Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

 

1

Unter denen, die die zukünftige Entwicklung am genauesten vorausgesagt hatten, befand sich Bombay, und wenn er nicht so philosophisch eingestellt gewesen wäre, hätte er die Tatsache, daß so wenige von seinen düsteren Prophezeiungen Notiz nahmen, viel peinlicher empfunden.

«Sie werden doch wohl geschlossen unterschreiben und geschlossen den Vertrag mit England respektieren!» sagte Barney. «Der einfachste Anstand muß ihnen das gebieten.»

«Du vergißt nur die Eitelkeit, lieber Freund!» entgegnete Bombay. «Und was politischen Anstand anlangt, so pflegt er meist nur bis zum Halsausschnitt gewaschen zu sein.»

Bombay gebrauchte Wendungen, auf die kein anderer in der Straße verfiel. Das kam daher, daß er die ersten fünf Wochentage mit Lesen von allem möglichen verbrachte, vom Strand-Magazin angefangen bis zur Bibel. Diese las er hauptsächlich, um die Mitbewohner des Hauses aufzuziehen, denen als guten Katholiken – um ihren eigenen Ausdruck zu gebrauchen – der Besitz dieses Buches nicht zugetraut werden konnte. War doch Bombay überlegen in jeder Beziehung, weil er von einer englischen Pension lebte, die er seinen Dienstjahren in Indien verdankte. Diese Pension ermöglichte es ihm, jeden Samstag nachmittag mit steifem Hut und Kragen Onkel Toms Hütte in der Buttermilchgasse aufzusuchen, wo er sich in einem wissenschaftlich ausgeklügelten Tempo systematisch besoff. Am Sonntag lag er dann als Katerleiche da und kam nur hie und da so weit zu Bewußtsein, daß er auf indisch oder gälisch eine Reihe Wünsche über die Millionen von Lausbuben äußern konnte, die sich da draußen offensichtlich nur zu dem Zweck versammelt hatten, seinen Zustand noch zu verschlimmern.

Man ist es so sehr gewohnt, daß die lieben Mitmenschen von einem bestimmten Zeitpunkt an beginnen, ihre gesellschaftliche Seite nach außen zu kehren, daß man schlecht auf das Zusammentreffen mit einem Mann wie Bombay vorbereitet ist, der Spaß daran hat, seine schlechtesten Eigenschaften zur Schau zu stellen, ja, sie womöglich noch zu übertreiben. Wenn er ein Haus gewesen wäre, hätte er bestimmt seine Hinterfront nach der Straßenseite gekehrt. Schon als Kind hatte er den Leuten die Zunge gezeigt und zugleich Verzweiflung im Herzen getragen. Menschen von seiner Art haben manchmal das Glück, einem Mädchen zu begegnen, das sie durchschaut und sie zur Verblüffung ihrer Umgebung zu «andern Menschen» macht. Sie macht sie übrigens gar nicht zu andern Menschen, sondern setzt sie nur sanft auf eine Drehscheibe und bringt das Haus dazu, richtig dazustehen. Vielleicht daß sie mitunter einmal ärgerlich sagen muß: «Hab dich doch nicht so!» Aber auch das ist nach einiger Zeit selten mehr nötig.

Bombay war niemals zu einem ordentlichen Mädchen in ein näheres Verhältnis gekommen. Die Frauen, die er getroffen hatte, waren meist von der Sorte, an die sich ein Soldat mit seinen paar Schillingen in der Tasche heranmachen kann; und die er verführt hatte, gehörten meist der Sorte an, die das gewohnt ist. Und jetzt war es zu spät. Er glaubte selbst an seine Unverbesserlichkeit. Zwei aber gab es, die nicht daran glaubten, das waren zwei von den «Kleinen Schwestern der Armen». Diese stapften paarweise durch die Stadt und hoben die Steuer für ihr unermüdliches Wirken ein. Niemand ging frei aus. Arme und Reiche, Gläubige und Ungläubige, Verdrießliche und Heitere, alle mußten ihr Scherflein geben. Bei den Kaufleuten bekamen sie alle möglichen Abfälle, die sie mühsam zu einem großen, von einem großen Pferd gezogenen Kasten auf Rädern hinausschleppten; und wenn der voll genug war, krochen sie selber hinein auf ihre zwei unbequemen Sitze, ließen den Kutscher losfahren und ihre Rosenkränze durch die Finger rieseln, bis sie in ihrem Kloster waren. Von den Armen bekamen sie ein paar kümmerliche Pfennige, wenn nicht gar sie ihnen helfen mußten. Im Grunde gab es für sie nur zwei Arten von Menschen: solche, denen geholfen werden mußte, und solche, die diese Hilfe zu leisten hatten. Somit war ihre Weltanschauung auf den einfachsten Nenner gebracht, der sich denken ließ – mochten andere Staaten aufbauen, Staaten zerstören oder Staaten verstümmeln. Was ihnen – neben manchem andern – ihre Ruhe, Bescheidenheit und Überlegenheit verlieh, war das feste Wissen, daß sie, einmal an die große Ausgangspforte des Lebens gekommen, dieses Ziel auf geradem Weg erreicht haben würden, während die andern wie junge Hunde die zehnfache Strecke zurückgelegt hätten mit ihren tausend Abwegen und kleinen Geschäften.

Als die beiden kleinen Schwestern am Weihnachtsabend gegen sieben Uhr bei Bombay erschienen, geschah das ausnahmsweise nicht, um zu betteln, sondern um in einer andern Sache an die guten Geister in ihm zu appellieren. Wie gewöhnlich war Schwester Angelika die Wortführerin und sagte: «Entschuldigen Sie, Herr Bombay, soviel ich weiß, haben Sie einen Freund, der Barney Mac Cleary heißt, nicht? Sie müssen schnell was anziehen und sich nach Onkel Toms Hütte aufmachen, bevor dort ein Unglück geschieht. Es ist peinlich, es zu sagen, aber der nette junge Mensch ist drauf und dran, sich zu betrinken, und wir haben das bestimmte Gefühl, daß es dann einen Skandal gibt.»

Bombays erster Gedanke war, zu fragen, warum denn Barney der einzige Irländer sein sollte, der am Weihnachtsabend nicht betrunken wäre, aber seine Gedanken standen einfach Kopf, weil der Fall noch nie dagewesen war, daß ausgerechnet ihn jemand ersucht hatte, Leute aus einem Lokal von dieser Art fortzuholen, und darum sagte er: «Heißt das nicht den Kater in den Taubenschlag setzen, wenn man grade mich mit einer solchen Aufgabe in Onkel Toms Hütte schickt?»

Die Nonne lächelte: «Sie haben sicher den inneren Drang zu ein paar solchen Aufgaben. Und – wären Sie denn nicht sowieso hingegangen – später?»

«Gewiß!» sagte Bombay höflich. Sonst schien es ihm im Interesse seines ökonomischen und gesundheitlichen Gleichgewichts geboten, das Fest erst gegen acht Uhr zu beginnen, heute aber wollte er selbstverständlich tun, was die kleinen Damen verlangten.

«Gottes Segen über Sie!» wünschten sie ihm wie aus einem Mund.

«Danke!» sagte Bombay. Es interessierte ihn selber, Barney mit einem Rausch zu sehen.

Bevor er ging, deckte er das Feuer mit feuchtem Kohlenstaub zu und machte sich vor dem Spiegel schön. Der hatte mittendurch einen Sprung. Über dem Sprung saßen seine Augen, deren innere Winkel infolgedessen wie durch einen Schnitt verlängert wirkten, und seine stark blau geäderten Backen. Darunter saß der Mund mit den trocknen Lippen und dem Schnurrbart, dessen Spitzen er drehte, bis sie so lang und dünn wie Zündhölzer in die Luft ragten.

 

2

Als Bombay in die Buttermilchgasse bog, stieß er auf seinen Hauswirt, und sie gingen nun miteinander zu Onkel Toms Hütte. Der erste Bäckergeselle Hoban war ein langer, magerer und bis zur Unerträglichkeit ehrlicher Mann, der schon lange die Hoffnung seiner jungen Jahre hatte fahren lassen, daß ihm mal jemand mit seiner Frau durchbrennen würde. Ist die katholische Ehe doch untrennbar wie die beiden Seiten eines Bogens Papier, mag auf der einen auch ein Gebet stehen und auf der andern ein fauler Witz; herausgekommen war dabei in Hobans Fall eine unübertreffliche Gewandtheit darin, zu einem Schoppen zu kommen und im Anschluß daran eine halbe Stunde bei Onkel Tom zu verbringen. Er wurde in groben Zügen in Bombays Aufgabe eingeweiht und erklärte sich einverstanden und zum Handeln bereit.

Wenn sie aber damit rechneten, daß Barney überaus dankbar für seine Befreiung sein würde, so hatten sie vergessen, was ein Weihnachtsabend in einem irischen Wirtshaus bedeutet. Und vergessen hatten sie auch, daß es der Weihnachtsabend des Jahres 1921 war und es also kein andres Gesprächsthema geben konnte als: Freistaat oder Republik. Barney bildete den Mittelpunkt einer Gruppe, und das erste Wort, das sie von ihm hörten, bewies, daß Bombays Vortrag heute früh nicht spurlos an ihm vorübergegangen war.

«Und was po-li-tischen A-a-anstand be-betrifft, d-da sind manche grad nur bis zum Halsausschnitt gewaschen!» sagte er mit breiiger Stimme. In der Linken hielt er den Krug, und mit der Rechten gestikulierte er.

«Auf wen soll das gehn?» fragte Roddie, der es sichtlich ebenfalls im Sinn hatte, Weihnachten wie ein guter Irländer zu feiern.

«Fr-rag Bombay! D-da kommt er!» sagte Barney diplomatisch. «I-ich brauch nur Bombay zu fragen … Bombay, alter Freund, w-was willst du trinken? Sind wir uns nicht einig, daß wir jetzt Ruhe zur Arbeit in Irland wollen? Nichts anderes als die eignen Kartoffeln häufeln und Griffith und Mick Collins nicht fallen lassen. – Hoch Mick Collins, der die Engländer rausgeschmissen hat aus Irland. Hoch Griffith, hoch!»

«Hoch de Valera!» rief ein anderer dagegen.

«Ob du für Freistaat bist oder für Republik – darum dreht sich's», versetzte Roddie und ließ nicht locker.

«Der Kampf ist gewonnen, und ich bin Landwirt!» schrie Barney. «Ich will nicht den Rest meines Lebens auf der Walze rumliegen, weil es in Dublin zuviel Generäle gibt.»

«Verräter!» rief einer laut.

Einer oder der andere wirft in Irland dies Wort bestimmt in jede Debatte. In diesem Fall aber hätte er es besser unterlassen, denn das veranlaßte Roddie, Barneys Partei zu nehmen.

«Zu wem sagst du Verräter, ha? Unter welchem Bett hast du denn gesteckt, als Barney und ich und die übrigen von uns die grobe Arbeit schmissen? Wenn ich dir verabreichen würde, was du verdienst …» Hier übermannte Roddie der Zorn, und er «verabreichte ihm, was er verdiente». Da hing Bombay aber schon am Telephon und bat Kitty, sie möge kommen und den Versuch machen, Barney wegzubringen.

Sie kam zugleich mit der Polizei, und da war die Rauferei zur Hälfte schon draußen auf der Straße im Gang. Eine richtige irische Weihnachtsrauferei. Und wie von einer Trillerpfeife gerufen, tauchten plötzlich Dutzende von Frauen auf der Walstatt auf, manche mit dem Messer in der Hand, manche ohne Messer; und als dann einem Schutzpolizisten eine Flasche Whisky auf der Mütze zertrümmert worden war, nahm die Geschichte ihren Lauf. In fünf Minuten waren Hunderte von Kämpfern und zahlreiche Zuschauer in die Schlacht verwickelt, und das Endresultat waren zwölf Verhaftungen. In kleineren Ablegern aber setzten sich die Feindseligkeiten die ganze Nacht hindurch fort, ohne daß eigentlich jemand eine Ahnung hatte, um was sie entbrannt waren.

Als Kitty ankam, sah sie Bombay und Hoban gespannt einen Menschenknäuel beobachten, der sich auf einer Seite des Wirtshauses draußen vor der Tür herumwälzte. Allen drei war es klar, daß Barney fort mußte, bevor die Polizei richtig zupackte, und schließlich glückte es ihnen auch, den heftig Widerstrebenden aus dem Haufen zu reißen, und während Bombay und Hoban ihn rechts und links am Arm gepackt hielten, trat Kitty vor ihn hin und sagte: «Guten Abend, Barney!»

Er starrte sie verständnislos an, und sie fuhr fort: «Wollen wir zu mir nach Hause gehen?»

Er wischte sich das Blut vom Gesicht und sah sich unentschlossen um, folgte ihr aber langsam, während Bombay einen betrübten Blick in das Innere des Wirtshauses und auf die ganze Zerstörung warf. Zugleich hörte er Hoban sagen: «Hier fließt noch Blut heute abend!»

«Und Whisky!» ergänzte er. Sie trafen keinerlei Verabredung, suchten aber einträchtig schweigend ein am Hafen gelegenes Wirtshaus auf.

 

3

Diese unschuldige und über das Maß des Üblichen nicht hinausgehende Weihnachtsrauferei erhielt für Barney eine gewisse Bedeutung dadurch, daß sie ihn wieder auf eine neue Art mit Kitty und Bombay zusammenführte. Sie nahm ihn mit heim und wusch ihm das Gesicht, und sobald er etwas abgekühlt war, wurde er fromm wie ein Pudelhund. Als sie Tee gekocht hatte, saßen sie da und plauderten eine halbe Stunde miteinander, er vornübergebeugt und sie auf Mädchenart mit dem einen Schuh unterm Tisch, während sie den andern am Fuß auf- und niederwippen ließ. Die Rauferei hatte bei ihr keinen besonderen Eindruck hinterlassen; erstens war sie diese Art, Weihnachten zu feiern, von ihrer Heimat drüben im Westen gewohnt, und zweitens hatte sie Weihnachten einmal in den nördlichen Gegenden erlebt, wo die Räusche besonders gefährlich sind, weil sie mittels eines selbstgebrannten Stoffes erzeugt werden. Sie sprachen von der Politik und der Zukunft, zwei Fragen, die eng zusammengehörten, und sie waren sich insoweit eins, als keins von ihnen richtig Bescheid wußte und beide bestrebt waren, mit einem planmäßigen Aufbau ihres Daseins zu beginnen. Die Dubliner Schlagworte waren noch nicht richtig in das Land hinausgedrungen, ja, sie waren überhaupt noch nicht richtig geprägt. Auf die Beschuldigung, daß er ein Verräter sei, hatte Collins schon am vierzehnten Dezember im Parlament geantwortet: «Es gibt Leute, die mich einen Verräter genannt haben. Laßt das irische Volk entscheiden, und wenn es dann immer noch Leute gibt, die mich einen Verräter nennen, bin ich bereit, ihnen jederzeit und an jedem beliebigen Ort Rede zu stehen.» Die gefährlichen Leute im Lande waren die, die sich allzusehr an Titel, Uniformen und ein zügelloses Leben gewöhnt hatten. Und wie immer in solchen Lagen, waren neunzig Prozent untätig und die wirklichen Herren des Landes ein paar tausend junge Leute beiderlei Geschlechts, die sich ihren Weg über Berge und durch Moore zu bahnen bereit waren, wenn ihnen nur eine Batterie zündender Schlagworte zur Verfügung stand.

Die Briefe, die Kitty und Barney bisher bei seltenen Gelegenheiten gewechselt hatten, glichen in keiner Weise dem üblichen Austausch zärtlicher Beteuerungen – auch nicht die Spur von Liebelei hatte dabei mitgespielt. Als er sie aber an diesem Abend verließ, küßte er sie und fühlte sich richtig glücklich, als er dann durch den kühl windigen Abend nach Rotkreuz heimging, wo der alte Peadar Phelan in der Küche am Herd saß und seine Pfeife rauchte, indes Maggie an einem Strumpf strickte.

Doch wenn Barney in seinem Verhältnis zu Kitty so die Tür zu größerer Vertraulichkeit geöffnet hatte, die ein Kuß ja in der Regel bedeutet, so war an diesem Weihnachtsabend auch in seiner Bekanntschaft mit Bombay ein Schritt vorwärts getan. Und das hatte nicht nur deswegen sein Gutes, weil Bombays Verstand sehr beweglich war und schnell große Strecken zurücklegen konnte – manchmal allzu große Strecken –, während Barney eine Neigung zum Steckenbleiben hatte. Einige Zeit nach Neujahr machte der indische Soldat einen Besuch in Rotkreuz und legte großes Interesse für die Landwirtschaft an den Tag, die sich freilich um diese Jahreszeit nicht grade von ihrer interessantesten Seite zeigt. Er sei zu Fuß gekommen, sagte er, denn den Berg hinaufzuradeln sei er zu faul, und ihn hinunterzuradeln zu feig. Die Rauferei wurde nicht erwähnt, genau so, als ob das Schweigen darüber einer Vereinbarung zwischen ihm und Barney entspräche. Hingegen nahm der alte Peadar Phelan Bombay mit hinaus und zeigte ihm ein paar Hühner, die den Pips hatten, eine Krankheit, für die Bombay zufällig Rat wußte, was Peadar sehr imponierte, war er doch hundertundfünf Jahre alt geworden, ohne etwas von einem Mittel dagegen gehört zu haben.

Und es geschah überraschenderweise, daß der Sonderling Bombay, der es gewohnt war, sich immerfort verdrießlich zu zeigen, gleich einer Katze zu schnurren und sich heimisch zu fühlen begann. Er erklärte sofort, sie müßten sich darauf vorbereiten, daß er zu viel schwätzte, und das tat er denn auch, verstand es aber, die Leute hier damit zu fesseln.

Als Peadar Phelan hörte, daß er in Fellwies geboren war, fragte er ihn nach seinem Vater, worauf Bombay einen Namen nannte, und hinzufügte: «Er war ein englischer Soldat und mit meiner Mutter verheiratet, aber, wie die Russen zu sagen pflegen: Soldatenkinder haben das ganze Dorf zum Vater!»

«Vielleicht in Rußland!» entgegnete Peadar mit großer Freundlichkeit. «Aber nicht in Irland.»

«Du hast vielleicht recht!» bemerkte Bombay lächelnd, und damit kamen sie auf ein Gespräch über die Verhältnisse in Irland.

«Ich war vierzig, als wir die große Hungersnot hatten!» sagte Peadar Phelan. «Wer das erlebt hat, hat was erlebt, was er nicht aufzuschreiben braucht, um's zu behalten. Die Hälfte unseres ganzen Volkes ist damals gestorben oder ausgewandert. Von meinen Leuten starben zwei Vettern, ein paar von den Alten gar nicht gerechnet, die vielleicht sowieso abgekratzt wären. Meine drei Brüder gingen nach Amerika, und niemand hat je wieder was von ihnen gehört. Vielleicht sind sie nie bis hin gekommen, oder sie sind in so 'ner Art Sklaverei gestorben. Viele Irländer sind damals mit Verträgen rübergegangen, die ihnen keine andre Wahl ließen. In Wirklichkeit war es ja auch keine ganz richtige Hungersnot, nur bei den Kartoffeln gab es eine vollkommene Mißernte. Aber Fleisch war genug da, und Speck genug – nur nicht für uns Irländer. ‹In einem Klima, sanft wie seiner Mutter Lächeln, auf einer Erde, fruchtbar wie die Liebe Gottes, darbte der Bauer Irlands!›» zitierte er und fügte hinzu: «Das hat Thomas Davis gesagt!»

«Du mußt die Engländer gehaßt haben!» meinte Bombay.

«Manches muß auch der Zeit angekreidet werden», entgegnete Peadar zögernd. «Aber noch im Jahre 1848 ist Meagher wegen Hochverrats zum Galgen verurteilt, gehenkt und gevierteilt worden, und seine Überreste wurden ihrer Majestät der Königin zur Verfügung gestellt, um damit nach ihrem königlichen Gutdünken zu verfahren. – Ja, wir haben sie gehaßt. Und sie haben uns unten gehalten, so gut sie konnten. Wir durften nichts lernen. Nur Buschschulen hatten wir, und wehe dem Lehrer, der bei dem Verbrechen ertappt wurde, daß er die Kinder lesen lehrte. Ich selber hab es nie gelernt. Und mit der ärztlichen Behandlung war es nicht anders bestellt. Na, wir verließen uns unbedingt auf Schweineschmalz und roten Flanell. Und schließlich geht's auch damit.» Das Letzte sagte er mit einem Lächeln und fuhr dann mit erhobener Stimme fort: «Aber warum der Milch nachflennen, die nun einmal verschüttet ist! Es heißt doch was Großes für einen Mann von mehr als hundert Jahren, daß er es noch erleben durfte, sie nicht mehr im Land zu sehen. Der alte Peadar Phelan kann in Wahrheit sagen: Herr, nun lasse deinen Knecht in Frieden fahren! – Und einmal müssen wir doch alle Schluß machen mit dem Haß. Jeder muß Schluß machen mit dem Haß. Jetzt muß es möglich sein, sich über die Gräber weg die Hand zu geben, sonst ist unser Vaterland verloren. – Ist es denn wahr, daß sich die Irländer in Dublin nicht die Hand geben wollen?»

«Noch ist ja Hoffnung!» sagte Barney, aber er glaubte nicht daran, und niemand hatte das Herz, dem alten Manne weiterzugeben, was Bombay draußen auf der Landstraße zu Barney sagte: «Ehe nicht Griffith und Collins wie Abel mit dem Messer im Rücken daliegen, wird in Irland nicht Friede!»

Als Barney wieder hereinkam, stand Peadar Phelan mit dem Rücken zum Herd und sagte: «Das ist wirklich ein netter Mensch. Nur das da von seiner Mutter hätte er nicht sagen sollen – nicht mal, wenn's vielleicht wahr ist. Die Fellwieser sind in solchen Sachen immer ein bißchen locker gewesen.»

 

4

Und der nette Mensch kam wieder und fühlte sich schließlich auf dem Hof in Rotkreuz so zu Hause, daß er seine Meinung unverblümter heraussagen konnte.

«Es stecken Möglichkeiten in unserm Land – vielleicht mehr, als sie jemals ein anderes Volk gehabt hat. Wir könnten jetzt in großer Liebe vereint das Land aufbauen, auf das jeder von uns so stolz ist. Wir sollten ja einen glänzenden Mörtel dafür in den Gaben unseres Volkes besitzen, mit denen wir so gern prahlen – von unserm Glauben gar nicht zu reden. Aber wann hätte man je gesehen, daß Politik aus Liebe gemacht wird … aus solch einem kostbaren Stoff wie Liebe. Politik wird zusammengekleistert aus Unzufriedenheit: Unzufriedenheit mit zeitlichen Gütern, Unzufriedenheit mit denen, die an der Herrschaft sind, mögen es nun Landsleute oder Fremde sein.»

«Es steht bei euch Jungen, das anders zu machen!» sagte der Alte.

«Die Grundgesetze des Lebens können wir nicht anders machen!» entgegnete Bombay. «Außerdem haben wir Irländer in den letzten dreihundert Jahren nur die Entwicklung erlebt, daß wir jetzt Selbstladepistolen haben statt jener stachelbespickten Keulen, die man früher frivol Nußknacker nannte. Und es kann auch nichts nützen, uns daraus irgendwie einen Vorwurf zu machen; denn wenn uns einer fragt, warum wir nicht anders werden, dürfen wir getrost antworten: weil uns das mal so in den Knochen sitzt.»

«Dann helfe Gott Irland!» sagte Peadar und stand so aufrecht da im Glanze seiner noch nicht völlig gebleichten Haare, die ihm wie eine Glorie um den Kopf standen, daß Bombay eiligst den Dampf aus dem Kessel ließ und von den Millionen zu sprechen begann, die in den Banken schlummerten und nun geweckt werden sollten.

Aber Peadar Phelan ließ sich nicht dumm machen und sagte ihnen, was der Ertrag seines langen Lebens war: «Das ist das Gesetz vom Gleichgewicht aller Dinge: wer gibt, der empfängt; wer einen andern schädigt, verliert; wer sich selber opfert, gewinnt sich selber; wer praßt, zahlt mit seiner Gesundheit dafür; wer mit dem Tagesgrauen aufsteht, sieht die Berge im Strahl der Morgensonne leuchten. – Jetzt kann Irland sich zu seiner ganzen Größe aufrichten. Jetzt hat es das eine vor allen andern Ländern voraus, daß es sagen kann: Wir kennen keinen Haß! – Ich glaube und will glauben, daß ich nur darum ein doppeltes Mannesalter habe erreichen sollen, damit meine Augen, ehe sie brechen, ein Irland sehen, wo der Starke seine Kraft mit dem Schwachen teilt … Was hätte es sonst für einen Nutzen gehabt, daß wir gegen die Tyrannei kämpften, als wir jung waren, wenn wir selbst das Recht auf die Säbelspitze setzen wollen.»

In den Ohren der beiden jüngeren Männer klang das wie eine Stimme aus dem Grabe.

«Alles sehr schön, wenn man's als Fastenpredigt betrachtet!» sagte nachher Bombay draußen zu Barney. «Aber wir kennen ja unser Land. Wir haben noch immer die Heiligen verehrt und – die Galgenvögel, an deren Gebeinen die Füchse nagen, bewundert. Wir sind auch immer bereit, zu vergeben, nur möchten wir unbedingt vorher schnell noch ein paar Kerle totschlagen, ehe wir das Schwert mit dem Gebetbuch vertauschen. – Hoffen wir bloß, daß dein Großvater das Schlimmste nicht mehr erlebt.»

 

5

Ein Briefträger eilte über den Kornmarkt. Er eilte – das ist die einzige treffende Bezeichnung für Jimmy Duggans Art, sich fortzubewegen. Er lief weder, noch stürzte, noch schlenderte er, wie es so viele Briefträger tun. Seine Art, vom Fleck zu kommen, war gleichsam genau geeicht: den Briefsack überm Arm, die Brille schon einen halben Zoll nasenabwärts gerutscht, die Schuhe blank, wie sich's für eine Amtsperson schickt, und manchmal eine Players oder Goldflake zwischen den Lippen, eine Kleinigkeit rechts vom mittleren Schneidezahn, weil es grade dort eine Lücke gab für Zigaretten, Bleistifte, oder was man sonst in den Mund steckt. So eilte Jimmy Duggan auch heute die Straße hinunter. In großen Abständen nur steckte er hier und dort ein, zwei Briefe in einen Briefkasten und ließ den Klopfer ertönen, denn es war der zweite Bestellgang, bei dem es nie besonders viel Post gibt. Draußen vor Nummer 9 blieb er stehen und sah sich einen Brief genau an: Kornmarkt Nr. 9 … Ja, es stimmte schon. Ein neuer Mieter – schon recht! Mußte er sich zur Sicherheit merken! – Als er mit der Zustellung fertig war, bog er schnell um die Ecke der Buttermilchgasse. Hier mäßigte er seinen Schritt und blickte sich mit einer gleichgültigen Miene um, bevor er in Onkel Toms Hütte verschwand.

Drinnen aber im Hause Nummer 9 am Kornmarkt saß Roddie Carrol, den einen Fuß auf dem Tisch, und las den Brief, den er grade aus Dublin bekommen hatte. Doch blieb er nicht lange so sitzen, sondern sprang auf, ging im Zimmer auf und ab und las immer wieder in großer Erregung ein paar Zeilen. Das war nicht allein zu schön, um wahr zu sein, das war auch zu schön, als daß er sich allein daran hätte freuen können. Es war eine Aufforderung, sich zum Handeln bereit zu halten. Roddie ließ sein Frühstück im Stich und jagte zu Barney hinaus.

«Nieder mit den Verrätern!» Er heulte es fast hervor. «Hör zu! Dieser größte Verrat in der Geschichte Irlands bedeutet einfach: die irische republikanische Armee ist außer Gefecht gesetzt, die Früchte ihrer Anstrengungen sind verloren, und das Blut der Märtyrer ist umsonst vergossen. Wir haben jetzt nur eins zu tun: uns in Besitz des gesamten militärischen Apparates zu setzen und uns unverzüglich zu bewaffnen. Wegen der Geldmittel brauchst du dich nicht zu sorgen. Auf den Postämtern und in den Banken liegt genug. Die meergrünen Unbestechlichen haben der Welt bewiesen, daß sie mit den Engländern fertig werden konnten. Wir werden beweisen, daß wir auch die irischen Verräter schlagen können. Mach dich bereit zur Besetzung der Depots und vergiß nicht, daß im Kampf gegen Verräter jedes Mittel erlaubt ist. Auf Verrat steht der Tod!»

«Was bedeutet das?» fragte Barney, nachdem er die Tür geschlossen hatte, damit der alte Mann nicht mehr als notwendig hörte.

«Was das bedeutet? Hör zu, was das Hauptquartier sagt: ‹Wenn die künftigen Freiwilligen die von den Freiwilligen der letzten vier Jahre begonnene Arbeit zu Ende führen sollen, kann das nicht auf den Leichen der Fremden, sondern muß auf denen unserer Landsleute geschehen. Sie müssen durch irisches Blut waten, durch das Blut irischer Regierungssoldaten, vielleicht auch durch das Blut von Mitgliedern dieser Regierung!›»

«Soll das heißen, daß … daß … Wer steht dahinter?»

«De Valera, der Präsident der Republik!»

«Aber er ist für niemand Präsident als für sich selbst. Griffith ist Präsident, und das Dail hat den Vertrag angenommen.»

«In einem halben Jahr werden die Kerle für ihren Verrat am irischen Volk bezahlt haben. De Valera will ihr Blut sehen!»

«Das heißt also – Bürgerkrieg!»

«Ja, das heißt, daß wir noch ein paar Schweine schlachten müssen, bevor …»

Ohne daß sie es bemerkt hatten, war die Tür aufgegangen, und Peadar Phelan stand bei ihnen in der Stube. Er war leichenblaß und stöhnte leise. Aufrecht wie eine Tanne ging er gerade auf Roddie zu, der unwillkürlich zurückwich. Dann hob der alte Mann den Arm und sagte: «Hast du Arthur Griffith und Michael Collins Verräter genannt?»

Roddie wich ein Stück weiter zurück, bevor er sich zu seiner ganzen Größe aufrichtete, und schrie: «Ja, ich hab sie Verräter genannt – Verräter und Schweine!»

«Mach, daß du mir aus dem Haus kommst!» schrie der alte Mann. «Scher dich aus meinem Haus, scher dich!»

Er war blau im Gesicht und griff sich an die Kehle. Barney fing ihn auf, bevor er umfiel, und brachte ihn zu Bett. Als er dort lag, fragte er mit schwacher Stimme: «Barney, Junge, ist es denn wahr, daß Irländer gegen Irländer marschieren sollen?»

Barney nickte, und Peadar murmelte vor sich hin: «Hat er doch recht gehabt, der indische Soldat! Armes Irland! Mein armes Irland!»

Maggie Phelan lief, Vater Parker zu holen, und kurz darauf kam Patrick Walsh, seinem alten Freund Lebewohl zu sagen. Später am Abend war Peadar wieder ganz klar und lag und lauschte auf das Gejammer des alten Esels draußen in der Finsternis. Und um die Zeit, da sich die Nacht wie ein schwarzer Fittich hob und darunter die ersten nach der Stadt fahrenden Karren mit Kohlköpfen auftauchten, verließ er die Erde, die ihn vor nahezu hundertundsechs Jahren empfangen hatte. Sie hoben seinen Sarg quer über die Friedhofmauer hinweg, weil Peadar, solange er noch auf einem Gaul sitzen konnte, sich niemals erst umständlich nach einer Zauntür umgesehen hatte.


 << zurück weiter >>