Wilhelm von Polenz
Das Land der Zukunft
Wilhelm von Polenz

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Religion

Kunst und Literatur, als edelste Kulturblüten, pflegen die Völker zu entwickeln, wenn die Gesellschaft eine gewisse Festigkeit erlangt hat. Bei einem Kolonialvolke, wie das amerikanische es ursprünglich war, konnte dies erst dann der Fall sein, als das Land der Menschenkraft unterworfen und die für das Gedeihen einer großen Nation notwendigen äußern Lebensbedingungen wenigstens der Grundlage nach geschaffen waren.

Anders mit der Religion. Während die Kunst gewissermaßen Überschußprodukt ist der Zivilisation, ist Frömmigkeit ein den Völkern eingeborner elementarer Trieb, der um so gewaltiger auftritt, je größer die Abhängigkeit des Volkes von der Natur ist. Ein Trieb, der im Laufe der Zeiten sich verfeinern mag, damit aber an Schlichtheit und Ursprünglichkeit verliert.

Amerikas Anfänge waren religiös. Man kann die dreizehn Kolonien der Ostküste geradezu konfessionelle Gründungen nennen. In den Neuenglandstaaten schufen die Puritaner eine Art Theokratie, deren Spuren in den Lebensgewohnheiten ihrer Bewohner selbst heute noch nicht gänzlich verwischt sind. In Pennsylvanien ließen sich die Quäker nieder, Maryland wurde vorwiegend 329 katholisch, Virginien anglikanisch, Südkarolina war kurze Zeit Domäne der Hugenotten.

Die Bevölkerung der Ostküste, die später den Sauerteig abgeben sollte für die werdende Nation, führte in den wichtigen Jahren des nationalen Jünglingsalters ein reges religiöses Leben. Auf dem Zuge nach dem Westen aber erfuhr die Gottesfurcht keinerlei Abschwächung; im Gegenteil! Leute, die ihr Leben tagein tagaus in der Hand trugen, hielten sich, umgeben von den Schrecknissen eines unerforschten wilden Gebietes, fester an das religiöse Erbteil der Väter als jene, die in zivilisierten Ländern zurückgeblieben, sich in verhältnismäßiger Sicherheit wiegen konnten.

Auch in ihrer Frömmigkeit haben sich die Yankees aus jener kolonialen Epoche gewisse Eigentümlichkeiten gewahrt. Sie sind noch heute in ihrem religiösen Verhalten ein mehr praktisch tätiges als grüblerisches Volk. Die Neue Welt hat keine Theologenschulen entwickelt wie die alte, die Amerikaner sind keine spekulativen Dogmatiker; ihre mangelnde philosophische Ader zeigt sich auch darin. Trotzdem besitzen sie regen Sinn für religiöse Fragen. Ihr Christentum ist männlich lebensfroh, nicht duckmäuserisch, es ist das Kampfprodukt vieler Jahrhunderte.

Auch hierin sind die Amerikaner glückliche Erben der Alten Welt. Die religiösen Revolutionen haben sich auf europäischem Boden abgespielt. Amerika hat im Anfang konfessionellen Hader, niemals aber Religionskriege gehabt. Wohl wurde die amerikanische Erde sattsam gedüngt mit dem Blute des roten Mannes und 330 manches Weißen dazu, aber Märtyrerblut ist dort nicht geflossen, mit dem die deutsche und romanische Erde so überreich getränkt ward. Aber früh wurde Amerika zum Freihafen für die aus England, Frankreich, Deutschland um ihres Glaubens willen Vertriebenen.

Auf keinem Gebiete erscheint die Freiheit, die die Neue Welt dem Individuum läßt, so vollberechtigt, wie im Glaubensleben. Drüben kann der Mensch wirklich ganz nach seiner Fasson selig werden. Die Freiheit im Bekenntnis, von der Staatsverfassung ausdrücklich gewährleistet, hat jedoch die Leute nicht gottlos gemacht, sondern nur den Grund geschaffen, auf dem sich ein reges und mannigfaltiges religiöses Leben früh entfalten konnte.

In der für die Entwicklung des amerikanischen Volks so wichtigen Zeit zwischen 1770 und 1800 wurde die wichtige Trennung zwischen Staat und Kirche vollzogen. Die ursprüngliche Auffassung der Staatsgesetze, daß religiöses Bekenntnis Voraussetzung aller Bürgerrechte sei, machte damals einer freiern Auffassung Platz. Aus einer Anzahl engbrüstiger Theokratien war eine große Republik geworden, deren Grundgesetze Religion zur Privatsache machten.

Es ist nun für uns, die wir an die Gebundenheit des religiösen Bekenntnisses durch mancherlei gesellschaftliche und staatliche Fesseln gewohnt sind, von hohem Interesse, zu sehen, was aus dem Christenglauben geworden ist, in einem Lande, wo sich die Regierung der geistlichen Frage gegenüber völlig neutral verhält.

Aus dem äußern Verhalten der Menschen kann 331 man natürlich keine sichern Rückschlüsse auf die Frömmigkeit der Herzen ziehn. Jedenfalls, wenn die Zahl der Kirchen und Geistlichen, die Heilighaltung des Sonntags, der Kirchenbesuch und die Größe des Kirchenguts maßgebend wären, dann müßte man dem Volke von Nordamerika die Palme der Frömmigkeit zuerkennen. Irgend jemand hat einmal boshaft bemerkt, die Yankees patronisierten den lieben Gott in ihrem Kultus. Von der tiefen Zerknirschung des deutschen Frommen, von einer Demut vor Gott, wie sie unser Pietismus empfunden hat, ist bei den großen Denominationen jenseits des atlantischen Ozeans, bei den Presbyterianern und den Kongregationalisten kaum etwas zu spüren; am ersten vielleicht noch bei den Methodisten, denen die Bußbank anfangs nicht fremd war. Ehrfurcht ist eben keine hervorstechende Eigenschaft im Yankeecharakter. Beim Gottesdienst in mancher fashionablen Kirche von New York oder Boston hat man mehr das Gefühl, sich in netter, unterhaltender Gesellschaft als in einer Gemeinde von andächtig Frommen zu befinden.

Mitglied einer Kirche zu sein gehört immerhin zum guten Ton. Ebenso wie die Yankees sich mit andern nationalen Eigenschaften und Einrichtungen brüsten, so sind sie auch von dem Gedanken eingenommen, ein christliches Volk zu sein. Ja bescheiden, wie sie nun einmal sind, betrachten sie sich als Gottes auserwähltes Volk und Werkzeug seiner Weltregierungspläne. Sie geben Gott was Gottes ist, erwarten aber natürlich auch von ihm, daß er das Seine für sie tue. In diesem 332 praktischen Pharisäismus berühren sie sich mit den Juden ebenso, wie mit ihren englischen Vettern.

Obgleich die Trennung von Staat und Kirche heute streng durchgeführt ist, wird äußerlich doch das Dekorum des christlichen Staatswesens gewahrt. In dem Grundgesetze der Vereinigten Staaten ist der Name Gottes nicht erwähnt, dafür beginnen die Konstitutionen der meisten westlichen Staaten ihre Einleitung etwa wie folgt: »Wir, das Volk des Staates Ohio, sind Gott dem Allmächtigen dankbar für unsre Freiheit« u. s. w. Die beiden Häuser des Kongresses eröffnen täglich ihre Sitzungen mit Gebet. Kein Mann von notorisch irreligiöser Gesinnung hätte drüben Aussicht auf Anstellung; viel eher würde man einem Politiker durch die Finger sehen wegen zweifelhafter Geschäftsmanipulationen, Bestechung und dergleichen, als wegen Freigeisterei und laxer Sitten. Einzelne Staaten verlangen noch jetzt »Glauben an ein höheres Wesen und an Unsterblichkeit« zur Wählbarkeit für ein öffentliches Amt. Man hat von alter Zeit her an der Einrichtung gelegentlicher Buß- und Bettage festgehalten, außerdem ordnet der Bundespräsident jährlich im Herbst ein allgemeines Erntedankfest an. Nirgends war Sonntagsvergnügen und Feiertagsarbeit so streng verpönt, wie in Nordamerika; nur den Deutschen ist es gelungen, diese aus den Zeiten enger Gesetzesherrlichkeit der Puritaner stammenden, übertrieben strengen Gebräuche etwas zu mildern.

Befremden uns auch solche Anschauungen bei einem sonst leidlich vorurteilslosen, durchaus modern empfindenden Volke, so wäre es doch verkehrt, den 333 religiösen Konservatismus der Amerikaner auf Heuchelei zurückführen zu wollen. Sie sind ein religiös veranlagtes Volk, wenn auch ihre Frömmigkeit von der unsern stark verschieden ist. Der Yankee neigt nun einmal dazu, das zu tun, was er andre tun sieht, und zu bewundern, was anerkannt ist. Er ist Herdenmensch, trotz seiner sprichwörtlichen Freiheitsliebe; gerade sein Gleichheitstrieb, seine demokratische Gesinnung machen ihn dazu. Möglicherweise ist es also die mangelnde geistige Originalität, die ihn beim Christentum erhält. Jedenfalls bewahrt ihn seine oberflächlichere Veranlagung vor dem Skeptizismus, der so viele unsrer tiefer bohrenden Landsleute mit dem Christentume brechen läßt.

Für den ersten Augenblick mag auch die Tatsache erstaunlich erscheinen, daß der Westen in religiöser Beziehung konservativer ist als der der Kultur nach soviel ältere Osten. Der Westen mit seiner ungebundnen Lebensweise, seinem praktischen Radikalismus, der für Frauenemanzipation und andre Reformen stets am ersten zu haben war. – Aber ein Kenner des amerikanischen Lebens wie Shaler versichert uns, der Westen sei der Sitz der Orthodoxie im Gegensatz zu dem eher zu religiösen Neuerungen geneigten Osten. Schließlich ist das wohl erklärlich; die wichtigste Eigentümlichkeit des Westens ist fieberhafte Energie im Bewältigen der Außenwelt. Das Grübeln über das Wesen der Gottheit überlassen die Männer der Tat überall gern den Theologen; zur philosophischen Spekulation haben auch bei uns die Güterspekulanten meist nicht Zeit und Neigung.

334 Der Yankee hat Freude an den kirchlichen Formen, die Kirche ist populär. Die respektablen Leute halten es, genau wie in England, für notwendig, jeden Sonntag mindestens einmal in die Kirche zu gehen. Das Gewissen würde sie vielleicht nicht allzusehr beunruhigen, aber es würde ihnen ein unangenehmes Gefühl des Ungewaschenseins bereiten, blieben sie dem Gottesdienste fern. Das erste, was in einer jeden neuen Stadt erbaut wird nächst Bankhaus und Saloon, ist die Kirche.

New York hat es jetzt auf 1380 Kirchen gebracht. Man soll die Opfer nicht verachten, die das Volk für seine Erbauungsstätten bringt, sie sind in der Neuen Welt, wo alles aus dem Rohen zu schaffen ist, bedeutend, und beschämen jedenfalls die Opferfreudigkeit unsrer deutschländischen Gemeinden.

Opfer aber setzen Interesse voraus für die Sache, der man sie bringt. Das kirchliche Interesse zeigt sich am deutlichsten in der regen Teilnahme des Laienelements an der Kirchenverwaltung. Die Parochieen sind meist kleiner als bei uns – auch ein großer Vorzug für das Gemeindeleben – sie werden fast ganz vom Laienelement beherrscht, das aus sich heraus alles ersetzen muß, was in der Staatskirche die Kleriker leisten. Die nach demokratischem Prinzip sich selbst regierenden Synoden weisen natürlich erst recht ein Vorwiegen des Laientums auf.

Die Zersplitterung der Evangelischen in unzählige Sekten, beklagenswert wie sie in mancher Beziehung sein mag, gibt eigentlich auch einen Beweis dafür, daß das religiöse Interesse nicht schläft, daß es sich, wenn auch 335 vielleicht verkehrt und närrisch, doch lebhaft betätigt und daß es nach Gestaltung ringt. Jeder, der sich dazu berufen fühlt, kann eine neue Sekte gründen, falls er nur Anhänger findet. Wie Sand am Meere sind die echten und falschen Propheten, die im Laufe der Zeit Gläubige um sich gesammelt haben. In einer aus den abenteuerlichsten Elementen zusammengeflossenen, jungen Bevölkerung, wie die des Westens bis vor kurzem war, spielt der Aberglaube natürlich eine große Rolle. Die Menge fühlt zudem überall grob materialistisch, möchte das Göttliche am liebsten mit Händen greifen, und ist daher durch geschickte Macher, die ihr den Himmel auf Erden versprechen, leicht zu verführen oder auch von religiösen Schwärmern, die sich als Werkzeuge Gottes auszuweisen verstehn, zu fanatisieren.

Am bekanntesten nach dieser Richtung ist wohl für Nordamerika das große Experiment der Mormonen, das wenigstens auf wirtschaftlichem Gebiet eine bedeutende Tat hinterlassen hat: die Kolonisation von Utah. Daneben bestehn verschiedne religiöse Genossenschaften mit kommunistischer Grundlage; ferner: Harmonisten, Menoniten, mährische Brüder, Zionisten, Trappisten, Tunker und viele andre, die Gott auf besondre Weise dienen.

Im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts ging eine große religiöse Bewegung durch den ganzen mittlern Westen, die sich in den wunderlichsten Inspirationen der Gläubigen manifestierte. Aber auch heute sind campmeetings, geheime Versammlungen Erweckter, Wanderzüge von Pilgern nach einer 336 Wunderstätte nichts seltnes. Besonders auf die untern Klassen wirken jene für Amerika bezeichnenden Persönlichkeiten begeisternd, die prophetische Begabung, praktischen Sinn, Führertalent und Gewissenlosigkeit in merkwürdiger Mischung vereinigen, wie seiner Zeit Joseph Smith, der Mormonenapostel und Brigham Young, der vielbeweibte Präsident von Utah.

Schließlich gehört hierher wohl auch jener Aberglaube, der heute in den höheren Gesellschaftsklassen zahlreiche Anhänger besitzt, und der, nachdem er Nordamerika und Großbritannien verseucht hat, auch zu uns seine Ableger sendet: die Christian Science, das Gesundbeten. In Deutschland, mit seinen dominierenden Landeskirchen, bleibt ein solcher Kult auf Privatkonventikel hinter geschlossnen Türen beschränkt; in Amerika darf jeder Hokuspokus offen ausgeübt und Religion genannt werden. Christian Science hat heute, wo seit ihrer Entdeckung durch Mrs. Eddy nur wenige Jahrzehnte vergangen sind, bereits tausende von Predigern, Kirchen, Gemeinden, Versammlungsräumen, Bibliotheken über der ganzen Union verstreut.

Christian Science ist schließlich nur einer von den vielen Versuchen der heilsbedürftigen Menschheit, das Christentum Christi wieder herzustellen. Das Neue Testament mit seiner Vielseitigkeit, mit seinen einander nicht immer deckenden, oft unvollständigen und subjektiv gefärbten Angaben über Christi Leben und Lehre befördert ja die Bildung von religiösen Sondermeinungen, fordert geradezu zum Auslegen der Schrift und zu beliebigem Aneignen des als passend Erkannten heraus. 337 Jede Sekte betont irgend eine besondre Seite des Evangeliums und glaubt im Alleinbesitz der wahren Heilserkenntnis zu sein. Auch Christian Science beruft sich auf den Heiland. Mary Baker, G. Eddy schreibt selbstbewußt: »Im Jahre 1866 entdeckte ich die Christus-Wissenschaft, oder die göttlichen Gesetze des Lebens, und nannte sie: ›Christian Science‹«. Das von derselben Dame verfaßte Lehrbuch der neuen Religion: »Science and Health with Key to the Scriptures« ist von den orthodoxen Gesundbetern längst unfehlbar gesprochen worden. Man hat es hier mit mehr als bloßem Aberglauben, man hat es mit einem entwickelten Dogma zu tun. In dem »American Encyclopedic Dictionary« wird als Grundlage der Christian Science definiert: ›die Wirklichkeit und Allgegenwart Gottes und die Unwirklichkeit und Nichtigkeit der Materie, die geistige Beschaffenheit des Menschen und des Weltalls, die Allmacht des Guten und die Impotenz des Übels‹. Man sieht, diese Prinzipien sind ebensowenig blasphemisch wie neu.

Der Zusammenhang der christlichen Wissenschaft mit dem Gesundbeten ist nun folgender: Christian Science will die Wahrheit der ursprünglichen Lehre Christi wieder herstellen. In der Wahrheit erblickt sie das einzige Heilmittel gegen den Irrtum. Krankheit aber, eine Folge der Sünde, ist Irrtum. Bekämpfe Sünde und Irrtum, so bekämpfst du Krankheit und Tod!

Jeder Christ kann diese Sätze gutheißen, sie lassen sich mit Aussprüchen des Heilands belegen. Christian 338 Science aber zieht aus diesen Prämissen unhaltbare Folgerungen. Sie erklärt, daß der Geist alles sei, die Materie nichts. Das Vorhandensein unheilbarer Krankheiten wird von ihr geleugnet. Ihre Apostel behaupten, daß die Wunder, welche Christus einstmals gewirkt habe, noch heute von den Gläubigen auszuführen seien. Ja, es wird die Methode zum Wundertun angegeben. Im »Christian Science Sentinel«, einem Blatt, das neuerdings auch in deutscher Ausgabe erscheint, steht zu lesen. »Christian Science zeigt, daß Jesu Werk sich auf ein ewiges Prinzip gründet, dessen Erkenntnis ihn befähigte, den richtigen und daher allein wissenschaftlichen Weg der Krankenheilung zu offenbaren. Sie gibt überdies eine vollständige Erklärung des Prinzips und die Darlegung der unfehlbaren Regel, wonach das Prinzip demonstriert werden kann.«

Mit einem Worte, Jesus Christus wird zu einer Art Magier gemacht und gleichzeitig behauptet, daß man sich noch heute mit Hilfe der christlichen Wissenschaft seine Wunderkräfte aneignen könne. Damit zeigt diese anscheinend spiritualistische Lehre den Teufelsfuß: ihr prosaisch utilitarisches Wesen. Sie begeht den fundamentalen Irrtum, die Religion aus dem Bereiche des Gefühls in das des nüchtern rechnenden Verstandes überzuleiten. Sie behauptet geistig zu sein, und ist doch grob materialistisch. Aber gerade durch ihre sinnliche Seite gewinnt sie die Massen, die nun einmal auch auf religiösem Gebiete etwas Handgreiflichkeit haben wollen und stets dem Priester folgen, der ihnen das blaueste Wunder verspricht. In 339 den Schriften und Zeitungen der Gesundbeter werden zahlreiche sogenannte: »Heilungszeugnisse« veröffentlicht. Im Aprilheft des »Christian Science Herold« gibt unter andern ein zehnjähriges Mädchen, Mitglied der »Ersten Kirche Christi« und der »fleißigen Bienchen«, ein Zeugnis zum besten, wonach sie wiederholt »Demonstrationen« gehabt habe. Solche Demonstrationen kamen bei ihr folgendermaßen zustande: wenn das Kind eine besonders schwere Aufgabe in der Schule hatte, oder wenn es hingefallen war, sich irgendwie verletzt hatte, so behandelte sie sich selbst, versuchte sich dabei zu vergegenwärtigen, daß Gott allmächtig, und daß dem göttlichen Geiste nichts schwierig sei. Sie wußte dann jedesmal ihre Aufgabe und wurde ohne Arzt und Medizin geheilt.

Mögen sich die christlichen Scientisten noch so sehr dagegen verwahren, man wird sie nach solchen Leistungen doch nur als eine neue Auflage der Spiritisten betrachten dürfen.

Das Ende dieser in ihrem äußern Wachstum sicherlich imposanten Bewegung ist noch gar nicht abzusehn, von Stillstand oder gar Abflauen der Begeisterung scheint keine Rede zu sein. Diese Lehre ist für die Amerikaner wie geschaffen, denn sie hat neben der esoterisch transzendentalen Seite eine realistisch materialistische. Das »Wunder« ist auch drüben »des Glaubens liebstes Kind«. Die große Menge setzt der neue Glaube in Staunen durch seine Kuren, seine Wirkungen in die Ferne. Stark wird auch von der Autosuggestion Gebrauch gemacht. Einzelne Heilungen, 340 die sie zur Folge haben mag, werden auf das Konto der Gebetswirkung gesetzt. Für feinere Geister hat diese Lehre andre Lockmittel in Bereitschaft, sie betont die übersinnliche Seite des christlichen Evangeliums und erhebt das Heilen durch Gebet und mystische Einflüsse zur Wissenschaft. Jedenfalls kann man dem System feine Menschenkenntnis und seiner Anwendung Raffinement nicht gut absprechen.

Etwas ganz andres als diese in das Gebiet des Aberglaubens gehörigen, das Kriminalistische streifenden Kulte, ist jene große Bewegung, die sich in den Tiefen des Volks gegen Veräußerlichung und Ritualismus der herrschenden Denominationen geltend macht. Bereits der Methodismus, der besonders im Süden während des neunzehnten Jahrhunderts zur Kirche des Volks geworden war, bedeutete einen Protestgegen die verstandesmäßige Behandlung der Religion und gegen den Hochmut der Kirchendiener. Aber auch der Methodismus hat mit wachsender Ausbreitung und zunehmendem Reichtum das Fundament der Demut und Niedrigkeit, das die Menge mit richtigem Instinkt als echten Wesenszug des ursprünglichen Christentums sucht, verlassen. Die großen, alten, herrschenden Denominationen, die ihre eignen Universitäten kontrollieren und deren Kirchengut nach Milliarden zählt, zeigen den größten Fehler, den eine Volkskirche aufweisen kann, sie dringen nicht in die Tiefe, kommen nicht an die Massen heran.

Man sieht in den Gottesdiensten der Episkopalkirche wie der Presbyterianer kaum je eine ärmlich gekleidete Person. Wie sollten Arme sich auch in 341 Gotteshäuser wagen, wo die besten Plätze vielleicht tausend Dollar pro Jahr kosten, wo in Altarschmuck, Bildwerk, Gewändern, Musik der äußerste Pomp entwickelt wird. Diese Denominationen sind auf dem Wege, im Ritus immer mehr der englischen Hochkirche mit ihrer selbstbewußten Respektabilität und ihrem Hinneigen zum römischen Katholizismus ähnlich zu werden. Die Folge ist, genau wie in England, Entstehen von Sekten, die außerhalb der herrschenden Richtung ihr Heilsbedürfnis befriedigen. Jenseits des atlantischen Ozeans ist eine starke Lowchurch-Bewegung im Gange. Von Dissenters kann man drüben schon darum nicht gut sprechen, weil es ja eine Established Church im Sinne der englischen Staatskirche nicht gibt. Trotzdem hat der Protest gegen das offizielle Kirchentum und seine Erstarrung in Dogma und Ritus mannigfaltige Formen angenommen. So betonen die Baptisten das dem Protestantismus eingeborne demokratische Prinzip, wonach jeder Mensch den Priesterberuf in sich trägt.

Am elementarsten aber kommt der Drang zur Selbständigkeit, das heiße Verlangen nach Erlösung vom Elend der Sünde und nach Durchdringung des ganzen Lebens mit christlicher Ethik zum Ausdruck in der Salvation Army. Es haftet dieser Bewegung viel Fratzenhaftes an, und doch hat sie gerade in Amerika ihre tiefe Berechtigung. Sie füllt eine Lücke aus, die die Kirche der Reichen offen läßt, sie dringt in Tiefen hinab, vor denen sich die korrekten Priester der modischen Denominationen mit Schauder abwenden, sie bietet in 342 der Großstadt die Stätte, wo den Elenden, Verstoßenen, Verkommenen doch einmal wenigstens das Wort treffen mag, das ihn über Misere und Schmutz seiner Umgebung hinaus auf das Dasein höherer Güter und sittlicher Möglichkeiten weist.

In den Versammlungen der Salvation Army, die außer in ihren Betsälen auch oft an der ersten besten Straßenecke stattfinden, fühlen sich diese Ärmsten ganz unter sich; nicht bedrückt durch die theologische Überlegenheit des Priesters und die Pracht und Exklusivität des Gotteshauses. Hier geht ihnen das Herz auf; oft kommt an solcher Stelle das Bedürfnis der Menschenseele, andern von seinen tiefsten Regungen und Gefühlen mitzuteilen, in rührender Weise zum Ausdruck. Daneben freilich äußert sich auch die menschliche Eitelkeit in larmoyanter Selbstanklage, in sentimentalem Breittreten angeblicher Erweckung und innerer Erlebnisse, vermischt mit der heuchlerischen Routine des zünftigen Büßers, in krausem Durcheinander.

Von ganz andrer Art ist der stille unaufdringliche Protest gegen die Veräußerlichung der Religion in der kleinen Gemeinde der Unitarier. Sie ist die Kirche der Intellektuellen; Leute wie Channing und Emmerson haben ihr angehört. Charakteristisch für den Geist, der in dieser Denomination weht, ist die mir durch Ohrenzeugen verbürgte Tatsache, daß im Gottesdienst der Unitarier in New York Stellen aus Walt Whitmans Gedichten in die Responsorien aufgenommen sind, ja daß gelegentlich Gedanken dieses durch und durch pantheistischen Freigeists hier der Predigt zugrunde gelegt werden.

343 Direkte Negation des Christentums ist in Amerika selten, wenigstens wagt sie sich, wo sie existiert, nicht offen hervor. Trotzdem Staat und Behörden sich prinzipiell nicht um das Kirchenwesen kümmern, ist bei den Bürgern ein wenigstens äußres zur Schau tragen christlicher Gesinnung Erfordernis des Anstands. Den Atheisten bedroht kein mittelalterlicher Scheiterhaufen, aber die für den Modernen schwerer zu tragende Strafe gesellschaftlicher Verfehmung; er ist deklassiert.

Bei den Massen herrscht weniger nackter Unglaube oder gar Glaubenshaß, als vielmehr religiöse Gleichgültigkeit. Sie hat ihren Ursprung einmal in der Exklusivität der herrschenden kirchlichen Richtungen, von denen sich die Armen abgestoßen fühlen, vor allem aber im Fehlen jeglichen Religionsunterrichts in der Schule. Die Wohlhabenden schicken ihre Kinder in die von ihrem Gelde unterhaltnen Sonntagsschulen, die Armen unterlassen das aus begreiflichen Gründen. Und so wächst, vor allem in dem großen Städten Nordamerikas, ein modernes Heidentum heran, das den Gottessohn nur darum nicht leugnet, weil es ihn überhaupt nicht kennt.

In der Theologie gibt es unter der großen Herde der Orthodoxen auch einige freier gerichtete schwarze Schafe. Aber diese Männer haben weder auf das Volk noch auf die Wissenschaft und die Fachgenossen bisher eine tiefere, zum Nacheifern anspornende Wirkung ausgeübt. Das Laientum interessiert sich mehr für die innerkirchlichen Fragen, als für dogmatische Thesen. 344 Wohl werden gewisse, an der Oberfläche des Christentums liegende Fragen, wie Gnadenwahl, Rechtfertigung durch den Glauben, Sünde gegen den heiligen Geist u. s. w. auch unter den Nichttheologen öffentlich besprochen und erwogen, aber an die Grundtatsachen: Gottessohnschaft Christi, Dreieinigkeit, Fortleben nach dem Tode, wagt man sich nur zagend heran.

Während man die Glaubenssätze des Christentums ununtersucht läßt, betont man umsomehr seine praktische Seite. Die christliche Moralität, die sich im äußern Verhalten des Menschen sinnenfällig zeigt, wie in der Sabbathheiligung, im Wohltun, innerer und äußerer Mission, steht im Vordergrunde des öffentlichen Interesses; und nach echter Yankeeart prahlt man gern mit seinen Großtaten. Dieses Brüsten mit christlicher Gesinnung zeigt sich auch in der Presse und ihrer Stellung zu religiösen Fragen. Nicht nur gibt es eine Unmenge frommer Zeitschriften, die »religious weeklies« und »monthlies«, deren Spezialität das Religiöse in allen Färbungen ist, nein, auch die Tagespresse protegiert das Christentum. Selten unterlassen es die großen Zeitungen, in ihren Sonntagsnummern mindestens einen Artikel zu bringen, der sich eingehend mit kirchlichen Fragen beschäftigt.

In der Predigt ist transzendentale Spekulation und Vergeistigung der christlichen Lehre selten, um so häufiger ein nicht sonderlich tiefes Moralisieren und ein rationalistisch trocknes Hineinziehen des Weltlichen in das Geistliche, das unsrer Auffassung von der Würde des Gottesdienstes nicht entspricht. Dem 345 Bibeltext, wenn überhaupt einer der Predigt zu Grunde liegt, wird Gewalt angetan, die Kanzel häufig um des momentanen Effekts willen mit der Plattform des Politikers oder gar dem Überbrettel verwechselt. Einen Geistlichen, der, wie ich es in Boston gesehen habe, mit einem schweren Armstuhl über den Schultern, auf dem Podium herumtrampelt, um zu illustrieren, wie die Menschheit unter ihrer Sündenlast seufze, und eine Gemeinde, die einer solchen Aufführung ihres Hirten applaudiert, würde bei uns weder die öffentliche Meinung gut heißen noch das Kirchenregiment dulden.

Die Atmosphäre, welche drüben die sichtbare Kirche umweht, ist eben eine wesentlich andre als hier. Nirgends fällt einem das mehr auf, als wenn man kurz hintereinander eine lutherische Kirche in Amerika auf dem Lande besucht, die auch drüben den Stempel deutschen Wesens am treuesten wahrt, und dann in das prunkvolle Gotteshaus einer herrschenden Denomination, vielleicht der Presbyterianer, geht. Bei unsern Landsleuten: Schlichtheit, Innigkeit, gottesdienstliche Formen, die eine gewisse Scheu vor dem Mysterium bekunden und die intime Auseinandersetzung des einzelnen mit seinem Gott nicht erschweren. In der Yankee-Kirche der Geist Calvins im Gewande Roms einherschreitend, klarere, minder diskrete, aufdringlichere Formen; man ist unter Leuten, die sich von außen her anregen lassen müssen, durch eine interessante Rede, durch schönen Gesang, denen über die Andacht der Komfort und eine elegante Umgebung geht. Die Erbauung des Gemüts, die der 346 Deutsche vor allen Dingen im Gotteshause sucht, ist ihnen offenbar ein fremder Seelenzustand.

Für den Anglo-Amerikaner ist die Kirche nicht eine weitab vom Alltag stehende, erhabne Stelle der Gottesverehrung, nicht die vom keuschen Geheimnis umschauerte Stätte menschlicher Hinneigung und göttlicher Hingabe, nicht die Braut Christi, sondern eine soziale Institution. Die Kirche hängt drüben eng zusammen mit allerhand wissenschaftlichen, kommunalen und geselligen Einrichtungen, sie ist der Sammelpunkt aller auf Hebung des Volkswohls und der Volksmoral gerichteten Bestrebungen. Man benutzt die Räume des Gotteshauses nicht selten zu Konzerten, Theateraufführungen, Vorträgen. Die sogenannten »sociables« vereinigen Gemeindemitglieder aus allen Schichten und Gruppen in zwangloser Weise. Vom Geistlichen verlangt man, daß er gentleman ist und seine Stellung zu repräsentieren versteht. Mangel tieferer, theologischer Bildung würde man ihm noch eher verzeihen, als Ungeschliffenheit und das Fehlen weltmännischer Eigenschaften, die er als Haupt einer auf kirchlicher Grundlage aufgebauten gesellschaftlichen Gruppe notwendig braucht.

Durch die Zersplitterung der Evangelischen in unzählige Separatkirchen wirkt die Geschlossenheit der römisch katholischen Kirche um so imposanter. Sie steht da wie ein mächtiger Block im Auf- und Abwogen einer stets wechselnden Brandung dissentierender Ansichten und heterodoxer Richtungen. Rom hat auch in der Neuen Welt jene merkwürdige Gabe bewiesen, bei äußerlich größter Schmiegsamkeit innerlich 347 unverändert zu bleiben. Die römische Kirche ist drüben genau so starr, eng, zelotisch und freiheitsfeindlich wie überall anderwärts in der Welt, sie hat vom Dogma des Alleinseeligmachens auch nicht ein Jota aufgegeben, und doch verträgt sie sich mit der Demokratie ausgezeichnet, ist durch und durch amerikanisiert. Sie wächst weniger durch Proselyten als durch Zuwanderung aus den katholischen Ländern Europas. Ihre Macht auf dem Gebiete der Politik ist überschätzt worden. Die Knownothing-Bewegung, deren Spitze gegen die Ausländer und gegen Rom zugleich gerichtet war, ist längst abgeflaut; sie würde, wenn sie jetzt, statt in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, aufträte, kaum genügenden Agitationsstoff finden, um die Massen gegen den Katholizismus mobil zu machen.

Es mag sein, daß auch in Nordamerika der Beichtstuhl gelegentlich benutzt wird, um außerkirchliche Zwecke zu verfolgen, Wahlagitation zu treiben, und auf dem Umwege über die Frauen durch Priesterhand die Staatsgeschicke zu lenken. Im übrigen aber sind die Vereinigten Staaten wohl das einzige, nicht genug glücklich zu preisende Land des ganzen Erdenrunds, in dessen Geschichte von erfolgreicher Einmischung der Kirche in die Staatsangelegenheiten bisher wenig zu spüren gewesen ist.

Rom liegt eben für die Amerikaner nicht jenseits der Berge, sondern jenseits des Weltmeers. Der Ultramontanismus ist für das Angloamerikanertum weder eine politische Gefahr noch eine kulturelle. Er wird niemals in das Kapitol von Washington einziehn, 348 noch über die Schulen und Universitäten in einer das geistige Leben gefährdenden Weise Macht gewinnen.

Gerade in der Stellung der römischen Kirche in Nordamerika liegt der Beweis, daß die Väter der Konstitution weise gehandelt haben, als sie Kirche und Staat von vornherein trennten. Beide Teile haben dadurch gewonnen; der Staat hielt sich frei von priesterlicher Einmischung, die in Europa so oft zu den blutigsten Händeln geführt hat, und der Kirche wurde von Anbeginn die rechte Stellung angewiesen, nämlich außerhalb der Machtfragen, im Reich des Unsichtbaren. Man überließ ihr die Seelen, verwehrte ihr jedoch die Politik.

In der Konstitution ist folgender Satz enthalten: »Der Kongreß soll kein die Gründung einer Religionsgesellschaft betreffendes oder die freie Religionsübung hinderndes Gesetz erlassen!« Es war nur folgerichtig, daß ein Staat, der sich in so unzweideutiger Weise zur Einmischung in das Religiöse für inkompetent erklärte, andrerseits auch bei Gründung und Aufrechterhaltung irgend welchen religiösen Kults seine Unterstützung versagte. Niemals hat sich drüben die weltliche Macht zum Handlanger der Kirche hergegeben. Der Staat verhält sich der Kirche gegenüber neutral, gewährt ihr seinen Schutz nur wie jeder andern Korporation, mischt sich nicht in ihre Regierung und innere Verwaltung. Der Begriff des besondern Kirchenrechts existiert für Amerika überhaupt nicht, und für den Summus episcopus gibt es keinen Platz in der Freikirche. Der Gesetzgeber hat mit der Gewährung 349 solcher Freiheit ein feineres Verständnis für das geistige Wesen der Religion und für die im höchsten Sinne liberalen Grundideen des Christentums bewiesen, als alle Verteidiger und Lobpreiser unsers Staatskirchentums zusammen.

Gewiß hat die amerikanische Freikirche ihre Schattenseiten entwickelt, aber das Hauptbedenken, das die Anhänger einer vom Staat getragnen und geschützten Kirche gegen die ganz auf sich selbst gestellten unabhängigen Gemeinschaften geltend machen, nämlich, daß sie der Irreligiosität Tür und Tor öffneten, hat sich bei dem amerikanischen Experiment als völlig unzutreffend erwiesen. Nirgendwo hat neuerdings das Christentum seine gemeindebildende Kraft glänzender bewiesen, als in der großen Republik jenseits des atlantischen Ozeans, deren ungezählte Religionsgesellschaften nicht allein im eignen Lande ein reges Leben entwickeln, die vielmehr Opfermut und Mittel genug aufbringen, um auch unter den Heiden des ganzen Erdballs eine imposante Missionstätigkeit zu entfalten.

Die Opferfreudigkeit wird gerade dadurch den Mitgliedern der Freikirche anerzogen, daß sie die kirchlichen Subsistenzmittel ganz allein aufbringen müssen. Die Freikirche muß um ihre Existenz ringen, das tut jedem Organismus gut. Sie hat weder materiellen noch geistigen Rückhalt an der Staatsmacht; niemand berät sie in Dingen der Verwaltung, das macht sie selbständig, und lehrt sie den Zusammenhang suchen mit dem praktischen Leben. Sie muß sich selbst ihre Geistlichen heranziehen und ausbilden, und zu diesem Zwecke 350 Seminare gründen und Hochschulen unterstützen. Dadurch wird von vornherein Einheit des Bekenntnisses bei Gemeinde und Geistlichkeit gesichert; theologische Lehre und Laienüberzeugung fallen zusammen, zwischen denen bei uns so leicht ein bedenklicher Widerspruch klafft. Die Gemeinde hat es ja in der Hand, nur solche Hirten zu wählen, die an ihren eignen Schulen ausgebildet sind. Allerdings bekommt auf diese Weise die Laienschaft Kontrolle über den Lehrstuhl. Für die Freiheit theologischer Forschung ist dies gewiß kein idealer Zustand.

Und es ergibt sich daraus die merkwürdige Erscheinung, daß, während drüben die Kirche in ihren inneren Angelegenheiten völlig frei ist, an unsern Staatsuniversitäten Forschung und Lehre viel größre Freiheit genießen als dort, wo Synoden, Denominationen, ja einzelne private Gönner eine durchaus nicht immer unparteiische Oberaufsicht über den religiösen Geist des betreffenden Lehrkörpers ausüben.

Die Freikirche wirkt aber auch reinigend auf das Laienelement ihrer Herden. Weil sie Opfer fordert, stößt sie die lauen Geister ab, weil sie wenig weltliche Vorteile, keine Protektion zu bieten vermag, treibt sie die Streber von sich. Gerade die kalten Mußchristen und Mitläufer bedeuten ja für unsre Kirchen einen so herabziehenden Ballast.

Unsereiner, der von Europa her daran gewöhnt ist, daß der Staat bei allen Angelegenheiten, auch den geistigen und geistlichen, ein Wort mitzureden hat, staunt über die Gleichgültigkeit mit der drüben die 351 Regierung des Bundes wie der Einzelstaaten dem Religionsunterricht gegenübersteht. Die völlige Neutralität in einer so wichtigen Frage macht auf uns den Eindruck der Vernachlässigung wichtigster Pflichten. Und doch verfährt die Union darin nur konsequent. Ein Staat, der es sich einmal zum Grundsatz gemacht hat, Religion als reine Privatsache zu behandeln, kann nicht die religiöse Erziehung in die Hand nehmen. Er muß es den Eltern überlassen, ob und wie sie ihre Kinder dem Christentum zuführen wollen, auf die Gefahr hin, daß ein Teil des Volks ohne Religionsunterricht aufwächst. Der Erfolg dieser grundsätzlichen Nichteinmischung des Staats in die religiöse Bildung der Jugend ist nach einer Richtung hin unleugbar äußerst bedenklich. An soundsoviele junge Seelen kommt, ohne ihr Verschulden, Christi Wort überhaupt nicht heran; sie sind mitten in einer christlichen Gesellschaft als Heiden aufgewachsen.

Hier hat die Arbeit der Freikirche einzusetzen. Die Missionierung der unverschuldet ins Heidentum zurücksinkenden Massen wird für diese Kirche der Prüfstein werden ihrer Existenzberechtigung. Gelingt es ihr nicht, die allmähliche Entchristlichung des Volks von unten her aufzuhalten, so ist das freikirchliche Experiment als mißglückt zu betrachten.

Im ganzen ist die Lage jedoch nicht hoffnungslos. Außerordentlich sind die Bestrebungen der einzelnen Denominationen, überall im Lande an Boden zu gewinnen. Die innere Mission ist auf dem Plan, sie arbeitet nicht nur unter den Negern und Indianern mit 352 Erfolg, sondern auch in den Tiefen des weißen Heidentums, das seinen Sitz vor allem in den Großstädten hat. Die Sonntagsschulen werden vielfach unentgeltlich abgehalten. Für Verbreitung der Bibel werden außerordentliche Summen aufgewendet. Tatsächlich ist in Amerika die Bibel noch immer das begehrteste Buch. Die »university-extension« ist stark vom Geist christlicher Ethik durchdrungen. Und vielleicht von allen das hoffnungsvollste Anzeichen: die Jugend selbst arbeitet mit edlem Eifer auf religiösem Gebiete. Auffällig stark ist der Prozentsatz junger Leute unter den Kirchenbesuchern und bei den Missionsversammlungen. Im Kirchenchor und bei Aufführungen religiöser Art hat die Jugend beiderlei Geschlechts gewöhnlich das Übergewicht.

Geradezu großartig muß die Arbeit der Jugend in der »young mens christian Association« genannt werden, mit ihren dreizehn Häusern in der einen Stadt New York, und mit ihren zahllosen, über das ganze Land verteilten Klubs, Bibliotheken, Versammlungssälen und Herbergen. Man weiß nicht, was man an diesem großangelegten Verein mehr bewundern soll: die ganz auf eigne Kraft gestellte, praktische Organisation, oder die von jeder Duckmäuserei freie, weitherzige Gesinnung.

Hier scheint mir, tritt ein Vorzug des amerikanischen Religionsunterrichts in Erscheinung. Die Sunday School liegt in den Händen von Männern und Frauen aus dem praktischen Gemeindeleben, nicht wie bei uns in denen von Theologen. Eine Folge davon ist, das die Kinder weder mit Gedächtniskram überladen noch mit 353 dogmatischen Spitzfindigkeiten geängstigt werden, wie es leider in unsern konfessionellen Schulen häufig der Fall ist. Die Jugend erfährt nicht viel von Kirchengeschichte, Katechismus und Exegese, aber was vielmehr für sie wert ist, sie wird von religiös angeregten, unblasierten Laien ins Christentum eingeführt. Mag solchem Unterricht auch die wissenschaftliche Tiefe fehlen, er hat meist mehr Temperament, als der von Fachleuten erteilte, und wirkt darum niemals langweilig. Sicherlich ist darauf die Erscheinung zurückzuführen, daß die Jugend drüben so regen Anteil nimmt am religiösen Leben, während bei uns das Sprichwort sich nur zu oft bewahrheitet: »Im Alter kommt der Psalter!«

Der Kulturkampf, wie er bei uns getobt hat, und hier und da immer wieder aufflammen möchte, und der Kampf der Republik gegen die Kongregationen, wie ihn Frankreich sieht, sind gewiß nicht ideal; aber schlimmer fast als der Zustand des Zwistes kann jener andre Zustand sein, wenn Staat und Kirche eine allzu enge Verbindung eingehn.

Im Mittelalter konnte es oft zweifelhaft erscheinen, welcher von den beiden Gewalten, der weltlichen oder der geistlichen, der Vorrang gebühre; heutzutage ist der Kampf längst zu Gunsten des Staats entschieden. In einer so ungleichen Ehe muß der schwächere Teil, jemehr er sich von dem stärkern tragen läßt, tiefer und tiefer in Abhängigkeit geraten. Die beiden: Kirche und Staat, gleichen heute einem Paar nahe bei einander stehender Bäume, von denen der eine den andern 354 überwachsen hat; wohl schützt er den kleinern vor Wind und Wetter, aber er nimmt ihm auch die Möglichkeit, in die freie Luft der Höhen, zum Sonnenlicht emporzuwachsen.

Daß unsre Kirche oft den Eindruck macht, als vegetiere sie nur, liegt eben daran, daß sie mit schweren Ketten an weltliche Mächte gebunden ist; sie bietet auf diese Weise auch ihren Gegnern eine viel zu breite Angriffsfläche dar. Zwar schützt sie der Staat in ihrem äußern Bestande, er verteidigt ihr Gut und ihre Diener gegen Raub und Vergewaltigung, aber kann er sie gegen die viel feinern Angriffe schützen, die fortgesetzt auf ihren edelsten, unsichtbaren Kern gerichtet werden?

Wo der Staat diese Art Schutz anstrebt, wird er nur Unheil anstiften. Die Kirche, wenn sie allein stünde, würde sich ihrer Feinde wahrscheinlich viel besser erwehren können, sie würde geistige Angriffe mutig mit geistigen Waffen bekämpfen. Wie die Dinge bei uns liegen, ist sie nur zu sehr geneigt, sich in allen Nöten nach der Hilfe des mächtigen Bruders Staat umzusehn. Die Freikirche muß sich selbst ihrer Haut wehren, das vermehrt ihre Lebenskraft.

Auch wir haben ja, trotz des obligatorischen Religionsunterrichts eine, große, religionslose, christentumsfeindliche Unterschicht; sie reicht in Deutschland tiefer als in Amerika, geht bis in die Mittelklassen. Wie weit die höhern Stände bereits dem Christentum entfremdet sind, ist unmöglich zu beurteilen, aber es steht zu befürchten, daß auch da die Zahl der im Herzen 355 religionslosen größer ist, als der Kirchenbesuch es ahnen läßt.

Wir haben nur eine Partei, die ihre Abneigung gegen die Kirche offen zur Schau trägt: die Sozialdemokratie. Sie hat heute die Massen hinter sich und die Massen werden durch sie mehr und mehr dem Christentum entfremdet. Denn die Sozialdemokratie denkt leider nicht tief und ehrlich genug, um den Kern von der Schale zu unterscheiden. Eigentlich müßte sie ja der Lehre Jesu Christi von der menschlichen Gotteskindschaft tief ergeben sein; aber sie läßt sich irre machen am Christentum durch sein äußres Gehäuse. Sie haßt den modernen Staat; der aber schützt die Kirche. Die Kirche wiederum ist die Kultusstätte der christlichen Religion. Auf diese Weise kommt die radikale Sozialdemokratie dazu, eine geistige Macht zu verachten, die, wenn sie sie nur gesondert von ihrer Form nehmen wollte, einen veredelnden Einfluß auf sie ausüben könnte.

Die amerikanische Freikirche dem deutschen Volke zur Nachahmung zu empfehlen, wäre leichtfertig; dazu haftet ihrer Entwicklung noch viel zu viel Unfertigkeit an. Sie ist noch im Stadium des Experiments. Vergessen darf man niemals beim Betrachten amerikanischer Kirchenverhältnisse, daß die hauptsächlichsten Denominationen der Union ihren Ausgang von der englischen Staatskirche genommen haben, und auch der Katholizismus und das Luthertum sind in Europa am Busen des Staates groß geworden. In Amerika, wo die Konfessionen sich frei vom Gängelbande irgendwelcher 356 Regierung entwickeln durften, war der beste Platz, ihre Lebensfähigkeit zu erweisen.

Der Beweis, daß die Kirche auch in der modernen Welt einen vollberechtigten Platz neben dem Staat behaupten kann, ist damit gelungen. 357

 


 


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