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Fünfzehntes Kapitel

 

1

Abends, wenn die jungen Mädchen Arm in Arm über den Kai lustwandelten, und zwar auf der Seite, wo die Läden sind – fest entschlossen, sich doch nicht von ihren Herzenswünschen betören zu lassen, sah man Kitty nur selten in ihren Reihen. Natürlich traf sie sich manchmal mit Barney, doch war das bei ihnen nicht so wie meistens bei Liebesleuten, die am Feierabend nichts andres im Kopf haben, als sich in die Arme zu fliegen. Kitty hatte ja auch noch allerlei andres zu tun. So suchte sie es zum Beispiel Minnie Holdens Rangen abzugewöhnen, daß sie beim Einfädeln den Faden in den Mund steckten, statt den Finger an einer Fensterscheibe oder in einem Blumenglas anzufeuchten.

«Ach, das ist doch egal!» sagte Frau Holden.

«Hier vielleicht!» entgegnete Kitty. «Aber nicht, wenn sie mal in die Welt rauskommen. Da macht man sich mit solchen kleinen Böcken in der guten Gesellschaft unmöglich. Und dir kann's im übrigen wurst sein, ob ich mir die Schererei mit deinen Lausfratzen mache.»

Auch kleine Unarten mußten ihnen abgewöhnt werden. Wenn etwa ein Kind heimkommt und auf die höfliche Frage, wie es ihm in der Schule gegangen wäre, antwortet: «Ach, rutsch mir den Buckel runter!», dann muß man dafür sorgen, daß das nicht zur Gewohnheit ausartet, und dem Kinde klarmachen, daß sich höchstens die Obstfrau unten an der Ecke eine derartige Verletzung des guten Tons erlauben kann, ohne dadurch an Nettigkeit zu verlieren.

Außerdem aber nahm, seitdem Kitty nicht mehr im Cumann na mBan tätig war, etwas ganz Besondres ihre Zeit stark in Anspruch, nämlich ein leitender Posten im Verein gegen den Wucher, der in den letzten Zügen lag, weil die Leute ihre Unzufriedenheit mit den Verhältnissen nur noch durch Schimpfen und Jammern bekunden konnten. Wer unbemittelt war, vermochte sich in der Tat nichts mehr zu leisten als Tee, Brot, Kohl und Kartoffeln. Speck? Ausgeschlossen! Fleisch? Ausgeschlossen! Fisch? Ausgeschlossen! Alles ausgeschlossen bis auf den Schweinskopf am Weihnachtsabend, der ja ein unveräußerliches Recht ist. «Aber», sagte Kitty dazu, «es dauert verflucht lang von einem Weihnachten bis zum nächsten!» Deshalb hatte man vor einem Jahr unter der begeisterten Zustimmung aller Unbemittelten den genannten Verein gegründet. Unter anderm verteilte er Postkarten an die Leute, die mit den Worten begannen: «Ich protestiere dagegen, daß Sie noch immer keine Herabsetzung Ihrer Preise eintreten ließen.» Eine Zeitlang machten die Kunden fleißig Gebrauch von diesen Karten, dann wurde es ihnen zu langweilig. Sogar ein Mitglied des Stadtrates erklärte öffentlich: «Unsere Stadt ist wegen ihrer Wucherpreise berüchtigt, und in der Rennwoche wachsen die Preise über den Mount Everest hinaus.» Aber es nützte alles nichts; selbst daß man einen der schlimmsten Wucherer mit dem Spitznamen Prophet in «Herr Profit» umtaufte, blieb ohne Wirkung. Und so kam auch der Verein auf ein totes Gleis und stellte vorübergehend seine Tätigkeit ein. Da aber Kitty den Vorsitzenden fragte, was «vorübergehend» bedeuten solle, gab er die köstliche Antwort: « It may be for years, and it may be for ever.»

«Mein Gott, diese Idioten!» sagte Kitty nachher. «Daß überhaupt noch einer was für sie tun mag! Nein, auf nach London! Da kennt man sich wenigstens aus» – was, nebenbei gesagt, bei ihr durchaus nicht der Fall war.

 

2

Am gleichen Tag aber bekam sie noch einen Auftrag, der allerdings nichts abwarf, ihr aber Spaß machte. Der alte Patrick Walsh kam von Rotkreuz herunter und bat sie – nach seiner Gewohnheit manierlich mit dem Hut in der Hand –, ihm doch den großen Gefallen zu tun und einen Artikel, den er der Tribüne anbieten wollte, auf der Maschine abzuschreiben. Er setzte ihr auch seine Absicht dabei auseinander, und als sie sich freudig bereit erklärte, sagte er: «Gott segne Sie!» – ein Dank, der kaum schöner klingen kann als aus dem Mund eines alten Irländers.

Solange Patrick Walsh lebendig herumlief und seine Pfeife rauchte, konnte, wie man noch wissen wird, der alte Peadar Phelan nicht ganz tot sein und würde sein Bestes, das inwendig in ihm und hinter seinen Narrenstreichen gesteckt hatte, nämlich sein warmes Herz und sein unerschütterlicher Glaube an die Zukunft Irlands, immer von neuem hervorgeholt und abgestaubt werden, um wieder für ein paar Minuten lebendig zu sein. Aber das war nun so oft hervorgeholt worden und hatte sich darum fast zu einer kleinen Plage für die Leute da oben entwickelt, die zwar alle den alten Hünen gekannt und verehrt hatten, sich nun aber lieber mehr an die Lebenden hielten, abgesehen von den Fällen, wo sie zueinander sagten: «Weißt du noch – das hat der alte Peadar Phelan auch immer gesagt!», oder: «Gott hat den alten Peadar wirklich im richtigen Augenblick zu sich genommen, so brauchte er das alles nicht mehr zu erleben, was jetzt hier im Land vorgeht!»

Mit Patrick Walsh war das was andres. Von der Stunde an, da er die Tribüne aufgesucht hatte, um die Todesanzeige einrücken zu lassen, plagte ihn ständig der Plan zu einem Aufsatz für das Blatt, worin er seinem alten Freund ein Denkmal setzen wollte. Und nachdem er alles sorgfältig vorbereitet und Peadars Lebenslauf samt den berühmtesten seiner Aussprüche aufgezeichnet hatte, war er nun glücklich so weit, daß er sich ein Herz fassen und Kitty bitten konnte, den Aufsatz, der übrigens in einer zierlichen altväterischen Handschrift auf schönes Papier geschrieben war, auf der Maschine abzuschreiben.

«Am besten nimmt er sich doch maschinengeschrieben aus!» fand Patty.

«Ja, den Niggern gefällt das auch am besten!» sagte sie. «Obwohl man's wahrhaftig sehr gut nach der Handschrift absetzen könnte.»

«Und ich hab auch bloß auf einer Seite geschrieben», ergänzte Patty.

«Das ist ja fabelhaft! Woher wissen Sie das nur? Wo es doch soviel junge Leute mit Examen und so weiter gibt, die beide Seiten kreuz und quer vollschmieren.»

«Ja, man hört doch auch dies und das!» sagte Patty mit einem leisen Lachen, in dem sich Bescheidenheit und Stolz mischten.

«Hier, bitte! Fix und fertig. Und viel Glück damit!» sagte Kitty, als sie soweit war und gab ihm die Hand und lächelte ihm zu.

Er aber blieb auf der Schwelle noch einmal stehen und fragte zweifelnd: «Ob sie's wohl nehmen?»

«Wenn nicht, dann sagen Sie dem Redakteur einen Gruß von mir, und ich käme dann und sprengte ihn mitsamt seinem Käseblatt in die Luft. Punktum, Streusand drauf!»

Patty aber stand immer noch da, drehte unablässig den Hut zwischen den Fingern und sagte schließlich: «Was bin ich Ihnen denn schuldig?»

«Einen Kuß auf meiner Hochzeit. Aber nicht früher!»

Niemand konnte herzlicher lachen als Patty, und wenn er lachte, zogen sich die Augen blitzend in zwei zottige Höhlen zurück, und die Zähne traten gelb und blank aus dem starken roten Bart hervor. Und so machte er sich, nicht ohne eine gewisse Beklemmung, zur Erfüllung seiner Aufgabe davon.

 

3

Bei der Tribüne hatte sich seit seinem letzten Besuch nichts verändert. Das Leben floß dort noch genau so langweilig dahin wie ein Sonntag in London, und die Bauern und andre Inserenten konnten immer noch auf den Anzeigenseiten Darlehen von zehn bis tausend Pfund suchen, desgleichen wurde dasselbe patentierte Präparat gegen Haarerkrankungen der Schafe auch heute noch rastlos angeboten, und der Leiter des Blattes spielte noch immer mit Worten von der größten Tragweite so sorglos wie ein Kind mit einem Schustermesser.

Es war auch der gleiche rothaarige, bebrillte junge Mann wie damals, der Patty zu dem Herrn Redakteur hineinführte, dessen einzige Veränderung darin bestand, daß sich sein Bauch heute noch mächtiger wölbte. Wie die meisten dicken Leute, pflegte er ihn zu bekleckern, und das hinterließ Spuren auf einer Samtweste, die nach ihrer sonstigen Beschaffenheit auch nichts Besseres verdiente.

Der gute Patty war nicht übertrieben feinfühlig, aber der ungeduldige Blick, mit dem der Redakteur ihn empfing, erfüllte ihn doch mit bangen Ahnungen; und ihm wurde nicht besser zumut, als ihm nun aus dem Flachsbart hervor die Stimme des Redakteurs entgegenklang. «Unser Blatt soll etwas von Ihnen bringen? Kann ichs mal sehen? – Danke! – Wann ist er denn gestorben? – Am 17. März? – Ja, dann versteh ich nicht, warum wir jetzt was über den Mann bringen sollen?»

Patty versuchte ihm klarzumachen, daß das ein alter Gedanke von ihm war, den er lange mit sich herumgetragen, aber erst jetzt zur Ausführung gebracht hatte.

«Aber was war denn so Besondres an ihm? – Sie schreiben, er ist oft aus dem Haus gegangen und hat nach den Sternen geschaut – tja, das ist ja ganz nett, aber das tun schließlich viele andre Leute auch. Und Neujahr hat er damit gefeiert, daß er seine Schulden bezahlte, die aber nie besonders groß waren. Dem Sattler zwanzig Mark für ein Eselgeschirr, dem Schuster fünf Mark für das Besohlen eines Paars Stiefel und derlei Kleinigkeiten. – Mein guter Mann, was sollen wir denn damit?»

Wenn der Redakteur so was sagte, schien sich sein Mund in einen Vogelschnabel zu verwandeln, und zugleich trat ein eigentümlicher Glanz in seine Augen, und die Bewegungen seiner Hände wurden äußerst sparsam. Doch schien das mehr eine bloße Gewohnheit als von besonderer Bedeutung zu sein. Hierauf aber wurde er plötzlich etwas menschlicher, und Patty daher entsprechend hoffnungsvoller. Aber wiederum tat er seinen Mund auf und sagte: «Soviel ich verstehe, war er eine Art Philosoph. – Verschüttete Milch! – nicht so übel! Bloß: in einem Land, wo mehr Blut vergossen als Milch verschüttet wird, ist das nicht recht aktuell. Und daß man seine Saatkartoffeln nicht fressen soll – das klingt ja ganz originell. – Jetzt passen Sie mal auf, Patrick Walsh! Ich versteh sehr gut, daß Ihnen viel daran liegt, einen schönen Nachruf für Ihren alten Freund in die Zeitung zu kriegen … Also, nehmen wir die Sache an! Allerdings unter der Bedingung, daß sich der Einsender so kurz wie möglich faßt und Namen und Adresse mit angibt. Wir müssen bei Aufsätzen persönlichen Charakters darauf bestehen, daß die Verfasser sie namentlich unterzeichnen. Im Gegensatz zu Artikeln, die allgemeine Dinge behandeln. Ich denke, daß Sie mich verstanden haben, und darf Sie daher wohl bitten, Ihren Namen darunterzusetzen.»

Diese Aufforderung kam Patty sehr überraschend, denn er hatte sich die Einleitung seines Aufsatzes so vorgestellt: «Von hochgeschätzter Seite sind uns nachfolgende Zeilen zugegangen.» Genau so wie es einen Monat zuvor bei einem Aufruf geheißen hatte, der die Errichtung eines Denksteins für einen kürzlich verstorbenen Großkaufmann anregte und Beiträge dafür erbat. Obwohl die Leser ja im allgemeinen wissen, daß jene «hochgeschätzte Seite» niemand andres als das uns bereits bekannte junge rothaarige und bebrillte Menschenwesen ist, macht das doch immerhin einen gewissen Eindruck. Ganz unwillkürlich denkt man: Sollte das vielleicht der Bischof oder der Bürgermeister sein? Denn daß es der Lord Soundso wäre, ist doch wohl nicht gut möglich? So hatte sich das der alte Patty ganz pfiffig ausgedacht, aber der Herr Redakteur täuschte eine leichte Erkältung vor, putzte sich die Nase mit einem unverschämt weißen Taschentuch und sagte: «Auf jeden Fall müssen Sie Ihren Namen druntersetzen, und was die Länge betrifft, so werden wir das Unwesentlichere streichen.»

Hintennach sah Patty ja ein, daß alle seine Vorbereitungen sinnlos gewesen waren. Daß er einen Kragen angezogen und seinen Sonntagsrock hatte ausbürsten lassen, nur um zu diesem Redakteurchen hinaufzugehen! Im Augenblick selbst aber war er ein Opfer der blödsinnigen Ehrerbietung gewesen, die selbst größere Männer befallen kann, wenn sie auf eine Redaktion kommen. Als ob so ein Schriftleiter etwas Besseres wäre als irgend wer andres, und besonders als der alte Patty Walsh, der sein Brot allezeit in Ehren verdient hatte von dem Tag an, da er den ersten Brief in den Kasten hatte stecken können. Auch hatte er sich mit dem Manuskript redlich geplagt und es von Kitty abschreiben lassen und war im ganzen genommen keiner von den Trotteln, die das Papier auf beiden Seiten vollschmieren. Hintennach sah er freilich ein, daß die ganze Geschichte sinnlos gewesen war. In Onkel Toms Hütte aber gab man ihm recht, man gab ihm drei geschlagene Stunden lang recht. Und dann bestieg er seinen Eselskarren und mußte es erleben, daß ihn ein Schutzmann aufschrieb, und zwar weil seine Anschrift nicht deutlich genug auf dem Wagen stünde, was ihm denn bei der nächsten Gerichtssitzung eine Strafe von einem Schilling nebst den Kosten eintrug.

So ließ es sich ihm nicht verdenken, daß er widerstandslos in die von Bitterkeit geschwängerte Atmosphäre Maggie Phelans hineinglitt, als er nach der Heimkehr bei ihr in der Küche saß und Tee trank.

«Alt sein ist nichts Gutes!» sagte Maggie. «Solange man da ist, ist man im Weg.»

«Und wenn man weg ist, ist man vergessen!» stimmte Patty ein.

Und so saßen sie wie schon oft zuvor und wärmten sich an dem Feuer, das trotz der Sonnenwärme brannte, und obwohl Patty so verbittert war, wußte er nur zu gut, was in Maggie vorging. Trotzdem sagte er, obgleich er vielleicht besser geschwiegen hätte: «Wann soll denn die Hochzeit sein? So wie die Sache jetzt ist, kann das doch nicht mehr lange gehen. Worauf warten sie noch? Mit dem Schießeisen hat er Schluß gemacht …»

«Andre aber noch lang nicht!»

«Ich glaub, du machst da zuviel draus. Die haben doch Wichtigeres zu tun, als einem alten Freund aufzulauern», entgegnete Patty und ging damit um die Sache herum, wie ein kluges Pferd um einen Stein.

«Wenn es zwischen Freunden zum Krachen kommt, ist der Haß immer größer als zwischen Feinden. Das solltest du in deinem Alter schon wissen, Pat!»

«Kann sein, du hast recht. Nicht leicht, die Menschen heutzutage noch zu verstehn. Keine Ehrfurcht mehr, weder vor den Toten noch vor den Lebendigen. Hat nicht mal annehmen wollen, was ich über Peadar Phelan geschrieben hab! Eine selbstsüchtige Zeit, und es wird immer noch schlimmer und schlimmer …»

«Und jetzt wirst du auch gestraft wegen deines Karrens. Das war wirklich ein Pechtag für dich!»

«Jetzt bin ich mit dem Karren, wie er heute noch ist, gefahren, solange ich zurückdenken kann; und grad an so einem Tag, wo mir alles daneben geht … Da steckt was dahinter!»

«Du hättest gestern den Baum draußen auf dem Hof nicht umhauen sollen!»

«Das ist jetzt schon so, wie's ist. Und verschütteter Milch soll man nicht nachflennen!»

Fünfzig Schritte vom Haus hatte im Garten eine mächtige Eiche gestanden. Eine Überlieferung wollte wissen, daß Cromwell auf seinem Durchmarsch an einem ihrer untersten Zweige einen hervorragenden Katholiken hätte aufknüpfen lassen. So war dem Baum als einer ehrwürdigen Erinnerung an einen dunkeln Märtyrertod dauernd eine besondere Verehrung gezollt worden.

«Der mußte weg!» sagte Patty. «Sonst wär er von selber zusammengebrochen.»

Im Sausen des Windes hatte aus der Krone dieser alten, nun gestürzten Eiche das Lied von dem Manne getönt, den man in ihren untersten Zweigen gehängt hatte und der dort hängengeblieben war, bis der Rumpf sich vom Kopfe trennte. Eine sonderbare Stimmung wehte durch das Haus, und als Maggie aufstand, um zwei Kerzen anzuzünden, von denen die eine in einem Flaschenhals und die andre in einer ausgehöhlten Gurke stak, sah sie den alten Esel unter der Tür stehen und die für ihn bereitgestellten Teller abschlecken.

 

4

Pattys erste Morgenarbeit war es unbedingt, seine Stiefel zu putzen. Doch waren das keine Stiefel von der Art, wie sie sich junge Leute sehnsüchtig erträumen, die noch keine besitzen. Oft bemächtigt sich dieser Traum ihrer Seelen so, daß sie vor allem dadurch zu ganz verbissenen und ausgepichten Soldaten werden. Denn Irlands Jugend litt an einem hochentwickelten Stiefelkomplex. Nein, Pattys Stiefel waren niedrig und dickbesohlt und strahlten in einem fast unerträglichen Glanz, ganz im Gegensatz zu seinen zerlumpten Hosen und seinem Wams, das in Fetzen um ihn herumhing, wie man das so oft in Irland findet. Und ein Fremder ist dann völlig baff, wenn der Träger solcher Gewänder den Mund auftut und so fein und zurückhaltend spricht wie ein alter Lord, es sei denn, daß er sich durch Reden in Versen von einem solchen unterscheidet. Patty putzte also seine Stiefel und band sich dicht unterm Knie eine Schnur um jedes Hosenbein. Und dabei wußte er die ganze Zeit, daß irgend etwas da war, worüber er eigentlich verstimmt zu sein hatte. Das widersprach völlig seiner sonstigen Art, der er treugeblieben war, seit er sich zum erstenmal seine täglichen paar Glas Bier hatte verdienen können. Und als ihm nun der Grund dafür einfiel, wurde er wirklich verstimmt und interessierte sich nur sehr wenig für den Bericht eines seiner Nachbarn darüber, daß die Meergrünen in der Stadt einen Speiseeishändler überfallen und seine Ware auf die Straße geworfen hätten, was der Auftakt zu einer stundenlangen Schießerei gewesen wäre. Was Patty schmerzte, war die Ablehnung des Redakteurs, und als er jetzt seinen vergilbten Strohhut vom Haken nahm, überlegte er, ob er sich nicht demütigen und noch einmal hingehen und seinen Namen unter den Gedenkartikel setzen sollte. Aber nein! Ein besserer Mann als Patty sollte aufstehen und den alten Knochen da oben auf dem Friedhof Ehre erweisen.

Ein besserer Mann als Patty!

Mit diesem Gedanken war er bis zu dem Wäldchen am Dorfrand gekommen, in dem die Holztauben gurrten, als sich daraus ein neuer Gedanke entwickelte. Ein besserer Mann als Patty Walsh? Es mußte ja einer zu finden sein! Aber wo? Statt nun, wie er vorgehabt hatte, zu einer entfernt liegenden Hürde zu gehen, um sich von dem Wohlbefinden der Gastwirtskühe zu überzeugen, kehrte er plötzlich um und ging auf dem kürzesten Weg zum Wirtshaus, Jack Murphys Wirtshaus am Kreuzweg nördlich von Rotkreuz. Dort erbat er sich die Rumflasche, um seinen Tabak anzufeuchten. Dann überließ er sich, die Pfeife im Mund, für eine Weile seinen Gedanken, und die Folge davon war, daß er zwanzig Minuten später wieder in seiner Stube stand, die Schnüre unter den Knien losband, seine Lumpen auszog, sich gründlich wusch, seinen Sonntagsstaat anlegte, den kleinen grauen Esel vor den Karren spannte und sich nach der Stadt aufmachte, um womöglich den Holländer zu überreden, seinen Namen unter den Nachruf zu setzen. Es dauerte allerdings geraume Zeit, bis sie hinkamen, denn die Esel schätzen allzu steile Wege nicht. Aber hin kamen sie doch.

Die Aufnahme, die er beim Holländer fand, war ungemein freundlich. Die kleine Frau ging im Zimmer herum, rauchte Zigarren und fragte Patty, ob sie ihm nicht eine Omelette machen solle. Aber das wollte er nicht. Und der Holländer fragte ihn, wie es denn oben in Rotkreuz stünde, worauf Patty nur erwidern konnte, was er auch im Schlaf erwidert hätte, nämlich: «Na, es geht ja noch immer!»

«So? Ihr habt wohl genau wie wir einen Staubsauger auf Abzahlung? Und das ist ja hierzulande der Höhepunkt von Wohlstand. Man darf auch nichts Unbilliges verlangen.»

Auch war er bereit, seinen Namen drunterzuschreiben. «Wenn's nur kein Wechsel ist!» sagte er. «Im übrigen seh ich mir die Dinger immer sorgfältig an, so braucht man sich nur selbst an der Nase zu fassen, wenn etwas schief geht.»

Und er war voll Bewunderung für den Aufsatz, für dessen Verfasser und für Peadar. «Ja, Peadar war ein prächtiger alter Mann! Ich kann mich gut an ihn erinnern. Barneys Großvater. Ihn kriegen wir schon in die Zeitung. Kommen Sie mit!»

Nichts hätte sich Patty inniger gewünscht, als daß doch der Holländer der Redakteur wäre; und als sie dann im Redaktionszimmer standen, wünschte er sich das noch sehnlicher, denn der Redakteur war noch schlechter aufgelegt als tags zuvor. Im Augenblick gehörte sein ganzes Interesse einem Inserat, das Russenstiefel anpries, einem Jahresinserat, dessen Aufgeber versicherte: «Wir stellen alles selbst her, was wir verkaufen, und wir verkaufen alles, was wir herstellen!» Für eine solche Einsendung interessierte sich der Herr Redakteur, obwohl er in Anbetracht des großen Auftrages einen ziemlich hohen Rabatt einräumen mußte. Was aber Pattys Nachruf betraf, so prallte hier sogar die Mundfertigkeit des Holländers wirkungslos ab.

«Nein», sagte der Redakteur. «Die Sache haben wir gestern erledigt, und Sie werden wohl nicht im Ernst glauben, daß ich mich jeden Tag stundenlang mit solchen Bagatellen abgeben kann.»

«Das sind keine Bagatellen!» entgegnete der Holländer zur großen Freude Pattys, denn dies entsprach genau seinen Gedanken, für die er nur keine Worte finden konnte.

Auf den Redakteur aber machte das keinen Eindruck, und er meinte sarkastisch: «Augenscheinlich wissen Sie über die Sachen besser Bescheid als ich!»

«Ja, mitunter wissen die Leute draußen besser Bescheid als die, die mitten in den Sachen drinstecken und keine Gelegenheit haben, den Dingen den Puls zu fühlen. Sie könnten bestimmt manchen guten Wink bekommen, wenn …»

«Wenn was? … Ich gebe Ihnen einen Rat: gründen Sie selber eine Zeitung und drucken Sie den Aufsatz drin ab!» unterbrach ihn der Redakteur und lachte herzlich über seinen guten Einfall.

Der Holländer fragte: «Ist das Ihr letztes Wort?»

«Jawohl!»

«Sie weigern sich also, einem verstorbenen Ehrenmann eine Ehre zu erweisen und einem noch lebenden alten Ehrenmann eine Freude zu bereiten?»

«Wenn Sie es denn so wünschen – jawohl!»

«Und Sie sind sich bewußt, daß der alte Peadar Phelan Tausende von Freunden hier im Bezirk und den benachbarten Ämtern hat?»

«Jawohl!!» bemerkte der Redakteur, machte sich wieder über seine Inserate her und sah sich plötzlich zu seiner Überraschung darin von Patty gestört, der sich ein Herz faßte und sagte: «Ich soll Sie von Kitty grüßen und Ihnen ausrichten …»

Der Redakteur drehte sich auf seinem Stuhl ganz herum und fragte: «Von wem? Was für ne Kitty? Kenn keine Kitty! Und was sollen Sie mir ausrichten?»

«Wenn Sie es nicht annehmen, kommt sie selber und sprengt Sie mitsamt ihrem Käseblatt in die Luft!»

Der Holländer schüttelte den Kopf und lachte, der Redakteur aber tat das nicht, sondern entgegnete: «Selbst als schlechten Witz soll man keine solchen Drohungen aussprechen. Ein Anruf, und Sie sitzen hübsch im … Und so was in Ihrem Alter! Daß Sie sich nicht schämen! Ich hoffe, daß Sie wenigstens betrunken sind!» Und zu dem rothaarigen Brillenträger sagte er: «Thompson, wollen Sie die Herren hinausführen!»

Drunten auf der Straße mußte sich der Holländer an die Hauswand lehnen, um vor Lachen nicht umzufallen, während Patty so bekümmert und zornig war, daß ihm fast die Tränen in den Augen standen.

«Er hat es doch nicht genommen!» murmelte er.

«Wir bringen es schon unter!» tröstete ihn der Holländer. «Ich kenn den Redakteur einer katholischen Jugendzeitschrift. Der nimmt das sehr gern, und es eignet sich dafür auch viel besser als für dieses – Käseblatt da oben!» Er mußte wieder lachen und fragte dann gleichsam gewohnheitsmäßig: «Und wie wär's jetzt mit einem Glas Bier?»

Und Patty erwiderte genau so gewohnheitsmäßig: «Ja, Sie müssen eins mit mir trinken.»

 

5

So traurig-heiter begann ein Tag, der mit einer schweren Tragödie enden sollte. Als Patty auf seiner späten Heimfahrt, wie von einem Instinkt getrieben, überlegte, ob er nicht bei Maggie hineinschauen sollte, ob sie noch wach sei, riß es ihn plötzlich aus seinem Halbschlaf, weil der Esel mitten auf dem Weg stehenblieb. Er stieg taumelnd vom Karren und sah zu seinem Entsetzen Barney tot – mitten durchs Herz geschossen – neben seinem Fahrrad liegen. Das machte ihn nicht nur im Augenblick nüchtern, sondern zwang ihn, Halt an seinem Karren zu suchen. Er mußte sich ein paar Minuten lang an ihn lehnen, bevor er mit zitternden Knien ins Haus gehen konnte, wo er Maggie und Bombay in einer leise geführten Unterhaltung antraf. Sie fuhren erschrocken auf, und Maggie mußte ein Glas Whisky eingeflößt werden, weil sie sonst umgefallen wäre.

«Ja, habt ihr denn keinen Schuß gehört – grad da vor der Tür?» fragte Patty und sah leichenblaß aus.

«Ja, wir haben schon einen Schuß gehört … das heißt … das heißt: Bombay war noch nicht da … Aber du weißt ja, daß wir nicht an die Tür laufen, wenn's schießt … im Gegenteil … Mein Gott, ist das furchtbar … ist das furchtbar! Der arme Junge!»


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