten. Die Erben kümmern ihn verhältnismäßig wenig. 64 Durch eine großartige Stiftung für die Armen oder für Bildungszwecke, meint so mancher Multimillionär, könne er seine Persönlichkeit über das Grab hinaus verlängern und sein Gedächtnis sicherer unsterblich machen, als durch den alltäglichen Erbgang an Kinder und Kindeskinder. Manche Väter halten es auch für richtiger, den Söhnen kein großes Vermögen zu geben, damit ihnen nicht der Ansporn zum Selbstverdienen genommen werde.

Viele sympathische Züge des amerikanischen Charakters sind ja zu erklären aus der Wohlhabenheit des Landes. Wirklicher Pauperismus ist nur in den Armenvierteln großer Städte zu finden. Wer gesund und im Besitze seiner geistigen Kräfte ist, braucht nicht arm zu sein. Die tiefe Tragik unseres Offiziers- und Beamtenproletariats, das gezwungen ist, um der Standessitte willen Geld auszugeben, ohne doch die Möglichkeit zu haben, entsprechend zu verdienen, kennt man drüben in keinem Stande.

Die Abwesenheit der Rangunterschiede und damit des Kastengeistes hat in der Union zu jener menschlich schönen Kameradschaftlichkeit geführt, jenem freien Sichgeben und Gewährenlassen, jener franken Offenheit, jener Hilfsbereitschaft und Gastlichkeit, die den Amerikaner so angenehm von seinem steifzugeknöpften englischen Vetter unterscheidet.

Daß diese Tugenden nicht überall gleichmäßig vorhanden sind, kann nicht wundernehmen bei einer Nation, die zunächst einmal gegen zehn Millionen Mitglieder nichtkaukasischer Rasse beherbergt, in einem 65 Lande, das im Westen und Süden auf der Ranch, im Mining-Camp und in den Urwaldhütten noch ein gut Teil Nomadentum und Hinterwäldlerei aufweist. Und was ein aus Börsianern, Sportsleuten, Lebemännern und Modeschönheiten zusammengesetzter, als Newport-Set berüchtigter Kreis an törichten Extravaganzen begeht, ist belanglos. Diese Rotte ist international. Was will jene Handvoll halbverrückter Menschen bedeuten in einem Achtzig-Millionen-Volke, das im ganzen und großen gesund, tüchtig und ehrenhaft ist.

Angenehm muß jedem, der in Nordamerika reist, auffallen, wie wenig Betrunkenheit man sieht. Das Temperenzlertum hat ja viele lächerliche Seiten, aber es liegt doch etwas Großes darin, wenn ganze Staaten, Stände und Parteien sich aufraffen, um dem populärsten aller Laster entgegenzutreten. Ein besserer Beweis noch dafür, wie man drüben Selbstzucht zu üben versteht, scheint mir in der Beobachtung gegeben, daß man selbst in intimer Männergesellschaft niemals ein häßliches Wort über Frauen zu hören bekommt. Zoten sind mir nur von solchen aufgetischt worden, die noch nicht lange im Lande waren. Ich meine, daß deutsche Männer auf keinem Gebiete mehr an sich zu arbeiten hätten, als auf diesem. Der Unterschied der Auffassung wird hier schon in der Erziehung gelegt. Der deutsche Jüngling der Mittelstände bezieht seinen gesellschaftlichen Schliff am Biertisch. Der junge Amerikaner wird mit Mädchen gemeinsam erzogen von Damen. Daß er dadurch Feminist würde, hat noch niemand behauptet, der ihn bei Spiel und Sport 66 gesehen hat, wohl aber eignet er sich im frühen Verkehr mit dem andern Geschlecht Gewandtheit und weltmännisches Wesen an, die ihm später im Geschäftsleben, in der Politik und im Salon von hohem Nutzen sind.

Im Widerspruch dazu scheinen allerdings einige Angewohnheiten der Yankees zu stehen, die jeder kennen wird, der jemals den Fuß auf das Trottoir einer amerikanischen Stadt gesetzt hat; ich meine das Kauen und Spucken. Auch die Art und Weise, wie die Männer drüben beim Sitzen ihre Beine unterzubringen pflegen, kann weder ästhetisch noch manierlich genannt werden. Doch werden diese schlechten Angewohnheiten, denen vor allem der Westen frönt, auch drüben von den besseren Leuten verdammt, und in Städten von älterer Kultur, wie Washington, Albany, Boston, bemerkt man sie kaum noch.

Manche Eigentümlichkeiten und Gaben sind den Völkern so in Fleisch und Blut übergegangen, daß man sie der Menge gleichsam am Gesichte ablesen kann. Wer in Amerika die Physiognomien studiert an Orten, wo viele Menschen zusammenkommen, auf der Straße, in der Lesehalle, bei Volksversammlungen, den wird bei den echten Yankees die Energie, die aus aller Zügen leuchtet, das rüstige Vorwärtsstreben in knappen Bewegungen, die glückliche Zuversicht des Gelingens als gemeinsames Rassezeichen überraschen. Unsere Leute, besonders die auf dem Lande oder in den Industriebezirken, tragen viel eher einen verdrossenen Zug geheimer Verbitterung zur Schau, als schritten sie unter einer unsichtbaren Last einher, 67 verrichteten Sisyphusarbeit, von deren Vergeblichkeit sie innerlich überzeugt erscheinen. Die Amerikaner marschieren wie junge Soldaten kühn in die Zukunft hinein, die ihnen kraft ihres Siegenwollens gehören muß.

Verwandt mit diesem Optimismus ist eine Eigenschaft des Amerikaners, die je nach dem Fall schlecht oder gut genannt werden muß: seine Wagehalsigkeit. Sie entspringt eben jener kecken Zuversichtlichkeit, die sich ein Volk angeeignet hat, dem alles bisher geglückt ist. Sie ist auch verwandt mit dem Fatalismus, den Menschen ganz natürlich besitzen, die in einer Umgebung von riesenhaften Dimensionen, in einer Bevölkerung leben, welche jährlich um Millionen wächst; Verhältnisse, in denen sich der einzelne täglich von der Belanglosigkeit seines Lebens überzeugen kann. Die Waghalsigkeit hat aber zum Gegengewicht Geistesgegenwart. In der Selbsthilfe zeigt sich der Yankee am genialsten. Über nichts staunt man mehr, wenn man aus der Bevormundung unserer Öffentlichkeit hinüberkommt in das Land scheinbarer Schrankenlosigkeit, als über die leichte und glückliche Art, wie sich dieses Volk selbst regiert. Eine Ansammlung von Menschen, nach Hunderttausenden zählend, kein Policeman zu sehen. Wie von einem inneren Gesetz getrieben, strömt alles in leidlicher Ordnung ab. Ein Wagen umgestürzt quer über das Gleis. Sofort staut sich Car hinter Car; geduldig wartet die Menge. Einige kräftige Männer greifen zu. Niemand flucht, niemand räsonniert, niemand schnauzt das Publikum an. Nach wenigen Minuten ist alles wieder in Ordnung. – 68 Eisenbahnzüge kreuzen die belebtesten Straßen ohne Barriere, ohne Überführung, im schnellsten Tempo fahrend; kaum daß eine Tafel warnt. Man geht drüben von der Voraussetzung aus, daß jedem sein Leben lieb ist, und daß jeder, der sich auf die Straße begiebt, im Besitze seiner fünf Sinne sein sollte. Natürlich passiert viel Unglück. Der Betroffene aber, falls er mit dem Leben davonkommt, erträgt sein Geschick mit gutem Humor.

Verwandt mit der Sorglosigkeit ist der mangelnde Ordnungssinn in öffentlichen Dingen. Die meisten großen Städte bieten ein Bild der Liederlichkeit und Unsauberkeit, bei dessen Anblick dem an Ordnung und Akkuratesse deutscher Städte Gewöhnten die Augen übergehen. Trotz der guten Krankenhäuser und trotz des hohen Standes der medizinischen Wissenschaft fehlen hygienische Einrichtungen in der Öffentlichkeit fast ganz. Die städtische Beschleusung ist meist völlig mangelhaft. Infolgedessen ist die Sterblichkeit noch immer relativ groß. Erstaunlich ist auch, daß ein Volk, welches Großtaten der Ingenieurkunst, wie die Pacificbahnen, geleistet hat, seine Wege im traurigsten Zustande läßt und die Stromregulierung so arg vernachlässigt.

An mancher dieser Erscheinungen trägt die politische Korruption ein gut Teil schuld. Die öffentlichen Arbeiten, wie Beleuchtung, Wasserleitung, Kanalisation, scheinen vor allem dazu ausgeschrieben zu werden, damit die gerade am Ruder befindliche Partei ihren Anhängern und Kreaturen Verdienste zuwenden kann. In manchen Departements gehört die Unordnung zur Tradition; so im Heerwesen. Die fehlende Disziplin 69 in Heer und Flotte und die mangelnde Kriegsbereitschaft sind bekannt. Und doch ist diese Armee noch niemals wirklich überwunden worden. Im Sezessionskriege wurden anfangs Fehler über Fehler gemacht, Schlachten verloren, Generale mitten in der Aktion abberufen, und schließlich siegte die Unverwüstlichkeit des Nordens doch über den sanguinischen Süden. Charakteristisch für Amerika ist es, daß während eines Krieges, der um die Grundlagen des Staates geführt wurde und der alle besten Kräfte in Anspruch nahm, Handel und Wandel nicht nur nicht daniederlagen, sondern sich im Gegenteil hoben, und daß der Ausbau der großen Pacificbahn selbst in diesen erregten Zeiten nicht liegen blieb. Ich meine, auch das ist ein Beweis für die wunderbaren Widerstandskräfte und Heilsäfte, die diesem Organismus eigen sind.

Neben so vielen schönen Zügen stehen in der Physiognomie des Volkes von Nordamerika auch genug tiefe Schatten; aber der Gegensatz von hell und dunkel, der Wechsel von matt und grell, machen ein Bild ja erst charakteristisch, plastisch und interessant.

Der aus dem Optimismus entspringenden Sorglosigkeit ist in der Tiefe verwandt die Leichtfertigkeit des Yankee, die bis zur Gewissenlosigkeit und Frivolität geht. Geschwisterkind zum Optimismus ist die Oberflächlichkeit. Die Politik wird drüben vom laissez faire beherrscht. Korruption ist natürlich Folge des Spoil-Systems, nach welchem dem Sieger die Beute zuerkannt wird als selbstverständlicher Ersatz für Mühe und Ausgaben bei der Wahlagitation. Die Korruption, 70 allgemein anerkannt und allgemein entschuldigt als notwendiges Übel, stiftet unberechenbaren Schaden an der Volksseele. Nicht minder tiefe und unverbesserliche Schädigung fügt der angeborene Leichtsinn der Massen dem kostbarsten Erbe zu, das die Nation besitzt, der Natur des Landes.

Reiche Erben sind meist keine guten Haushalter. Die unerhörten Reichtümer, welche sich den Ansiedlern auf ihrem Zuge zum stillen Ozean allmählich auftaten, größer und kostbarer als alles, was die beutegierigen Spanier auf ihren Indienfahrten geträumt hatten, die Leichtigkeit eines Gewinns, der ihnen durch keinen ernst zu nehmenden Feind streitig gemacht wurde, mögen den Hang, alles leicht zu nehmen, schon früh dem Volke eingepflanzt haben. Jene naive Arroganz des Yankee stammt daher, die alles Gute als selbstverständlich aus der Hand Gottes annimmt; wie Kinder, die im Wohlleben geboren, Tag für Tag Kuchen und Konfekt als ihr gutes Recht fordern.

Der größte Feind Amerikas ist der Amerikaner. Wenn man das Nordamerika von heute mit dem vergleicht, welches die Passagiere der »May Flower« betraten, ist klar, daß der Kontinent in den hundert Jahren unendlich gewonnen hat durch das, was wir Zivilisation nennen. Aber hat er nicht auch unendlich viel eingebüßt an Schönheit, Poesie, Ursprünglichkeit, Naturwüchsigkeit? Der alternde Lederstrumpf in Coopers unvergleichlich schönem Buche wendet der Kolonie seiner Landsleute traurig den Rücken und geht westwärts in die Prärie, weil er die Verwüstung der Wälder, die 71 Vernichtung der Tiere und die ungerechte Behandlung der Indianer durch die zivilisierten Neuenglandbewohner nicht länger mit ansehen will. Wo sind heute die Schwärme wilder Tauben, wo die keusche Schönheit des »Glimmerglassees«, wo der Salm in den Flüssen, wo der Büffel der Prärie, wo die himmelanstrebenden Baumriesen in den endlosen Urwäldern, die das Auge jenes Alten noch gesehen? Und wo ist die Rothaut, die harmlos wie das Wild jene unberührten Flußtäler, Wälder und Grasflächen durchstreifte? Wird nicht dereinst der große Geist die Bleichgesichter vor seinen Richterstuhl fordern und sie nach dem Verbleib ihres roten Bruders fragen?

Wie geringe Achtung der Yankee vor der Natur hat, erkennt man, wenn man nur einen Blick auf die Staatenkarte wirft und sie mit der natürlichen Geographie des Kontinents vergleicht. Würde ein Volk, das Respekt besäße vor dem Gewordenen, Sinn für Geschichte und feineres Naturempfinden, es fertiggebracht haben, ein Netz von rechtwinkelig sich schneidenden, mit dem Lineal gezogenen und dem Zirkel abgemessenen Grenzlinien über Gebirge, Flüsse, Seen, Täler und Ebenen hinweg, ohne jede Rücksicht auf die Oberflächengestaltung, dem Lande gleichsam aufzuzwingen? Im merkwürdigen Gegensatz zum naturfeindlichen Verhalten des ganzen Volks steht die leidenschaftliche Naturverehrung einzelner. Beim Festlegen der Staatsgrenzen hat eben der praktische Sinn des Amerikaners und sein Hang zur Gleichmacherei einen unleugbaren Triumph gefeiert; gleichzeitig aber hat sich auch seine 72 Respektlosigkeit vor allem Organischen und seine mangelnde Keuschheit vor der Natur ein ewiges Denkmal der Monotonie, der Gemüts- und Phantasiearmut gesetzt,

Dem oberflächlich-respektlosen Menschen aber wird die Eitelkeit selten fern sein. Der Durchschnittsamerikaner hat ein Bedürfnis nach Bewunderung, das an Kinder oder Halbwilde erinnert. Wird ihm diese Bewunderung für sein Land, seinen Staat, seine Stadt nicht ohne weiteres gewährt, so provoziert er eine Aussprache. Dann ist ihm kein Lob zu dick aufgetragen, um es nicht ernsthaft zu nehmen.

Die Ruhmredigkeit und Übertreibung nimmt stetig zu, je weiter man nach dem Westen kommt. Siebenmal ist mir in den Vereinigten Staaten die längste Brücke der Welt gezeigt worden. Bei einer Brücke, mit deren Länge man beim besten Willen nicht renommieren konnte, wurde wenigstens rühmend hervorgehoben, daß sich von hier die meisten Selbstmörder herabgestürzt hätten. In einer jungen westlichen Stadt mit sehr primitiven Gesundheitseinrichtungen wies der auf den Ruhm der Heimat bedachte Führer auf den Umfang des Kirchhofs hin, der trotz der Jugend des Ortes doch schon eine stattliche Belegschaft habe. Und das Wasser eben dieser Stadt wurde darum als das beste gepriesen, weil es von sehr weit her und mit großen Kosten geröhrt sei. So verführt die Sucht zum Prahlen diese Leute zu den lustigsten Widersprüchen.

Die schlimmsten Prahlhänse sind merkwürdigerweise unter den Neueingewanderten, leider auch unter den Deutschen, zu finden. Sie wollen sich jedenfalls mit dem 73 lauten Herausstreichen der Neuen Welt über die vielleicht zu spät erkannte Tatsache hinwegtäuschen, daß das Wasser auch drüben bergab läuft. Diese Sorte geriert sich viel chauvinistischer als die Eingeborenen; und man tut dem Volke von Nordamerika am Ende unrecht, ihm eine Menschenklasse zuzurechnen, welche die Fehler der Alten Welt nicht abgelegt und die der Neuen nur zu begierig angenommen hat.

Sicher ist, daß sich die Sitten darin gegen früher gebessert haben. So widerwärtig prahlerisch, selbstsüchtig und niedrig gesinnt, wie zum Beispiel Dickens die Yankees im »Martin Chuzzlewit« schildert, findet man jetzt drüben kaum noch vereinzelte entartete Exemplare. Der Mangel an Selbstkritik ist auch vielleicht bei einem Volke entschuldbar, das, in einem Lande ganz für sich lebend, wenig Gelegenheit gehabt hat, sich mit anderen zu vergleichen und so seine Grenzen früh zu erkennen.

Daß es in einer Nation, die bei größten Erfolgen auf wirtschaftlichem und politischem Gebiete eine Geschichte von Ständen und Klassen kaum besitzt, viele Snobs gibt, kann nicht verwundern. Die Yankees blicken auf nichts mit ausgesprochenerer Verachtung herab, als auf Etikette und Zeremoniell europäischer Höfe, auf die Rangunterschiede unserer Beamtenhierarchie, auf unsere Orden und Titulaturen. Den Bundesbeamten ist es bekanntlich ausdrücklich verboten, Ordensauszeichnungen von fremden Ländern anzunehmen. Man sucht etwas darin, bei Empfängen von Gesandten, bei Schreiben an europäische Höfe, bei 74 Reisen offizieller Persönlichkeiten allen Dekor wegzulassen, möglichst bürgerlich formlos aufzutreten, von der unverkennbaren Absicht geleitet, zu beweisen, daß die Neue Welt über solch altmodischen Firlefanz erhaben sei. Die demokratischen Airs, die man sich gibt, können jedoch die Tatsache nicht verdecken, daß durch die Gesellschaft des modernen Amerika ein Zug zum Aristokratischen geht. Man stoppelt sich Stammbäume zusammen, man ist stolz darauf, wenn man Großväter aufweisen kann. Da man keine Peerstitel und Stammburgen besitzt, so liebäugelt man mit dem hohen Adel Europas; und die Fälle mehren sich, wo Dollar und Herzogstitel Ehen eingehen.

Auch in den Klassen, welche den Esquire auf dem Briefumschlag nicht verlangen, ist doch ein Bedürfnis nach Abzeichen vorhanden, die den einzelnen aus der grauen Masse hervortreten lassen sollen. Man bedeckt die Brust mit »badges« und läßt sich bei der Aufnahme in Ordensgesellschaften und Logen schmückende Namen beilegen, vor denen die Nomenklatur mittelalterlicher Zünfte und Gilden verblaßt.

Es ist im Grunde kein Widerspruch, daß der Yankee ein gewisses Bedürfnis nach Zierat und Emblemen empfindet, denn es scheint dem Menschen nun einmal angeboren zu sein, sich von seinesgleichen auch äußerlich durch bedeutsame Sinnbilder abheben zu wollen. Das Leben aber in der Neuen Welt ist im allgemeinen so nüchtern, alle Gedanken und Wünsche dort so stark vom Positiven in Anspruch genommen, daß man nicht staunen darf, wenn die Reaktion dagegen den Trieb 75 zum Phantastischen und Symbolischen an ganz merkwürdigen Stellen hervorbrechen läßt. Befremdend für uns wirkt der mittelalterliche Schmuck nur darum, weil er nicht mit der Entwicklung von Volk und Gesellschaft organisch gewachsen ist.

Alles würdevoll Bedeutsame steht dem Yankee schlecht zu Gesicht. Wenn man den ganzen Unterschied zwischen aristokratisch und demokratisch an zwei drastischen Beispielen erkennen will, muß man die Physiognomie des englischen Parlaments und seine altehrwürdige Tradition vergleichen mit den formlosen Allüren des Repräsentantenhauses zu Washington.

Drüben sind alle Einrichtungen auf Zeitersparnis zugeschnitten. Die Eisenbahnen, die Elevatoren, die geraden Straßen – alles, alles predigt, daß die Minute kostbar ist. Zum Auskosten seiner eigenen Würde und Bedeutung, zum Feierlichsein aber gehört in erster Linie Zeit. Wo sich die Feierlichkeit durch Hintertüren doch einmal ins amerikanische Leben einschleichen will, wie im Ritus mancher Denominationen, fällt sie aus der Umgebung heraus. Trotz der Chorröcke, des Niederknieens und der Umzüge habe ich beim Gottesdienst der Episkopalkirche niemals das Gefühl des Feierlichen empfunden, das einen in mancher ärmlichen deutschen Dorfkirche machtvoll ergreifen kann.

Es fehlt dem Yankee an Behäbigkeit, körperlicher wie seelischer. Er ist ungeniert und offenherzig; die Steifheit des Engländers hat er gründlich abgeschüttelt, aber es sind ihm auch jene Quellen des Gemüts 76 verschüttet, die das deutsche Leben, anspruchsloser, wie es ist, doch innerlich erquicklicher machen. Das amerikanische Tagesleben hat den großen Nachteil, monoton zu sein. Es fehlen ihm die feineren Nuancen, das, was die Maler Lüfte nennen; es scheint alles Vordergrundmalerei. Es fehlt die trauliche Sinnigkeit, die Durchdachtheit, welche gute Tradition unseren öffentlichen Handlungen und Familienfesten verleiht. Nie würde man in Amerika den Christbaum erfunden haben. Auch der Amerikaner besitzt Naturgefühl, wie seine besten Dichter beweisen, aber seine Naturliebe hat das Volk nicht abgehalten schwere Verbrechen an der Natur zu begehen. Es fehlt der jungen Rasse der Zug der Urmystik, jenes edelste, kaum definierbare Erbteil der älteren Indogermanen. Daher jener doppelte Mangel im amerikanischen Leben: äußerlich an Gemütlichkeit, innerlich an bedeutsamem Gehalt.

So kommt es, daß die modernen Amerikaner, die mehr als irgend ein anderes Volk Erfindungen ersonnen haben, das Leben zu erleichtern oder es durch Zeitersparnis scheinbar zu verlängern, doch die Kunst zu leben noch nicht zu entdecken vermochten.

Sie haben vor allem noch nicht das rechte Verhältnis gefunden zwischen Verdienen und Genießen. Über dem Hervorbringen materieller Güter, über Glücksspiel und Geschäft ist man nicht dazu gekommen, wirkliche Kultur zu entwickeln. Denn diese verlangt zum Ausreifen gerade das, was der Amerikaner sich nicht gönnt: Zeit und Konzentration. Darum ist weder ein Florenz, Genua, Venedig noch ein Nürnberg und Weimar 77 bisher jenseits des Atlantischen Ozeans entstanden. Dafür hat aber Chicago in seinen Packinghouses, haben St. Paul und Minneapolis in ihren Mühlen, Pittsburg in seinen Stahlwerken, Niagarafalls in seinem Powerhouse, New York im Stock Exchange Institute entwickelt, die ihresgleichen in der Welt nicht haben.

Das Praktische ist unleugbar die starke Seite des Amerikaners; darüber hat er bis zu einem gewissen Grade das Ideelle vernachlässigt. Die Maschine, die er zu so hoher Vollendung gebracht hat, rächt sich nunmehr an ihm, indem sie ihn mechanisiert. Er ist geneigt, in erster Linie nach Zweck und Nutzen einer Sache zu fragen. Größe und hoher Preis, den er auch jedermann gern erfahren läßt, imponieren ihm. Darüber übersieht er leicht das, was nicht gewogen oder gemessen werden kann, die innere Schönheit und Harmonie von Menschen und Dingen. Für das Transcendentale hat er noch keine Organe entwickelt, und der tiefste Sinn der Kunst ist ihm bisher unerschlossen geblieben.

Wenn man Gelegenheit gehabt hat, amerikanische Geschäftsleute an der Arbeit zu sehen, so wird einem neben ihrer Klarheit, ihrem praktischen Sinn, ihrer energischen Knappheit auch ihre rastlose Emsigkeit aufgefallen sein. Derselbe Fleiß, der sich niemals genug tun kann, beseelt die Gelehrten. An Intensität der Arbeit stehen die Schulen und Universitäten drüben den unsrigen nicht nach, und ich habe den Eindruck gewonnen, daß die College-Besucher beiderlei Geschlechts unsere akademische Jugend, was Strebsamkeit betrifft, beschämen.

78 Unwillkürlich fragt man sich, wie es kommt, daß ein Volk von solcher Intelligenz und jugendlichen Spannkraft, von so zielbewußtem Wollen, daß ein Volk und Land, welches dem einzelnen soviel Schulterfreiheit läßt und Spielraum zur Entwicklung, doch verhältnismäßig so wenige große Männer – wenn man ein paar Staatsmänner, Generale und Erfinder ausnimmt – und kein einziges weltbeherrschendes Genie hervorgebracht hat. Die Rastlosigkeit des amerikanischen Lebens kann nicht allein daran schuld sein. Denn das Genie hat bisher den Erweis gebracht, daß es sich äußeren ungünstigen Einflüssen zum Trotze zu entwickeln weiß, daß es sogar an den Hemmnissen der Umgebung seine Kraft zu erproben und zu stärken pflegt. Ich glaube nicht, daß ein wirklich genialer Mensch sich die innere Stimme wird übertäuben, die Wahrheit oder die Schönheit, welche er der Welt zu verkünden hat, wird stören lassen durch die unartikulierten Laute der Straße, das Pfeifen und Heulen der Dampfmaschinen, das nervöse Auf-und-ab der Börsen, das seichte Geschwätz der Zeitungen, durch den ganzen Trara der Moderne. Nicht der Lärm stört den Denker und Dichter, der trifft kaum seine äußeren Organe; es gibt eine ganz andere Gefahr für die Entwicklung der Schöpferkraft, nämlich die, wenn die Umgebung des Menschen von Kindheit auf so nüchtern und verstandeskalt, wenn die Atmosphäre, in der der junge Mensch die maßgebenden Eindrücke aufnimmt, so stimmungslos ist, daß Phantasie und Genialität, die keimhaft in ihm liegen mögen, entweder ganz verdorren 79 oder einseitig sich entwickeln. Das amerikanische Leben hat wohl Aufregungen, es ist intensiv und hochgespannt, aber es fehlt ihm der Feuchtigkeitsgehalt fruchtbarer Anregungen, es ist arm an allem, was zum Gemüt spricht. In so trockener Luft können wohl kluge Gedanken gefaßt, aber nicht leicht tiefe Ideen geboren werden. Für ein Land, in dem immerfort so viel Sensationelles passiert, ist die Monotonie des eigentlichen Daseins erstaunlich. Diese Monotonie treibt die Yankees in Scharen nach Europa, nach dem kleinen, altmodischen von ihnen wegen seiner Unfreiheit bemitleideten Europa. Dieses Europa hat etwas, was ihnen alles Geld drüben nicht schaffen kann: das undefinierbare Bukett ausgereifter Kultur, den romantischen Reiz des Altertümlichen und vor allem die Mannigfaltigkeit des Lebens. Welcher Überfluß von Originalität in einem Lande wie Norwegen, das halb soviel Einwohner zählt wie New York mit Nebenstädten! Welch bunte Gegensätze in dem beengten Deutschland, das wesentlich kleiner ist als der Staat Texas! Deutschland, wo jedes Ländchen seinen Separatcharakter hat, jede Provinz ihre wohlerworbenen Eigentümlichkeiten, wo jede Stadt, jedes Dorf eine Individualität ist, wo der Schwabe sich mit dem Mecklenburger kaum zu verständigen vermag, wo man mit den verschiedenen Landestrachten noch heute einen Maskenball ausstatten könnte. Deutschland, mit seinen ungezählten Verschrobenheitsecken, wo jede kleine Stadt ein »Seldvyla« ist, wo, wenn wir hundert Wilhelm Raabes besäßen, wir ebensoviel »Sperlingsgassen« besitzen könnten.

80 Verehrer von Bret Harte werden geneigt sein, in Nordamerika ein gut Stück Ursprünglichkeit und farbiger Romantik zu suchen; aber seit die »Kalifornischen Erzählungen« Aufsehen erregten, sind große Veränderungen vor sich gegangen, auch im Westen. Die Eroberung des Landes durch die weiße Rasse ist nun beendet, und mit der dichteren Besiedelung und den Eisenbahnen hat die Zivilisation überall ihren Einzug gehalten. Zivilisation aber heißt Nivellierung. Dieselbe Sprache, dieselben Zeitungen, dieselben großprahlerischen Plakate, ein und dieselbe Schuhform und ein und dasselbe Zahnwasser für alle Menschen, dieselben, das ganze Land durchwandernden minderwertigen Theatertruppen, die ein und dasselbe Stück Abend für Abend spielen, dieselben politischen Schlagworte, Gassenhauer und Anekdoten, derselbe langweilige, der Fremde entlehnte Baustil der öffentlichen Gebäude. Auf dem Lande dasselbe fix und fertig aus der Fabrik bezogene Frame House, die in der Sägemühle zurechtgeschnittene, wo möglich transportable Kirche! Kann man sich einen größeren Triumph der Technik und ein traurigeres Armutszeugnis des Heimgefühls denken?

Ich weiß es, es gibt auch trauliche, von der Unrast des amerikanischen Lebens und Treibens unberührte Stätten in der Neuen Welt. In den Neuenglandstaaten trifft man zu seinem Staunen auf manches idyllische, in hohe Ulmen, Ahorne und Linden eingehuschelte Wohnnest; ja, selbst das gemütliche Village Green Altenglands fehlt nicht. In den Villenvierteln der großen Städte, die sich oft weit an Fluß und See hin 81 in den Wald hinausziehen, Stadt mit Land glücklich verbindend, sieht man Häuser, die dem Geschmack der Erbauer alle Ehre machen. Der Kolonialstil vom Nordosten und der Missionsstil vom Südwesten sind eigenartige Bauweisen, in denen Zukunft steckt.

Aber diese Kulturerrungenschaften sprechen im besten Falle von drei Jahrhunderten. Die ältesten Ruinen in den Vereinigten Staaten sind die spanischen Klöster in Kalifornien und Neu-Mexiko und die Landsitze der Kreolen von Louisiana. Es fehlen der Landschaft die deutschen Burgen, Kirchtürme und Dome, die französischen Kathedralen, die italienischen Palazzos, die niederländischen Rathäuser, die englischen Schlösser und Abteien. Die Phantasie findet nichts, woran sie Träume anspinnen, die Nachdenklichkeit nichts, darein sie sich versenken könnte. Gewiß sind einige Naturwunder vorhanden, welche Staunen hervorrufen: die Niagarafälle, der Yellowstone Park, der Grand Canyon, manche Partien der Rocky Mountains und der Sierra. Das sind jedoch die großen Ausnahmen, die typische amerikanische Landschaft ist einförmig. Größe hat sie nur in der Ausdehnung. Es fehlt ihr am intimen Detail, das nur alte Kultur zu geben vermag. Tagelang Weizenfelder, tagelang Maisfelder, tagelang Prärie – das sind die ermüdenden Typen, die der Tourist zwischen den vereinzelten großen Sehenswürdigkeiten vom Coupéfenster aus in sich aufnimmt.

Ob die gleichmachenden Kräfte, welche in der amerikanischen Gesellschaft am Werke sind, ob der Zug zur Uniformität sich verstärken wird, ist schwer 82 zu sagen, hängt von der Entwicklung ab, die die Geschicke der Nation nehmen werden. Wer es mit der großen Demokratie jenseits des Atlantischen Ozeans gut meint, müßte ihr wünschen, daß sie noch einmal in die Lage käme, ernsthaft um ihre Existenz zu kämpfen.

Es schlummern wundervolle Kräfte in diesem Volke, die aber eines scharfen Sturmwindes bedürfen, um geweckt zu werden. Der Sonnenschein stetigen Glücks in allen auswärtigen Angelegenheiten, die unerhörte Gunst der wirtschaftlichen Lage, wirkten nicht eben günstig auf die Hervorbringung von Heroen. Der Krieg mit dem altersschwachen Spanien hat zu einem allzu leicht erkauften Siege geführt. Die Nationalhelden, die aus diesem Kriege hervorgegangen sind, haben nicht die Feuertaufe wirklicher Gefahr und Not durchgemacht. Beschränkter Chauvinismus und eitle Ruhmredigkeit, alte Untugenden der Yankees, blühen üppiger denn je. Präsident Roosevelt hat den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn er sagt, daß prahlerisches Wesen sich mit dem Stolze einer großen Nation nicht vertrage.

Während man sich früher an dem Betonen der Monroedoktrin genügen ließ, um sein Selbstbewußtsein zum Ausdruck zu bringen, ist jetzt im demokratischen Amerika der Imperalismus erwacht, die Sucht, unter dem Vorgeben, Befreier und Zivilisationsträger zu sein, andere Völker zu tyrannisieren (»kontrollieren«, wie man es milder bezeichnet) und ihre Länder sich anzugliedern.

83 Man darf über all dem chauvinistischen Geschrei der gelben Presse, über dem lauten und arroganten Wesen, das nun einmal vom Yankeetum untrennbar ist, eine Unterströmung nicht übersehen, die durch das amerikanische Volk geht, in der sich alle jene feineren Elemente zusammenfinden, die von der allgemeinen Oberflächlichkeit und Roheit, von der Korruption und dem Glücksspiel abgestoßen, nach Verinnerlichung, Veredlung und Kultur streben.

Den Weltbeherrschungsgelüsten des Imperialismus setzt diese Richtung den Hinweis entgegen auf die wahre Mission der Demokratie, Freiheit und Recht im eigenen Lande aufrechtzuerhalten, aber auch anderen Nationen nicht zu verkümmern. In der inneren Politik sind solche Bestrebungen schon älter, sie drängen auf Reform des Civil Service; andere Verbesserungspläne sehen in Bodenbesitzreform und Single Tax das Heil. Gegen die Plutokratie macht eine reformerische Volkspartei mobil. Vor den Gefahren des Raubbaus und der Waldverwüstung warnen die Stimmen ernster Volkswirte. Gegen Trunksucht und Schlemmerei ist eine kräftige Abstinenzbewegung im Gange. Die Bestrebungen für ethische Kultur haben von Amerika ihren Ausgang genommen. Dem zunehmenden Ritualismus der herrschenden kirchlichen Richtung setzen die Stillen im Lande Herzensfrömmigkeit und Einfachheit der ersten Christen als Ideal entgegen. In der Litteratur ist eine Strömung im Anschwellen gegen sensationelle Mache und Konvention, sie schließt sich an Emerson und die Concord School an, schreibt Natur, 84 Intimität, Echtheit, Persönlichkeit auf ihre Fahnen. Walt Whitman ist ihr Abgott, sie ist von Herbert Spencers Individualismus beeinflußt, und blickt nach verwandten Geistern in der Fremde, wie Tolstoi und Maeterlinck, aus.

Diese Unterströmung wird von den Intellektuellen getragen und genährt, sie kommt hie und da in der besseren Presse, auf der Kanzel und vom Katheder herab zum Ausdruck. An den Universitäten mit ihrer wachsenden Zahl gebildeter Lehrer und wacker strebender Schüler finden die edleren Bestrebungen auf geistigem Gebiete ihren besten Rückhalt.

Es finden sich in solchem Reformdrang alle jene besseren Elemente der amerikanischen Gesellschaft unbewußt zu einer idealen Gemeinschaft zusammen, die, minder oberflächlich und überhebend als das Gros ihrer Landsleute, ohne den Glauben an den Stern Amerikas verloren zu haben, doch nicht blind sind für die schwachen Seiten ihrer Kultur. Diese stille Gemeinde repräsentiert das Gewissen der neuen Welt.

Während die Durchschnittspolitiker darauf los wirtschaften, als wären die Kräfte und Güter des Landes unerschöpflich, als gäbe es niemals Zahltage in der Volkswirtschaft, ist diesen ernsteren Persönlichkeiten das Verständnis für jenes Gesetz aufgegangen, wonach die Völker ebenso wie der einzelne nur das ernten können, was sie gesät haben. Bei ihnen findet man auch ein Ahnen davon, daß die allzu leicht erworbenen Erfolge der Politik für das Volk im ganzen nur ein zweifelhaftes Glück bedeuten. Sie haben sich durch den 85 industriellen Aufschwung, durch den günstigen Stand der Finanzen, durch den »Boom« großen Stils, der über das ganze Land gegangen ist, nicht die Sinne berauschen und die Augen verblenden lassen, um die Gefahren zu übersehen, welche dem Lande drohen, und die Grenzen zu verkennen, die der Nation gesteckt sind. 86

 


 


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