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Neuntes Kapitel

 

1

O Politik mit deinem Anfangsstadium voller Martyrien und Verrätereien, voller Opfer und Ränke! Und mit dem nächsten, wo die Bewegung gefährlich wird! Bis schließlich der Tag kommt, wo ein Kind mit seinen kleinen Fingern die Schaukel in Schwung setzen kann …!

Laßt uns unser Gesicht vor dem Furchtbaren verhüllen, das geschieht, wenn sie zur Macht kommen, wenn immer neue Scharen ihnen zuströmen, Renegaten, die sich in Sicherheit bringen wollen, während die wenigen, die an die Sache glaubten, als dieser Glaube noch Konterbande war, sich an der Schiffswand hinuntergleiten lassen und in die Tiefe verschwinden.

Eine Idee im Kampf ist immer schön, mag sie auch grausam, mag sie Stückwerk oder verworren sein, so wie es immer etwas Schönes um einen Menschen im Arbeitskleid ist. Kommt ein schwarz berußter Schmied mit Schurzfell und mit über die behaarten Arme aufgekrempelten Hemdärmeln zu uns und sagt: «Geh, leih mir zehn Schillinge!», so flößt er uns von vornherein Vertrauen ein. Wir glauben an den Arbeiter bei seiner Arbeit. Kommt er uns aber im Sonntagsstaat entgegen – in dem für ihn viel zu feinen Zeug, auf dem Wege zu einem Kongreß oder Fest, so empfindet man das nicht anders, wie wenn man einer schönen Statue ein Kleid anzöge, und man verliert das Vertrauen zu ihm genau so, wie man einen Menschen bis zu den Zehen hinunter argwöhnisch beschnuppert, den man bisher nur nackt gesehen hatte.

 

2

Um die irische Politik stand es so, daß Kittys Frage, ob Barney mit den Meergrünen oder der vom Volk gewählten Regierung ginge, in diesen Tagen jedem Irländer gestellt wurde, und daß alle, die aktiv am Kampf gegen England teilgenommen hatten, nicht umhin konnten, dazu Stellung zu nehmen, auch praktisch.

Barney und der Holländer gingen zusammen auf dem Weg am Fluß landeinwärts, und der Holländer griff die Frage mit jener ein wenig spöttischen Leidenschaftslosigkeit auf, mit der ein Fremder die Verhältnisse eines andern unter die Lupe nehmen kann. «Weiß überhaupt einer im ganzen genommen hierzulande, was eine Republik in praxi bedeutet?» fragte er.

«Selbstverständlich!» entgegnete Barney: «Daß wir das volle Verfügungsrecht über unsere eignen Angelegenheiten ohne jede fremde Einmischung haben. Daß wir unsern eignen Handel, unser eignes Militär, unser eignes Staatsoberhaupt und unsere eigne Vertretung im Ausland bekommen.»

Der Holländer sog an seiner Pfeife, machte ein paar langsame und kräftige Züge und sagte mit einer beinah hörbaren Geduld: «So ziemlich das alles haben euch ja Collins, Griffith und die andern verschafft! Fehlen nur noch eine königlich englische Gesandtschaft, die Vereidigung und ein paar Landabgaben. Das aber werden die beiden Staatsmänner auch noch zuwege bringen, wenn ihr ihnen Zeit laßt.»

«Aber warum den Schritt nicht zu Ende tun?» fragte Barney, der sich immer besonders stark als Republikaner fühlte, wenn Fremde sich auf den Standpunkt stellten, der seiner eignen Art entsprach.

«Weil ihr nicht die Macht dazu habt! Wenn ihr morgen die Republik verlangt, kann England euch binnen vierzehn Tagen jede Nahrungsmitteleinfuhr von dort herüber sperren. Es kann weiter alle arbeitslosen Irländer heimschicken, die es drüben gibt, ferner Hunderttausende von irischen Dockarbeitern in Liverpool, von Bergleuten in Wales und von sonstigen irischen Arbeitern. Es kann es auch ablehnen, künftighin irische Ärzte, Juristen und sonstige Akademiker anzustellen, was bedeuten würde, daß ihr umgehend zwei Universitäten schließen dürft. Zu England würdet ihr dann genau in dem gleichen Verhältnis stehen wie Schweden oder Holland oder sonst irgendein beliebiges Land. Euer Wunsch, Fremde zu werden, würde sich sofort erfüllen. Im Lauf von sechs Monaten aber wäret ihr genötigt, wieder zu England zu kommen mit dem Hut in der Hand! – So dürfte die Geschichte eurer Republik aussehen.»

«Du weißt ja besser Bescheid als de Valera und Brugha und Mary Mac Swiney!»

«Ye-e-s!» sagte der Holländer in breitem Schottisch. «Vor allem besser als das Kanonenweib Mary! Hör zu: sie und die andern wußten genau, daß Collins und Griffith, als de Valera sie zu Verhandlungen nach London schickte, nicht dorthin gingen, um die Republik zu verlangen. Sie wissen genau, daß die beiden Unterhändler und ihr Stab erreicht haben, was überhaupt zu erreichen war, ja, eher mehr. Sei überzeugt, daß Collins – der Mann, der während des ganzen Krieges gegen England Irlands Kopf war – sich nur mit dem Besten zufrieden gegeben hat. Aber sei auch überzeugt, daß er sich nicht hat mit einem Ultimatum nach London schicken lassen!»

«Aber um Himmels willen, was soll denn aus dem Ganzen werden?»

«Vorläufig haben die beiden Sendboten dafür, daß sie alles für ihr Vaterland opferten, das Messer in den Rücken bekommen. Auch euer Bürgerkrieg ist schon hübsch im Gang, und die Meergrünen haben einen ziemlichen Vorsprung damit gewonnen, daß sie sich die Kasse gesichert haben. Collins und Griffith werden bald vom Schauplatz verschwinden – sie stehen manchem zu sehr im Wege. Und was daraus werden soll? Nun, Irland hatte ein sicheres Guthaben auf der Sympathiebank der Welt, denn gottlob ist die Welt im allgemeinen so anständig, daß sie zu dem hält, der ‹unterm Schlitten› ist, wie der Engländer sagt. Nun aber werdet ihr euer Konto überziehen; und macht ihr so weiter, dann endet das mit Schecks ohne Deckung.»

 

3

In einem einen halben Kilometer flußaufwärts gelegenen Dorf trennten sie sich, weil der Holländer seine Frau aufsuchen wollte, eine reizende kleine Französin, die ihre meiste Zeit mit dem Malen von irischen Landschaften und Zigarrenrauchen verbrachte, wenn sie nicht grade eine Pfeife vorzog.

Barney aber ging seines Weges weiter, bis er an eine Brücke kam, die er neun Monate zuvor mit in die Luft hatte sprengen helfen, und von der noch so viel übriggeblieben war, daß er mit äußerster Vorsicht ans andre Ufer hinüberturnen konnte, auf dem er dann den Rückweg in die Stadt antrat.

Barneys Fehler lag nicht in jener Unzulänglichkeit begründet, die man mitunter die moderne Wurzellosigkeit nennt. Ein ziemlich ungeschickter Ausdruck, der wohl andeuten soll, daß die jungen Leute mit etwas liebäugeln – einer mit dem Kommunismus, ein anderer mit dem Christentum und wieder einer mit etwas Drittem, ohne daß das jemals zu einer ernsten Liebe führte, von etwas so Bindendem wie einer Ehe gar nicht zu reden. Er war keine von jenen Sacharinseelen, die ihrer kleinen Zweifel dadurch Herr werden, daß sie sich selber beruhigend auf die Schulter klopfen oder ihren Trost in dem Ausspruch finden, daß jeden sein «Glaube selig machen muß». Was nichts andres bedeuten soll, als daß nur Dummköpfe sich im allgemeinen der Mühe unterziehen, sich etwas so Beschwerliches wie eine Überzeugung oder eine politische Anschauung anzuschaffen. Andrerseits lief er auch nicht in dem klirrenden und unbequemen Panzer herum, zu dem die Frauen in der Gemeindeversammlung bewundernd aufblicken und dazu murmeln: «Ein solcher Glaube ward in Israel noch nicht gefunden!» Barneys Fehler war seine ungeheure Vernünftigkeit. Schlagworte, die verheerend über das Land dahinbrausten, ließen ihn so lange kalt, bis er sie von allen Seiten besehen hatte, wie man ein Pferd anschaut, bevor man es kauft. Bei ihm mußte so ein Schlagwort traben, sich befühlen lassen und wieder traben; und wenn er es als brauchbar anerkannte und der Leihkauf getrunken werden sollte, sah ihn der Verkäufer erstaunt an, weil das Schlagwort inzwischen zu einem Nichts zusammengeschrumpft war.

Wenn er aber wirklich einmal so ein Tier in seinen Stall geführt hatte, trennte er sich nicht so leicht wieder von ihm. Die gleiche Treue bewahrte er einer Weisheit, die ihn der alte Peadar Phelan gelehrt hatte: Du sollst der Milch, die nun einmal verschüttet ist, nicht nachflennen. Und die andere Lebensregel: Du sollst deine Saatkartoffeln nicht fressen. Letztere Regel hat einen besonders düsteren Klang in diesem Lande, wo eine Kartoffelmißernte noch zu der Zeit, als Peadar schon ein gereifter Mann war, Millionen das Leben kosten konnte. Für Barney aber war das nicht nur so «eine gute Regel», sondern ein Naturgesetz, dem nicht zu widersprechen war. Und eben dieses Naturgesetz zu verletzen schickten sich die Meergrünen an, genau so wie große Teile der Welt und viele Staaten es schon verletzt haben.

Ein Bauer, der auf dem Weg zur Stadt war, stieg vom Rad, um ein Stück mit Barney zu gehen. Sie gaben sich die Hand, und der Bauer sagte: «Jetzt kriegen wir wohl bald Frieden! Die letzten paar Jahre seid ihr ziemlich hart mit uns umgegangen!»

«Frieden?» entgegnete Barney. «Das glaub ich nicht. Warum solltet ihr Frieden kriegen? Übrigens weiß ich nichts davon, daß ihr es schlechter gehabt hättet als wir. Ihr habt uns Essen, Nachtquartier und noch ein paar Kleinigkeiten gegeben. Aber das wird euch schon wieder vergütet, wenn wir erst mal Ruhe haben.»

«Und unser Vieh ist uns geschlachtet, unsere Höfe sind niedergebrannt und unsere Frauen und Kinder zu Tode erschreckt worden!»

Barney zuckte mürrisch die Achseln.

«Und jetzt zahlen wir doppelte Steuern, sogar dreifache zum Teil. Die Meergrünen, oder wer sich dafür ausgibt, verlangen sogar Hundesteuer.»

«Das wär doch des Teufels!» sagte Barney und lachte.

Der Bauer lachte auch und fuhr weiter.

Die Behörden dürften eine ziemlich verwickelte Arbeit bekommen, dachte Barney, wenn sie erst einmal darangehen, all diese Dinge zu schlichten. Nichts ist unmöglich auf diesem Gebiet, vom Mord angefangen bis zu den unsympathischen Trotteln, die zur Polizei laufen, wenn sie im Spiel verloren haben. Solange sie gewinnen, kommen sie selten! Barneys Gedankengang ebbte ab, und seine Augen schweiften über die Landschaft: den eilenden Fluß, das niedrige Felsufer auf der andern Seite, die Blumen in den vereinzelten kleinen Sümpfen, auf den Hängen und am Rande des muntern Baches zu seinen Füßen, die Kreuzblütler, die die einen Frauenhemd, andere Kuckucksblumen nennen, die Pappeln mit ihren Kätzchen, die Weidenschößlinge mit ihren zarten Blättern, eine schon lange verlassene Kalkbrennerei mit Walderdbeeren in allen Ritzen und Spalten, fast reifen Früchten und verheißungsvollen weißen Blütenbüscheln daneben … Und sich nun zu denken, daß in der Dämmerung vielleicht ein Igel mit seinen vier Jungen daherwatschelte und ihnen zeigte, wie gut Erdbeeren schmecken, und Walderdbeeren ganz besonders! Sich zu denken, daß die Käuzchen wieder so anheimelnd klagen würden in hohlen Bäumen und verlassenem Mauerwerk, und daß die Füchse bellen und die Esel schreien würden, und daß alles wachsen und gedeihen, und daß die Sonne am Morgen wieder wie eine Kugel aus der Schlucht am Fluß hervorschießen würde, aus der Talenge, die von alters her Jammertal heißt, und – daß dies alles Irland war.


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