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Siebentes Kapitel

 

1

In die Mauern von Häusern ringsum am Stadtrande sieht man hier und da Stein- oder Bronzeplatten eingelassen, die davon Kunde geben, daß man hier die und die jungen Männer niedergeschossen hat, oder daß hier der oder jener Hinterhalt gelegt wurde. An einer Mauer in der Nähe des Bahnhofs ist zu lesen: «Am 10. März 1922 wurde die Stadt von den englischen Besatzungstruppen geräumt und der Sicherheitsdienst der Polizei des irischen Freistaates übertragen.»

In der Geschichte der Stadt wird dieses Datum für alle Zukunft leuchtend dastehen, und trotz allem, was dumpf hereindrohte, vereinigte sich die Stadt an diesem Tag in einer großen Freude über das beinah Unfaßbare, daß Irland endlich die Verwaltung seines eigenen Rechtswesens übertragen bekam.

Daß Barney nicht in den Reihen der irischen republikanischen Armee stand, die an diesem Tag die englischen Polizeikasernen besetzte, entsprang ausschließlich seinem Wunsch, so bald wie möglich mit der Landarbeit in Gang zu kommen. Ein paar Tage vorher war der Stadtkommandant persönlich zu Pferde draußen in Rotkreuz erschienen und durch die Gartenpforte bis zur Veranda geritten, wo er das Pferd einem Knecht übergab. Hierauf fragte er Barney ohne Umschweife, warum er sich jetzt zurückzöge. Und Barney hatte das mit der Landarbeit begründet. Er ließ aber gleichzeitig durchblicken, daß es auch gewisse Dinge gäbe, worüber er mit seinen früheren Kameraden nicht einer Meinung sein könnte.

«Ich versteh schon!» sagte der Kommandant. «Das ist ja einer der Gründe, weshalb ich gern noch mehr Leute von deinem Schlag dabei hätte.»

«Es muß sich doch einer dranmachen, für die überflüssige Bevölkerung zu arbeiten», erklärte Barney. «Wir haben mindestens hundertfünfzigtausend Arbeitslose, und das ist ein genau so wichtiges Problem wie der Polizeidienst … und dafür gibt's weniger geeignete Leute.»

«Wie du willst!» entgegnete der Kommandant. «Und Glück zu! Gott helf uns allen!»

Als Barney ihm draußen vor dem Tor das Pferd hielt, sagte der Kommandant: «Ich versteh es gut, daß dich die täglichen kleinen Reibereien und das ganze dumme Gewäsch ärgern, aber nimm dich in acht, daß du die Dinge nicht zu geologisch anschaust!»

«Ich versteh nicht ganz …»

«Nun, mancher sieht alles aus etwas zu großem Abstand, so daß der Himalaya und die Schweiz zu bloßen kleinen Verdickungen der Erdkruste werden …»

«Ach so!» sagte Barney befreit. «Nein, so schlimm ist es nun doch noch nicht.»

Der Kommandant trabte zur Stadt hinunter, und Barney ging übers Feld, um zu sehen, ob mit dem Vieh alles in Ordnung sei. In Wahrheit lag ja der Hauptgrund für ihn nicht bei «gewissen Dingen», über die er mit den I.R.A.-Leuten, oder einem Teil davon, nicht einig werden konnte, sondern er hatte grade im Umgang mit Bombay, dem Holländer, Pater Aloysius und Jimmy Malone entdeckt, daß es mehr als eine Art Männlichkeit gab. So unter anderm die von Jimmy: daß einer jahraus, jahrein im Bett liegen oder im Stuhl sitzen konnte, ohne zu klagen. Auch hatte er bemerkt, daß kein kleiner Teil der wildesten Republikaner nur darum zu den wildesten Republikanern zählte, weil diese Leute jederzeit auf der Seite zu finden sein würden, wo die Büchsen abgefeuert wurden. Er hatte ferner grade gehört, daß Roddie wieder besonders tätig war und sich mit einem neuen Raubüberfall trug. Schließlich hatte ihn vor ein paar Tagen ein Mann namens Jas Glaß besucht, der jeder Verbrecherbande zur Zierde gedient hätte, und dessen Spezialität es war, kein andres Gesetz als das republikanische anzuerkennen. Er hatte nicht mehr Hirn als eine gewöhnliche Gartenschnecke, aber irgend jemand war erbarmungslos genug gewesen, ein paar Phrasen über ihn auszuschütten, auf die er nun schwören würde, bis ein später Tod die Gesellschaft von ihm erlöste. Barney hatte ihn das erstemal beim Stadtgericht unmittelbar nach der Amnestie gesehen, wo Jas wegen einer so zahmen Sache wie Wirtshausfriedensbruch vor den Schranken stand, hinter denen als Richter der ehrwürdige Major Moore saß und aufmerksam lauschte. Der Fall hatte sich am gleichen Weihnachtsabend ereignet, an den Barney mit ziemlich flauen Gefühlen zurückdachte, und es hatte damit angefangen, daß ein Polizeioffizier Jas mit blutender Backe aus einem Lokal hatte herauskommen sehen. Die Aufforderung, er solle machen, daß er nach Hause komme, hatte Jas damit beantwortet, daß er den Offizier anpackte und hinzuwerfen versuchte. Eine Schwester hatte ihm geholfen, und an der Rauferei waren binnen kurzem fünf Polizisten beteiligt gewesen und eine unbekannte Zahl von Zivilisten, die eine so günstige Gelegenheit nicht vorübergehen lassen wollten. Seine alte blinde Mutter hatte bei Gericht für ihn gebeten; aber seine Strafliste wurde verlesen, und die war nicht schön.

«Eine lange, üble Geschichte!» betonte der Vertreter der Anklage. «1916: drei Jahre Gefängnis wegen Raubes von zweihundert Schillingen, begangen an einer Frau. 1919: Zweimal wegen Trunkenheit bestraft. 1921: einmal wegen Trunkenheit und Gewalttätigkeit.»

Jas wurden zwei Monate Zwangsarbeit aufgebrummt, und das letzte, was er schrie, war: «Ich erkenn dies Gericht nicht an! Bald haben wir unser eigenes Heer, und dann kriegt ihr was andres zu sehn!»

Dieser Herr war zweifellos beim Aufmarsch mit dabei, interessieren aber mußte vor allem die Frage: war dieser Mann typisch? Hierauf gab es nur die Antwort: keineswegs. Doch fanden sich neben den achtungswerten und aufrichtig von der Sache überzeugten Revolutionären alle möglichen Elemente, mit denen die Ehre der Vaterlandsrettung zu teilen oder von denen Befehle zu empfangen man kein besonderes Bedürfnis empfand. Es handelte sich da hauptsächlich um Leute, die nur darum Revolutionäre waren, weil sie sonst nichts zu tun hatten.

 

2

Wieviel bürgerlichen Heldenmut bewiesen in diesen Jahren Hunderttausende, wenngleich Fräulein Mary Mac Swiney in ihrer flammenden Rede von ihnen nur sagen konnte, sie wären Verräter, die ihren heimischen Fleischtöpfen den Vorzug gäben! Zu ihnen gehörte auch ein so vornehmer Mann wie Major Moore, mit dem Barney zufällig durch seine beiden Söhne in Verbindung gekommen war, von denen der eine aus dem Hinterhalt von den Engländern, der andre nur wenig später ebenfalls aus dem Hinterhalt von den Irländern erschossen wurde. Der Major verstand die Welt nicht mehr und verstand Irland nicht mehr. Mit viel Humor hatte er von einer Gerichtssache erzählt, in der er kürzlich ein Urteil hatte fällen müssen: Eine nach der Polizeistunde noch offen stehende Wirtshaustür hatte die Aufmerksamkeit von zwei englischen Polizisten erregt, und sie waren hineingegangen, um drinnen zu erfahren, daß die Tür nur deshalb offen stand, weil die Wirtin hinausgegangen war, um aus einem Nebengebäude etwas Mehl zu holen. Die Polizisten waren in Zivil, und bevor sie das Lokal wieder verließen, waren zwei Männer ins Haus gestürmt, die sich als Sinn-fein-polizisten auswiesen und Auskunft darüber verlangten, ob die zuerst Gekommenen bona-fide-Reisende wären, die nach irischem Gesetz auch nach der Polizeistunde Anspruch auf Bewirtung haben. Die Schimpfkanonade zwischen den beiden Parteien endete vor Major Moore, der kopfschüttelnd unter dem Gelächter der Zuhörer die Sache schlichten mußte. «Seltsame Zustände haben wir zur Zeit im Lande!» sagte er mit einem leisen Lächeln.

Zu diesem vornehmen alten Richter war Barney geschickt worden, ihm den Tod seines Sohnes zu melden. Er sah das Ganze noch lebhaft vor sich und hörte noch das Mädchen zur Tür hinein sagen: «Ein Herr ist da, der Herrn Major sprechen möchte.» Auch sah er, wie Frau Moore den Blick ihres Mannes auffing, und hörte sie fragen: «Soll ich nicht gehn?» Aber der alte Herr wollte die Sache selbst erledigen. Er putzte seine Brille fertig, schob sie vor seine kurzsichtigen Augen und kam schnell zur Tür heraus, die das Mädchen für ihn offen hielt.

«Ich bin Barney Mac Cleary von der I.R.A. Ich habe Ihnen eine sehr ernste Mitteilung zu machen. Es betrifft Ihren Sohn …»

«William?» fragte der Richter nervös.

«Peter!» verbesserte Barney. «Peter Arthur Moore, einundzwanzig Jahre alt, Student … Wir haben Meldung bekommen …»

«Wo haben sie ihn erschossen?» unterbrach ihn Major Moore.

«In Dun Laoghaire!» wendete sich Barney an Frau Moore, die in die Tür getreten war.

«Oh … und ich hatte gedacht, es ist William!» sagte sie und blieb einen Augenblick zögernd stehen, drehte ihm dann hastig den Rücken und ging in die Stube zurück. «Hilf mir, bitte, den Koffer packen, Biddy,» hörte Barney sie zum Mädchen sagen, und dieses entgegnete: «Sind es die jungen Herren?» Und wieder vernahmen die beiden Männer da draußen die Stimme der Frau, nur klang sie jetzt nicht mehr ganz so beherrscht: «Nur einer – diesmal.»

«Master William?» fragte das Mädchen.

«Nein, der Kleine!»

Major Moore hatte die Tür geschlossen. «Wollen Sie mir nicht Genaueres sagen, Herr Mac Cleary?» Er zeigte sich vollkommen beherrscht.

Barney wiederholte: «Es war in Dun Laoghaire, auf einem einsamen Weg … Sie hatten ein junges Mädchen an ihn schreiben lassen … Hinterhalt …»

«Selbstverständlich!» sagte der Richter mit bitterer Ironie. «Immer muß es hierzuland ein Hinterhalt sein!»

Daran dachte Barney, als er am zehnten März den Abmarsch der englischen Polizei und der Hilfstruppen von einem Fenster der Mooreschen Wohnung aus mit ansah. An diesem Tag wußte er noch nicht, daß er bald darauf an der gleichen Tür läuten und von dem gleichen Mädchen eingelassen werden und die gleichen Fragen hören und die gleichen Antworten, oder doch fast die gleichen Antworten geben würde: «Herr Mac Cleary wünscht Herrn Major zu sprechen.» – «Diesmal ist es William, Herr Major. – Von den Irregulären de Valeras niedergeschossen. – Mit ein paar andern in einen Hinterhalt geraten!» Und dann Major Moores tonlose Worte: «Immer muß es ein Hinterhalt sein in diesem Land der Helden! Wollen … Sie … uns entschuldigen, Herr Mac Cleary!»

Leute vom Schlage des Majors Moore wurden von den Irregulären Verräter, Feiglinge und vollgefressene Schweine genannt, weil sie sich nicht in den Hinterhalt legten, um nichtsahnende und unschuldige Menschen niederzuknallen.

 

3

Auf dem Kaminsims stand die Kabinettphotographie eines jungen Mannes in Soldatenuniform. Barney und Major Moore schauten gleichzeitig hin, und Barney machte unwillkürlich eine Bewegung, als wollte er das Bild entfernen.

Aber der Major wehrte ihm mit einem schmerzlichen Lächeln: «Das hat nichts zu sagen!» bemerkte er leise. «Wir haben uns längst damit abgefunden, und um wieviel mehr erst mit den törichten Handlungen der Menschen!» Sie blickten auf die Straße hinaus, wo ein Sturmregen den Asphalt peitschte, die Rinnsteine überschwemmte und Ströme von Wasser nordwärts zum Fluß trieb, der gelb und mit weißen Kämmen dahinjagte. Ein Schleppdampfer kämpfte mühsam gegen die Strömung, hing stark über und drohte mit einer Boje zu kollidieren, bis er schließlich unter einem deutlich sichtbaren Zittern und Schwanken langsam wendete und schnell mit der Strömung flußabwärts schoß.

Der Sohn William befand sich bei den irischen Truppen, und von Frau Moore sahen sie nichts. Nur kurz bevor die R.I.C.-Kompanien erschienen, hörten sie sie in ein Zimmer auf der anderen Seite des Hauses gehen. Gegen elf Uhr kam die Gendarmerie, begrüßt von Hochrufen, in die sich heftiges Zischen mischte. Ein paar Abende vorher war öfters durchs Schlüsselloch in die Wirtshausstuben hineingeschossen worden, wo sie ihre Abschiedsfeiern hielten. Diese Feiern aber bedeuteten für viele von ihnen das Ende eines mehrjährigen Aufenthaltes in Irland. In Morans Wirtschaft hatte sich eine Schar von Polizeisoldaten versammelt, um der Wirtin eine Marmoruhr zu überreichen, als eine Kugel durchs Schlüsselloch fuhr und in der Ziffer 12 steckenblieb. Da aber die Uhr im übrigen keinen Schaden nahm, ließ man die Sache auf sich beruhen. Ihr Vorbeimarsch dauerte zehn Minuten, und nur ein deutlich hörbares Zischen mischte sich unter die Lebewohlrufe. Auch ein Stein verirrte sich aus einem Torweg heraus, aber was bedeutete das für Leute, die an Steinhagel von Walnuß- bis zur Fußballgröße gewöhnt waren! Ihre Gewehre hatte man nach Dublin vorausgeschickt, aber mit ihren Revolvern waren sie doch nicht ganz ohne Verteidigungsmittel. Das Pfeifen des Zuges hörte man nur schwach in dem Sturm, und das eigentümliche Gefühl eines Erlebnisses von geschichtlicher Größe bemächtigte sich der Stadt.

Dieses Gefühl steigerte sich fast zur Raserei, als die irischen Soldaten in Stärke von zweihundert Mann unter drei Hauptleuten um die Ecke bogen, ein Trompeterkorps an der Spitze; und als Punkt zwölf Uhr die irische Trikolore auf dem Polizeipräsidium gehißt wurde, gab es Leute, denen die innere Bewegung Tränen in die Augen trieb.

«Wenn wir doch nun eine neue Ära beginnen könnten, Herr Mac Cleary!» sagte Major Moore.

«Neunzig Prozent der Bevölkerung – Bauern, Arbeiter und Fischer möchten nichts lieber, Herr Major!» antwortete Barney.

«Und doch …!»

«Ja, leider!» sagte Barney bedrückt.


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