Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

 

1

Graublau und weiß, manche mit dunkeln Käppchen auf dem Kopf, ziehen die Möwen vom Meer her flußaufwärts in die Stadt, wo sich ihre schwerfälligen Leiber dicht über den Hausdächern leuchtend vom Wolkenhimmel abheben und der pfeifende Laut ihres Flügelschlags sich mit ihrem Kreischen vermischt und zu den Menschen hinunterdringt, die da hinter den winzigen Scheiben ärmlicher Dachkammern ihr Dasein verbringen. Und zwischendurch sitzen ihre großen, plumpen Leiber unbeweglich auf der Reling der Boote und Prahme unten im Fluß oder kreisen mitten unter den schwarzen Krähenschwärmen über der unerfreulichen Stätte westlich vor der Stadt, wo unstet treibende Rauchsäulen, die aus den ewig lodernden Flammen brennenden Unrats aufsteigen, von ihrer Gegenwart zeugen. Mitten in der Nacht lassen ihre Schreie droben im Halbdunkel mitunter den Wanderer flüchtig seinen Blick aufwärts richten; im Frühjahr aber und im Herbst ziehen ganze Schwärme von ihnen aus und folgen den Spuren der Pflüge, die es der Mühe für wert halten, den Wiesenboden umzuwenden, um die Vorsehung in ihrem Bestreben zu unterstützen, der Erde noch andre Dinge zu entlocken als immer nur Gras für Pferde und Mastvieh. Doch ziehen sie auch fort, um zu brüten.

Der Aristokrat unter ihnen ist die schwarze Seemöwe. Bei ihr allein haben Schnabel, Füße und Beine den Farbglanz roten Zinnoberlacks, und wenn sie sich, unbeweglich auf einem Bein ruhend, oben auf der Fahnenstange über der runden Granitterrasse niederlassen, die das eine Ende von Holdens dreistöckigem Hause krönt, wirken sie in ihrer schlechtweg porzellanenen Formvollendung wie Symbole von irgend etwas Unnahbarem. Christian Morgenstern sagt, Möwen sähen aus, als ob sie Emma hießen. Mag sein. Sitzen sie aber so da – selbst im Herbst, wo ihre Farben verblassen –, dann sind sie von einem Adel der Erscheinung, daß man sich gedrungen fühlt, um Entschuldigung für die Störung zu bitten, wenn man irgend etwas hissen will. In dieser Lage befand sich Kitty, als sie sich zur Teestunde mit einem Exemplar der irischen Trikolore unterm Arm durch die Luke hinauszwängte. Das Symbol oben auf der Fahnenstange rührte sich erst, als sie die Schnur losmachte. Es erhob sich würdevoll und glitt in einem Bogen über den Kai in den Fluß hinunter, wo es einen Fisch fing, bevor es sich auf einem der Kohlenprahme zurechtsetzte, denen der Krieg mit England Urlaub auf unbestimmte Zeit gegeben hatte.

Zurück blieb Kitty mit den ihr noch verbliebenen schwarzen Haarsträhnen, die ein Windstoß emporsträubte, und ließ ohne Zögern die Fahne am Mast hochgehen, entdeckte aber zu ihrem Ärger, daß die verkehrte Farbe, Orange, innen war und Grün außen, nahm sich jedoch nicht die Zeit, das zu richten. Das Hissen der Flagge sollte keine Demonstration sein, und sobald sie von einem Fenster in einer der südwärts gelegenen Parallelstraßen das Signal «Bahn frei» bekommen hatte, holte sie die Flagge wieder ein und verschwand damit durch die in Herrn Holdens Speicher führende Luke.

Hier saß zwischen Ballen von Wollstoffen, Kisten und Packmaterial Barney in seinem theologischen Aufzug und ölte einen Revolver von schwerem Kaliber. Er sah nicht auf, sondern fragte zerstreut: «Und kann man sich auf ihn verlassen?»

«Absolut!» entgegnete Kitty. «Sehr merkwürdig, daß du Jimmy Malone nie kennengelernt hast. Es ist noch lange nicht sein Hauptvorzug, daß er ein Krüppel und deshalb unverdächtig ist. Die Schwarzbraunen scheuen sich bekanntlich vor nichts und würden sich ein Fest daraus machen, ihn aus Versehen niederzuknallen. Sie begehen ja fast alle ihre Morde ‹aus Versehen› und ‹wegen Fluchtversuchs› und ‹in der Notwehr›. Das Phänomenale an Jimmy ist, daß ihn die Politik hierzulande nicht mehr interessiert als ein Kinobrand in Japan oder ein Putsch in Mexiko. Die ganze Welt interessiert ihn. Er ist faktisch ein kleiner Heiliger und liegt höchstwahrscheinlich ganz still da und – liebt die Engländer …»

«Strenggenommen steht ja auch geschrieben, daß wir – unsre Feinde lieben sollen und so weiter …»

«Süßer Barney, es ist früh genug, dich darauf zu verlegen, wenn erst einmal die Pfarrer den Anfang gemacht haben … und auf der Seite gibt's keinen Christi Himmelfahrtstag. Die von ihnen, die ich getroffen hab, haben das grade zur Not noch gepredigt. Und weiter nichts.»

«Nun, das ist ja schließlich auch keine von unseren schlimmsten Sünden.»

«Nein. Das ist ein wahres Wort. Aber Jimmy … weißt du, zu ihm kommt eine ganze Auslese der interessantesten Gegensätze, die man sich nur wünschen kann. Und sie kommen, wenn sie ganz parterre mit ihrem Humor sind, und das einzige, was sie verlangen, ist, daß Jimmy seinen Humor oben behält. Von seiner Photographiererei abgesehen, hat er ja auch nichts andres zu tun, außer Zeitunglesen. Und er weiß sicher mehr als jedes bessere Blatt. Kommt doch sogar der Oberste von der ‹Tribüne› hie und da auf einen Sprung, um bei ihm einen Wink über dies und das zu kriegen, was ihm aus der Gedächtnisschachtel gefallen ist. Stammgast bei ihm ist auch der Holländer van Dingsda. Unter uns gesagt, hat er mir meine Revolver verschafft.»

«Für mich hatte er keine!» bemerkte Barney.

«Er kann ja nicht ganz Irland damit versorgen. Im Augenblick steht er mit Deutschland in Verbindung. Seine einzige Sorge ist nur, daß, wenn er die Sachen mit vieler Müh so weit hat, nicht ein paar Irländer beim Einschmuggeln des Schießzeugs Dummheiten machen.»

«Es soll ja eine neue Ladung unterwegs sein irgendwo – norwegisches Schiff. Der Fehler ist, daß wir keine richtige Fischerflotte haben. Fischkutter und Barken können sich am allerehesten mit so was befassen, ohne Verdacht zu erregen. Wer kommt denn sonst noch hin?»

«Wer kommt nicht hin?» sagte sie und zuckte die Achseln. «Vater Billy kommt, seit sie ihn mundtot gemacht haben – armer Billyvater –, wo soll er sonst Geld herkriegen für einen Schoppen!»

«Er könnte sich ja die Schoppen verkneifen. Bessere Leute als er müssen das. Wenn er weniger gesoffen hätte, wäre er nicht suspendiert worden.»

Sie stellte sich neben ihn, stemmte die eine Hand in die Hüfte und unterstrich ihre Sätze mit einem Revolver, den sie in der andern Hand hielt: «Weißt du übrigens, was das in Wirklichkeit besagen will, ein suspendierter Pfarrer in Irland zu sein? Was das heißt, sich vormittags um elf Uhr in Onkel Toms Hütte zu stehlen wegen eines Glases Whisky und dann dazustehn und zu schwatzen, ununterbrochen und nur zu dem Zweck, das Bezahlen zu vergessen? Weißt du, was das bedeutet, wenn die Leute dann hinter einem reden, und zwar so laut, daß man's hören kann: ‹Soso, auch da! … Das ist Vater Billy … Suspendierter Pfarrer, verstehst du!› Oder täglich so zehn, zwanzig früheren Kollegen zu begegnen … ein gutes Teil junge Schnösel darunter, die nie, weder so noch so, in Versuchung gekommen sind; und die nehmen ihn beiseite und empfehlen ihm, da oben hinaufzuziehen ins Kloster auf dem Mount Melleroy zu den andern Trunkenbolden! Diese verdammten Pharisäer, diese verdammten!»

«Kommt noch sonst jemand hin?» fragte Barney, ungerührt.

«Hab ich dir doch schon gesagt! Zum Beispiel ein ehemaliger Soldat aus Indien … glühender Imperialist …»

«Das werden wir ihm schon abgewöhnen. Keine Sorge!»

«Er ist Invalide, kleiner Barney … Den läßt du besser in Frieden!»

«Was fehlt ihm denn, wenn man fragen darf?»

«Kein Mann mehr.»

«Das genügt … Also zeig mir die Menagerie! Aber ich muß schon sagen: Man kommt zuzeiten in sonderbare Kreise. Auch eins von den Opfern, die man auf dem Altar des Vaterlandes zu bringen hat.»

Sie steckte den Revolver in ein Futteral in ihrem Unterkleid, sah auf die Armbanduhr und sagte: «Es wird auch Zeit. Folg mir mit zwanzig Schritt Abstand und sei höflich zu Jimmy. Sein kleines Herz ist wetterhart und sonnverbrannt von all den Eindrücken, die aus der ganzen Welt auf ihn eindringen … Und vergiß nicht, daß er hundertmal klüger ist als du … und tausendmal besser!»

Bevor sie sich auf den Weg machte, rief sie das Hauptquartier der R.I.C. an. «Hallo! … Hier städtische Wasserwerke! Wir haben einen Rohrbruch in einem Hauptstrang und müssen im Lauf einer Stunde die ganze Leitung sperren. Wollen Sie bitte ausreichend Wasser für heute nacht und morgen vormittag entnehmen! …Vielen Dank! Tut uns leid, Sie bemühen zu müssen.» Am nächsten Tag hörte sie, daß die Guten Bütten, Badewannen, Eimer und alles, was nur irgendwie Wasser halten konnte, hatten vollaufen lassen.

«Es ist bald unmöglich, noch jeden Tag was zu finden, womit man sie foppen kann», sagte sie, während sie sich hinten aus dem Hause schlichen. «Man muß alles mitnehmen, selbst das Kleinste!»

 

2

Sie trafen Vater Billy auf der zu Jimmy Malone hinaufführenden Treppe. Er begrüßte Kitty als alte Bekannte, Barney aber mit einiger Scheu, und machte auf der Treppe so unterwürfig Platz, als wolle er sich gewissermaßen dafür entschuldigen, daß er sich erdreistete, so viel Raum einzunehmen. Ein mundtoter Geistlicher ist ein Mann, dem die Kirche sozusagen die Zunge herausgeschnitten hat. Das einzige, was sie ihm noch gelassen haben, ist der steife Kragen, und der trägt sich unter solchen Verhältnissen unbequemer als ein Halsband.

Und wer war schuld an dieser tiefen Herabwürdigung? Kein andrer als Robert W. Service mit seiner Behauptung, daß unglaublich wenig Wasser dazu gehöre, einen Whisky zu verschandeln. Er hat viele Gesinnungsgenossen in Irland, und Vater Billy hatte schon auf dem Seminar zu ihnen gehört. Nun aber war er so weit gelangt, daß er über seine Jämmerlichkeit spaßen konnte, wie eben Leute ihre Laster bewitzeln oder ironisieren, um auf diese Weise den andern den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Als er jetzt dem jungen Paar begegnete, kehrte er um, um ihnen wieder in Jimmys Stube zu folgen, die neben dem Photographenatelier lag, das Jimmy mit einer Hilfskraft betrieb, und aus dem er seine Nahrung zog. Der Aufgang war mit dicken Läufern belegt, so daß man keinen Fußtritt hörte. Desto deutlicher hallte die Stimme des Pfarrers durch das Stiegenhaus: «Das ist es ja, was ich immer sage, Kitty! Mein Gedächtnis ist wie eine Hosentasche mit einem Loch drin. Größere Dinge wie Hausschlüssel und ähnliches fallen nicht durch, aber … Der langen Rede kurzer Sinn ist, daß ich mich nicht erinnere, den Herrn schon früher gesehen zu haben. Und er ist doch hier draußen vor der Stadt geboren und ist protestantischer Geistlicher! Wenn ich nicht ein alter zuverlässiger Rebell wäre – du kennst mich doch, Kind – könnten wir da nicht ein Kompromiß schließen und ihn zum Bälgetreter machen?»

Barney, der weniger Sinn für Humor als der Durchschnittsirländer besaß, fuchtelte Vater Billy mit seinem Revolver unter der Nase herum und rief: «Hör auf! Entweder bist du mit von der Partie, und dann haben solche Späße keinen Zweck, oder du bist es nicht, und dann säßest du besser irgendwo anders, wie weiland Jonas im Walfischbauch …»

«Ich träume als Kind mich zurücke!» zitierte Vater Billy. «Ach, du bist auch einer von denen, die Wiegen leeren und Friedhöfe füllen. Nun, jedem Narren seine Kappe! Aber nimm einen Rat an von einem, der dafür bezahlt hat und ihn dir gratis gibt … wenn er auch sonst gern bargeldlos einkauft. Schau mein Gesicht an, schau, wie es glänzt von zwanzig Judasküssen, und glaub mir, die Politur hält sich gut. Dafür wird gesorgt! Und, was ich sagen wollte: du solltest es dir abgewöhnen, den Revolver zu ziehen, bevor es nötig ist … Und ziel nicht auf Leute, die dir gradheraus sagen, daß so eine Verkleidung ein Unsinn ist. Im übrigen hab ich, das heißt, nicht ich, sondern ein Bekannter von mir, eine Botschaft für dich. Du kennst dich ja aus am Fluß …»

«Ja, und was weiter?!»

Der Pfarrer nahm ihn beim Rock und hielt ihn zurück, während Kitty in das Zimmer des Photographen vorausging. «Ein Schiff mit sechs, sieben Mann Besatzung plus einem Irländer soll den Fluß raufschwimmen. Sie kommen von Hamburg und haben so viel Maschinengewehre oder wie Ihr das nennt, an Bord, daß Ihr eine Zeitlang Spielzeug genug habt.»

«Wann sind sie denn zu erwarten?»

«Jeden Augenblick. Und dort, wo der Fluß sich teilt, biegen sie nach rechts ein in einen alten, halb zugewachsenen Kanal … kennst du ihn?»

Barney bestätigte das mit einem Kopfnicken. Die Beschreibung war sehr deutlich.

«Sechshundert Meter kanalaufwärts gibt's einen Platz, der Brückenmühle heißt. Aber da ist keine Brücke und keine Mühle, hingegen gute Deckung unter einem mit Bäumen bestandenen Hang. Wenn man nun einer Hecke entlang so etwa … na, ein gutes Stück hinaufgeht, kommt man an einen verfallenen Hof, wo ein Mann wohnt, und dieser Mann heißt Löwenmähne, weil sein Vater ein Kahlkopf war.»

«Zuverlässiger Mann», warf Barney dazwischen. «Du bist gut unterrichtet.»

«Zu gütig, Euer Gnaden, zu gütig! Er ist nicht bloß zuverlässig – das bist du vielleicht auch –, sondern wenn der als Vogel zur Welt gekommen wäre, hätte er sich sein Nest in der Tasche einer Vogelscheuche gebaut; so einer ist das. Der Mann hat einen hübschen Vorrat an Benzin und Öl für die Lastautos, die die Sachen weiterbringen sollen. Auch ist er mit Speck, Eiern, Tee, und was man sonst für Wartezeiten braucht, gut eingedeckt. Geh heut abend mal raus!»

Barney nickte. Das kam ihm sehr gelegen. Das einzige Problem war, wie er nun noch einmal die Kleider wechseln könnte.

Bevor sie hineingingen, faßte ihn Vater Billy vertraulich am Arm und sagte: «Noch eine Frage, junger Mann … ich bin heut nicht so ganz auf der gewohnten Höhe … wie ein Dieb bei Tag … Könntest du dir nicht vorstellen, daß zum Beispiel du mir ein paar Kreuzer pumpst?» Er ließ den erhaltenen Betrag in der Westentasche verschwinden und sagte, grade falle ihm ein, daß er eine Verabredung habe.

 

3

Als Barney sich an das Dämmerlicht in der Stube gewöhnt hatte, konnte er doch von Jimmy Malone nichts anderes als zwei blitzende Augen sehen, die in einem bleichen Kindergesicht saßen, das unter einer Wolldecke hervorlugte. Gleich darauf fühlte er eine Kinderhand in seiner Rechten, und eine Stimme sagte: «Na, da sind Sie ja! Also Sie sind der Herr Mac Cleary, von dem man zuweilen hört, daß er erschlagen worden ist. Sie gehören zu den Leichen, die nicht ruhig liegenbleiben wollen. Genau wie ich. Wir lassen uns eben nicht unterkriegen.»

Ein helles Lachen verkündete, wie köstlich er die Idee fand, der Vorsehung immer wieder ein Schnippchen zu schlagen, und seine Stimme fuhr fort: «Wahrscheinlich hat Ihnen Kitty von mir erzählt … Sie pflegt ja zu sagen, mein Herz wäre wetterhart und sonnverbrannt von all den Eindrücken, die von draußen her zu mir kommen. Ja, ja. Sie dürfen mir's glauben, lieber Freund – ich darf Sie wohl Freund nennen –, ich komme aus dieser Stube nur, wenn sie mich einmal im Jahr ins Krankenhaus bringen. Gleichgültig, was mir fehlt – wenn Sie mich sehen könnten, würden Sie ein klein bißchen von einem Körper erblicken, so dünn, daß man kaum seinen Augen traut. Hintendrauf sitzt ein Buckel … Ja, ja, Kitty, schon gut, aber wozu das Ding schöner machen, als es ist! Zur Entschädigung dafür ist mein Kinn nicht größer als ein Mückenstich. Darum kann ich mir, wenn ich Lust hab, das Rasieren ein paar Tage lang sparen. Ich bin der glücklichste Mensch von der Welt. Nur wenn ich ins Krankenhaus muß, nimmt mich das etwas her, denn dort werd ich in Gips gegossen und eingewickelt wie eine Mumie. Sie haben keine Ahnung, wie blödsinnig das ist, wochenlang so dazuliegen ohne die Möglichkeit, alles zu verfolgen, was in der Welt vorgeht, wie ich's hier daheim gewohnt bin. Was halten Sie von der Lage in China? Glauben Sie, daß Wu-Pei-Fu die Sache schmeißt? … Soso, Sie verfolgen das nicht so genau? Ich glaub es gern. Kann auch nicht so leicht sein für einen, der selbst auf dem Kriegspfad ist. – Eine wunderliche Welt!», fuhr er in seinem Selbstgespräch fort. «Ihr lauft draußen herum und handelt, ohne eigentlich groß zu wissen, was geschieht, und ich liege hier vollständig müßig, und die ganze Welt kommt zu mir herein. Das ist manchmal eine schreckliche Schererei. Wenn einer zu euch kommt und sagt: ‹Jetzt ist wieder mal der Teufel los zwischen den Serben und den Kroaten›, könnt ihr ruhig antworten: ‹Das geht uns nichts an, wir haben genug mit unserer Sache zu tun›. Wenn aber, wie heute, ein kleiner Vogel aus Rußland geflogen kommt und sagt: ‹Scheußliche Geschichte das mit Lenin, Jimmy! Er ist richtig krank – Kehlkopfkrebs, heißt es. Wenn er nun stirbt, bevor wir die Sache richtig in Schwung gebracht haben – kannst du uns vielleicht sagen, wie das dann gehn soll?› … Nun, ich hab kürzlich einen gefragt, was er zu dieser Frage meinte, und da steh ich nun vor etwas absolut Unverständlichem. Er sagte nämlich, und zwar ohne daß er sich im geringsten zu genieren schien: ‹Lieber Gott!› sagte er, ‹des Schweines Ende ist der Wurst Anfang, wie der Deutsche sagt, und so wird hier auch noch was nachkommen. Ich bin selbst in Rußland gewesen, oft, viele, viele Male, tausendmal. Sie wissen ja: die Bauern, die trinken Tee aus Samowaren und tanzen und verhauen am Freitag abend manchmal ihre Weiber, und so weiter. Und die Arbeiter, die ziehen in ihren Hemdblusen am Abend die breiten Straßen hinunter und rauchen Zigaretten, und die Mädchen tragen Kopftücher und haben sanfte Augen.› Nun sage ich zu dem Betreffenden: ‹Alle diese Leute sind es gewohnt, ein Väterchen zu haben, das hieß früher, wie Sie ja wissen, Zar, und nun haben sie ein Väterchen, das heißt Lenin. Von den hundertundsechzig Millionen Russen aber sind hundertfünfundfünfzig sehr froh, wenn sie ein Väterchen haben, das die Dinge für sie besorgt. Wenn es nun stirbt und vielleicht kein Richtiger da ist, zu dem alle miteinander wirklich Vertrauen haben – ja, was geschieht dann›, frag ich den Mann, ‹wenn von neuem ein Bürgerkrieg ausbricht?› Und was sagt er nun drauf mit der größten Gemütsruhe? ‹Entweder frißt der Hund die Sau oder die Sau den Hund – das ist gehupft wie gesprungen!›»

Aus einem Winkel, der die ganze Zeit über spärlich von einer zweifellos mit Zehnpfennigknaster gestopften Pfeife illuminiert war, kam eine Stimme: «Darf ich auch einen Augenblick was sagen, Jimmy? Dank schön, Herr Lehrer! Ergebensten Dank! Setzen wir einmal den Fall, zwei Russen im ganzen hätten eine ungefähre Ahnung, wo Irland liegt und was es ist, und sie erführen nun, daß die Engländer hier ein paar Tausend totgeschlagen und daß wir auch einige von ihnen erwischt haben, glaubst du, die Russen würden deswegen nur eine Nacht schlechter schlafen? Ich war sechzehn Jahr lang Soldat in Indien und kenn die Welt, und ich kann den bekannten und unbekannten Anwesenden hier versichern: wenn es etwas gibt, was das internationale Wohlbefinden ganz wenig stört, so ist das Irland!»

«Darf ich in Klammern auch eine Bemerkung einflechten?» sagte eine ansprechende Stimme in tadellosem Englisch.

«Schieß los, Holländer!» riefen zwei oder drei.

«Also, ich möchte nur sagen, daß man in der Welt ringsum größtenteils der Anschauung ist, daß es eine ziemlich unerquickliche Geschichte ist, auf die sich die Engländer hier eingelassen haben. Im übrigen aber ist, soweit ich das beurteilen kann, der allgemeine Eindruck der: wenn die Irländer keinen äußeren Feind haben, gegen den sie losziehen können, dann fahren sie sich gegenseitig in die Haare. Sie bilden sich ein, sie würden an dem Tag, wo sie einmal ihre Republik haben, glücklich. Nichts verkehrter als das! Sie sind glücklich, solange sie was haben, worüber sie sich unsinnig aufregen und wofür sie raufen können.»

«Also sprach Zarathustra!» rief der indische Soldat lachend. «Gib ihm eins drauf, Jimmy! Jedenfalls aber kann man ihm nicht nachsagen, daß er ein Speichellecker wäre.»

Jimmy Malone seufzte, daß man es unten auf der Straße hätte hören können, und entgegnete mißmutig: «Das ist ein plumpes Urteil, ein Urteil ohne Beine, ein Boxer ohne Arme. Und es geht ganz an dem vorbei, wovon ich ausgegangen bin. Ich rede von der Welt, die zu mir kommt und mich in meiner Stube aufsucht, und ihr seid natürlich gleich wieder in Irland und bei der irischen Frage. Wenn ich von der Hundeplage in den Städten anfange, darf ich sicher sein, daß ihr mit dem Osteraufstand und all den Sachen endet, die sich dranschlossen. Wenn es mich rein wissenschaftlich interessiert, daß ein gesundes Kaninchen sechsundvierzigtausend Haare auf dem Quadratzoll Haut sitzen hat, dann weiß ich, daß ihr binnen fünf Minuten so oder anders bei dem Waffenschmuggel von Howth landet – der übrigens eine ganz flotte Leistung war, rein technisch aber noch besser hätte geschmissen werden können. Aber was meint denn der Herr Mac Cleary zu all diesen Fragen?»

«Ich meine: bevor wir nicht die Engländer aus den zweiunddreißig Grafschaften raus haben, braucht sich kein Irländer um fremder Leute Geschäfte zu kümmern. Ein Soldat hat mit der Schmetterlingsjagd zu warten, bis er seinen Stahlhelm abgeliefert hat. Was aber den Holländer betrifft, so sagt er nicht immer das gleiche über die Irländer.»

«Das stimmt nicht!» warf dieser ein.

«Freilich stimmt's. Es ist noch gar nicht so lange her, daß Sie bei Onkel Tom gesagt haben: der Bürger O'Brien ist ein gutmütiges und zahmes Tier, solange er genug zu fressen und das nötige Geld für einen Schoppen hat …»

«Soll ich das wirklich gesagt haben?» bemerkte der Holländer verblüfft.

«Jaja, das klingt überaus holländisch!» versetzte der indische Soldat in einem Ton, als ob er seinerseits nicht im geringsten daran zweifelte.

Das Gelächter, das dieser Bemerkung folgte, dröhnte wie ein Hagelschauer auf einem Blechdach, und als es vorüber war, sagte Jimmy Malone: «Wie sind Sie eigentlich dazugekommen, auf die Walze zu gehen, Herr Mac Cleary? Sie sind hier unter Freunden und können frei von der Leber reden.»

«Genau wie so viele andere», entgegnete Barney. «Die Geschichte ist rasch erzählt.»

 

4

«Ja, mir hast du auch noch nie erzählt, wie du zur Bewegung gekommen bist!» bemerkte Kitty.

«Sintemalen wir noch nie viel miteinander gesprochen haben, ist das nicht besonders merkwürdig. Wie kommen wir in sowas rein? Wie kommen wir zur Bewegung? Wir müssen ja dazu – früher oder später.»

«Du bist aber spät gekommen, findest du nicht?»

«Tja – der Beruf liegt mir nicht sonderlich. Aber vor einem Jahr ist was passiert, und da fand ich …»

Der Holländer benützte eine kurze Pause dazu, das Feuer zu schüren.

«Wir lagen und schliefen – wir waren zu viert im Haus: mein Bruder Thomas, meine Schwester Jane, Mutter und ich. Es war ungefähr um eins in der Nacht und ein schneidender Wind. Den haben wir später in der Nacht zu spüren gekriegt. Tom sitzt jetzt auf unserm Hof, Jane ist in Amerika und die Mutter tot. Wir hatten so zwei, drei Stunden geschlafen, als mich ein paar Stimmen weckten, die auf das Haus zukamen, und gleich darauf ballerte es an die Tür: Aufmachen! Aufmachen! Nun wußte ich, was es geschlagen hatte, und ging und schloß auf. Da gibt's nichts anderes, das wißt ihr ja auch. Ein Haufen Kerle von den Hilfstruppen drängten sich herein. Sie hatten Quasten an den Mützen und die üblichen Revolver in der Hand. Die ersten vier packten mich, einer riß einen Zaum und einen Strick von der Wand herunter, und sie banden mir gleich vorm Herd die Arme. Später kriegte ich noch einen Strick um den Hals.»

Er machte eine Pause, und Kitty fragte: «Was für eine Schlinge? Scharfrichterschlinge oder wie?»

«Feste Schlinge», entgegnete er. «Noch drei, vier Tage lang war mir der Hals schwarzblau bis unter die Ohren rauf, und das Wasser lief mir nur so aus den Augen. Wenn der Strick straff wurde, spürte ich, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. So stand ich dreiviertel Stunden, zwei Mann bewachten mich, während die andern das Haus durchsuchten. Sie hatten mich so angebunden, daß ich nicht ganz in der Luft hing, aber grade nur noch mit den Fußspitzen den Boden berührte. Und jedesmal, wenn ein Engländer vorbeikam, kriegte ich einen Stoß. Das tat verdammt weh. Im Nebenzimmer wurde mein Bruder genau so behandelt, nur mit dem Unterschied, daß sie ihn mit einer Reitpeitsche verdroschen. Ja, sie sorgten für Abwechslung … Was er verbrochen haben sollte, wußte mein Bruder nicht. Wer einen Bruder hat, kann sich denken, wie einem zumut ist, wenn man hilflos dahängt und zuhören muß, wie er ausgepeitscht wird …

Drinnen bei Mutter und meiner Schwester kehrten sie das Unterste zu oberst und kommandierten schließlich Jane aus dem Bett heraus. Im bloßen Hemd mußte sie ihnen was zu trinken holen. Drei Flaschen Porter waren im Haus. Die haben sie bekommen und fünfzig Pfund, die meine Mutter in Verwahrung hatte, weil Jane doch bald nach Amerika reisen sollte. Auch Tom nahm einer drei Pfund weg, die er in der Tasche hatte. Tom rief wütend: ‹Her damit! Das ist mein Geld.› Der andere aber sagte: ‹Das stimmt; es war deins. Jetzt ist es meins. Für einen Schoppen hie und da!› Als sie endlich mit Plündern fertig waren, wobei ein neues Fahrrad, ein Sattel, fast alle unsere Kleider, das Schuhzeug und vieles andere verschwand, gaben sie uns fünf Minuten Zeit, uns anzuziehen. Aber es gab nicht mehr viel anzuziehen. Ich fand noch eine Hose, ein Paar Arbeitsstiefel und eine von Mutters Blusen. ‹Nun hast du noch zehn Minuten, sag den Weibern Lebwohl!› sagte der Anführer; und das tat ich. Draußen stellten sie uns an eine Mauer, und die meisten von ihnen pflanzten sich in einer Reihe vor uns auf, wie bei einer militärischen Hinrichtung. Schließlich führten sie uns ein Stück den Weg hinauf, da hielten zwei Lastautos. Ich kam auf das eine, mein Bruder aufs andere, und so fuhren sie ein paar Meilen mit uns. Da hielt das Auto, auf dem ich lag, und das zweite fuhr einen Seitenweg hinauf, um ein anderes Haus zu plündern. Als es weg war, sagte einer zu mir: ‹Jetzt lauf, das ist deine einzige Chance!› Aber ich kenn das schon und antwortete, er sollte mich lieber gleich hier auf dem Wagen totschlagen … Nachher sagte ein andrer, er wollte mir zwanzig Meter Vorsprung geben. Aber ich kenn das und sagte: ‹Ihr könnt mich doch gleich hier auf der Stelle totschlagen.› Aber das kommt ihnen nicht sportsmäßig genug vor, und wenn sie einen zum Laufen kriegen, können sie auch ruhig sagen, sie haben ihn beim Fluchtversuch erschossen. Wie oft hat man das nicht schon gehört! Zuletzt haben sie mich aber doch losgelassen, und ich kam ungefähr gleichzeitig mit Tom heim. Einen Monat später brachten sie dann uns beide in ein Gefangenenlager … und so … ja ja, das ist also die Geschichte. Rasch erzählt, wie ich euch gesagt hab.»

 

5

Das war nun so ein Tag, wo die Welt gleich haufenweise zu Jimmy Malone in die Stube kam. Und da er das, was für andere nur eine Episode unter vielen war, mit ganzer Seele durchlebte, dauerte es eine Weile, bis er etwas sagen konnte. Das letztemal, wo es ihn ganz toll gepackt hatte, war der Tag gewesen, als Löwenmähne draußen aus Brückenmühle mit der Nachricht angekommen war, er hätte auf seinem Morgenweg längs der Hecke einer Viehweide neun Leichen in einer Reihe liegend gefunden. Das war ihm so in die Glieder gefahren, daß er für den Tag die Arbeit hatte sein lassen und in die Stadt gegangen war, um dort einiges zu besorgen und Jim zu begrüßen. Löwenmähne war selbst ein Stück von einem Philosophen, und mag es vielleicht etwas zuviel gesagt sein, daß er – gleich dem kleinen Franziskaner – gelernt hätte, Gott für «gutes Wetter und schlechtes Wetter und jedes Wetter» zu danken, immerhin hatte er gelernt, seinen Mund übers Wetter zu halten. Schon das ist ja ein gewaltiger Fortschritt. Er beteiligte sich auch nicht an dem Wehgeschrei über das Pech des Metzgergesellen Hanlon, der sich eine Blutvergiftung im rechten Arm zugezogen hatte, was Hanlon übrigens nur zum Vorteil diente; denn er mußte nun notgedrungen eine Pause einschalten und konnte so ein bißchen über das Labyrinth des Daseins nachdenken. Löwenmähne kannte auch nicht den als Begeisterung maskierten Neid darüber, daß die Zeitungs-Anastasia beim Birminghamrennen fünftausend Schillinge gewonnen hatte, was sie wohl nur noch knickeriger machen und ihr den Nachtschlaf vollkommen ruinieren würde. Löwenmähne mischte sich überhaupt nicht in das Walten der Vorsehung ein, sondern suchte in schweren Augenblicken, gleich so vielen anderen, Jimmy auf. Und der fast körperlose Mann lag da und erfuhr so alle Erfahrungen der andern – ihre Freuden und ihre Kümmernisse. Ein Mann, dessen größte turnerische Leistung es war, an einem Stock mit Gummipfropfen ins Atelier hinüberzuwanken. Es fiel Jimmy niemals ein, daß auch in ihm etwas wie Heldenmut stecken könnte. Er lag nur da und bewunderte alle, die unter Mühe und Plage unterwegs waren und um Irlands willen andre kaltmachten. Und draußen in der klugen und ewig unzufriedenen Welt liefen Leute herum, schlank und schön wie die Weihnachtskerzen, und wollten den Leuten weißmachen, daß eine gesunde Seele nur in einem gesunden Körper hause.

Bald nachdem Barney Mac Cleary mit seiner Erzählung fertig war, bat Jimmy Kitty, bevor Licht gemacht würde, noch ein Gedicht vorzutragen. Sie sprach eins ihrer Lieblingsgedichte, Masefields verhaltenes:

«An Freunden nicht einen erworben, an Gütern nicht eben viel;
Bleibt uns als Hoffnung der Himmel, wenn wir einmal am Ziel.»

Es war, als senke sich eine Kuppel herab, die alle Laute von der Straße her ausschloß und das Ticken der Uhr lauter und das Geräusch hörbarer machte, mit dem Jimmys Zwergpintscher Nero unter den Bewohnern seines Pelzes Musterung hielt.

Bevor Barney den indischen Soldaten heimbegleitete, um sich bei ihm ein paar andere Fetzen anzuziehen, ehe er den Weg zu Löwenmähne hinaus antrat, ging Kitty in die Küche und kochte Tee. Denn ihr Hals, sagte sie, wäre so trocken wie ein Tintenfaß auf dem Postamt.

 

6

Als letztes hatte ihm Kitty, bevor sie sich trennten, gesagt: «Ich hab auch noch etwas mit ihnen abzurechnen, und das einzige, was mich beunruhigt, ist die Aussicht, daß wir vielleicht bald Frieden bekommen.»

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie rundheraus gesagt hätte, was für Außenstände sie persönlich noch bei ihnen hatte. Sachlich betrachtet, können sich Andeutungen nun einmal nicht mit Tatsachen messen, und das beunruhigte ihn. Indessen wurde dieser Eindruck durch die Erinnerung an Jimmy Malone verdrängt, wie er da in seinem Stuhl gelegen hatte, ein kleiner Mann mit weißen Händen und einem Körper, der, so sagte man, während seines Aufenthalts im Krankenhaus ausgesehen hatte wie ein Rohr von zwanzig Zentimetern Durchmesser, das als Frostschutz mit Bändern umwickelt ist. Beim Tee hatte er das Brot auf eine fast zärtliche Art kleingeschnitten, und während der ganzen Besuchszeit war sein Wesen von jener Bescheidenheit gewesen, die aus Überlegenheit entspringt und Leuten eigen ist, die zu warten und zuzuhören verstehen, weil sie den Wert der Dinge kennen.

Bombay, der indische Soldat, hatte höhnisch geäußert: «Was sie augenblicklich in Irland treiben, ist etwas, wofür es keinen Namen gibt. Soldatenhandwerk ist es nicht, Krieg ist ganz was andres. So schnurrig es klingen mag – Krieg kann ein verhältnismäßig reinliches Geschäft sein. Schlächterei ist es auch nicht, denn beim Schlachten gibt es bestimmte Vorschriften; und mögen die Engländer auch verschiedenes getan haben, was zu verantworten ihnen drüben verdammte Mühe kosten dürfte, so ist doch die Art, auf die man's der englischen Gendarmerie gemacht hat, eine Schweinerei, wie man sie außerhalb der christlichen Länder nicht findet. Die Dinge, um derentwillen die Jesuiten Leute öffentlich als Helden und Märtyrer feiern, sind oft so niederträchtig, viehisch und unbeschreiblich, daß die Sympathie, die in der Welt zu genießen wir uns beständig rühmen, schon längst verdampft wäre, wäre bloß ein Zehntel davon bekannt.»

Hierauf hatte Jimmy erwidert: «Ja, manchmal hängt sich eben Dreck an das Rad, das auf schwerem Boden arbeiten muß.» Eine Bemerkung, die Bombay nur ein: «Du bist zu gut für diese Welt, Jimmy!» entlockt hatte.

Beim Abschied hatte Barney von Jimmy einen grasgrünen Geldbeutel in die Hand gedrückt bekommen, den der Kleine selbst genäht hatte. Die Freude der Iren am Grün, der Farbe der Hoffnung, des Frühlings und der Galle, ist unzerstörbar, und Jimmy hatte seine Gabe mit der Bemerkung begleitet, da er unfähig sei, seine Sporen auf andere Weise zu verdienen, könne er immer leicht ein paar Stunden darauf verwenden, Hoffnungen und gute Wünsche in solche Kleinigkeiten mit hineinzunähen. Außerdem sei so was eine Abwechslung zwischen seinen endlosen Schachpartien, die ihm helfen müßten, etwas Abstand von der unruhigen Welt zu gewinnen.

Nach dem Besuch bei dem kleinen Photographen kam sich Barney schmutzig vor, so wie einer seine Unreinheit empfinden mag, wenn er einem unschuldigen Kinde die Hand gibt. Ein Besuch da oben hatte fast immer diese oder die umgekehrte Wirkung. Im Gegensatz zu Barney ließ sich Bombay zu der Bemerkung hinreißen, Jimmys Höhle sei eine Art Laden für «unsichtbare moralische Reparationen». Der kleine Photograph hatte ja immer dieses oder jenes Mittel gegen Niedergeschlagenheit bereit. Barneys Gewinst aus diesen Stunden aber war Unruhe, Unruhe darüber, daß er nicht weiterkam und nichts von dem ausrichten konnte, wozu er Lust hatte. In dieser Gemütsstimmung ging er mit Bombay heim, und dort kamen sie zu der Überzeugung, es wäre klüger, Barneys Besuch in Überfahrn auf morgen Abend zu verschieben, da der Mond dem Unternehmen dann günstiger sein würde.

Barney verbrachte den größten Teil des folgenden Tages damit, aus dem Fenster zu starren, während sein Wirt im Bett lag und las. Das Zimmer hatte zwei Fenster, eins auf die Teetopfgasse und eins auf den großen Marktplatz der Stadt. Der bildete, wie in den meisten irischen Städten, ein umfangreiches Rechteck, in dessen Mitte sich hier die Ruine eines bronzenen Sockels erhob, der einmal ein Denkmal getragen hatte. Dieses selbst war schon vor längerer Zeit in die Luft gesprengt worden, zweifellos weil es die politischen Gefühle einer zarten Seele beleidigt hatte, die in einem tatfreudigen Körper hauste. Was es in einem besonderen Grade der Mühe wert machte, den Tag an letztgenanntem Fenster zu verbringen, war die Tatsache, daß gerade gegenüber das Zentralgefängnis lag, und daß davor vom frühen Morgen an eine lange Menschenschlange stand. Diese Leute warteten, bis es dem Herrn Direktor genehm wäre, das Tor aufzutun und sie zu ihren Verwandten oder Bekannten hineinzulassen, die die Unruhe im Lande für eine Weile ins Loch gebracht hatte. Männer und Frauen standen und warteten geduldig. Stunde um Stunde. Ging man morgens vorüber, dann standen sie schon da, und kam man drei Stunden später wieder des Weges, dann standen sie immer noch da, ganz die gleichen müden Gestalten. Kinder brachten ihnen Butterbrote und warme Getränke, und sie blieben stehen … Wenn gegen Abend innen der letzte Riegel vorgeschoben wurde, zum Zeichen, daß die Besuchszeit für heute abgelaufen war, schlichen immer noch Dutzende von betrübten Leuten enttäuscht von dannen.

«Schrecklich, das mit anzusehen!» sagte Barney zu Bombay, der aufgestanden war, um Würstchen zu rösten, welche Arbeit er noch nie seiner Aufwärterin anvertraut hatte.

Bombay zuckte die Achseln: «Man sollte sich vielleicht schämen, es zu sagen, aber man gewöhnt sich verblüffend schnell dran. Wenn sie morgens antreten in ihren schwarzen Schals und mit dem Korb am Arm, gleichen sie sich von hier gesehen wie die Erbsen in einer Schote, und ich kann mich auch nicht rühmen, daß sie mein Gefühl stärker berührten als eine Schote voll Erbsen. Schnurrig, nicht?»

«Wie sie das nur aushalten!» sagte Barney. «Schließlich sind es doch ihre Söhne, Brüder und Männer, die da drin sitzen, und sie schweben in Ungewißheit über das Schicksal, das ihnen zugedacht ist.»

«Sie sind zäh und einfach nicht umzubringen», erklärte Bombay. «Wenn du hören könntest, was die miteinander schwätzen, würdest du mit deinem Mitgefühl sparsamer umgehn. Jedenfalls vermögen wir ihnen nicht zu helfen. Ich bin in der glücklichen Lage, dir einen der Hauptpunkte nennen zu können, die heute zur Erörterung stehen. Es ist eine Anzeige aus der gestrigen Nummer der ‹Tribüne›. – Laß mal sehn! – Jawohl! Hier haben wir sie schon:

‹Frau Kerry, früher in Habichtskluft, Australien, und ihrem Bruder Thomas Day (glaublich in hiesiger Gegend ansässig) wird hiermit anheimgegeben, sich mit Rechtsanwalt Magee hierorts in Verbindung zu setzen, um eine für sie erfreuliche Mitteilung entgegenzunehmen.›

Meine Wirtin war heute früh schon lebensgefährlich aufgeregt, weil niemand hier Frau Kerry und ihren Bruder Tom Day kennt und man sich ja leicht denken kann, was mit dem Erfreulichen gemeint ist. Geld, Herr Mac Cleary! Geld! Das dürfen Sie mir glauben. Es gibt doch keinen Irländer, der nicht davon träumt, daß ihm eines Tages eine liebliche Botschaft von einem Todesfall in den Vereinigten Staaten oder Australien ins Haus fliegt. ‹Hör von den Toten ein Lied!› wie Kipling so schön singt. Und die ganze Polonäse drüben ist genau so lebensgefährlich aufgeregt wie meine Wirtin.»

«Aber warum läßt man denn nicht mehr von ihnen rein?» fragte Barney.

«Ruf den Direktor an und frag ihn! Das einzige, was ich weiß, ist: das Gefängnis bleibt genau vier Stunden geöffnet, es werden immer zwei auf einmal reingelassen, und jeder darf eine Viertelstunde bleiben. Da kommen nicht viele dran.»

Als sie die Würstchen verspeist hatten, war Bombay im Zweifel, ob er sich ein Stündchen niederlegen und richtig ausruhen oder ob er in die Stadt gehen und sich nach dem Neuesten umhören sollte. Barney empfahl ihm letzteres mit Rücksicht darauf, daß heute keine Zeitung erschien. Die ‹Tribüne› kam, wie so viele andere irische Blätter, bloß zweimal wöchentlich heraus, im Augenblick aber nur einmal, und zwar Samstags, wenn sie nicht infolge eines Zensureingriffs damit bis Montag oder Dienstag warten mußte, ganz zu schweigen von dem Vorfall neulich, wo ein Buchdruckkundiger unter den Schwarzbraunen das Pech gehabt hatte, mit der Form zu stolpern, so daß der Satz durcheinanderfiel und neu hergestellt werden mußte. Bevor sich Bombay auf den Weg machte, richtete er sich nach feierlichem militärischen Ritual her. Den Schlußeffekt stellten zwei Schnurrbartspitzen dar, die so lang und dünn wie Zündhölzer in die Luft ragten. Dann zeigte er Barney noch einen geheimen Vorrat von drei Flaschen Porter und legte ihm ans Herz, eine davon zu verschonen. «Kennst du das Glück, wenn man am Morgen noch eine Halbe Bier entdeckt?» lautete sein Abschiedsgruß.

Während der Abwesenheit seines Gastgebers hörte Barney die Glocke des kleinen, ein paar Schritte weiter in der Teetopfgasse gelegenen Klosters. Der Anschlag der Glocke klang so zaghaft, als würde ihr Klöppel vom Wind und nicht von Menschenhand bewegt. Wenn die Grauen Brüder hierzulande die Glocken läuten, so heißt das, daß sie nichts zu essen haben, daß also einer oder der andere etwas für sie herrichten soll. In der Regel geschieht das auch, ja mitunter kommen sogar zu viele daher. Zu andern Zeiten wieder nimmt jeder an, daß schon «andre» das Nötige tun. Dann müssen die Mönche ihr Abendgebet hersagen und hungrig zu Bett gehen, um am nächsten Morgen wieder die Glocke zu läuten. Von den Jesuiten heißt es des öfteren, daß sie Achtung verdienten. Von den Grauen Brüdern aber hört man das nie. Sie werden geliebt. Barney mußte an die Zeiten denken, da Pater Aloysius zu ihnen ins Haus gekommen war. Pater Aloysius war jung, so um die fünfundzwanzig, mit einem Gesicht, licht wie das eines Heiligen, und so brachte er etwas Feiertägliches mit, wo er erschien. Einmal hatte Barney den alten Peadar Phelan gefragt, wie es wohl komme, daß diese Männer überallhin Freude und Frieden mitbrächten. Und da hatte Peadar nach langem Besinnen geantwortet: «Ich glaube, das liegt an den Händen, Barney. Die sind nie schmutzig geworden von Revolvern und von Geld. Ja, es liegt an den Händen.»

Die Glockenschläge erstarben, und andere Klänge wurden laut. Einmal rumpelte eine Abteilung Soldaten mit dem gewohnten Radau ins Haus. Im Flur warfen sie ihre Gewehre hin und durchsuchten die Stuben. Sie fanden unten nichts und fragten die erschrockene Wirtin, wer oben wohne, und als sie Bombays Namen hörten, sagte einer: «Den kenn ich … da fehlt nichts. Hat in Indien mit meinem Onkel im gleichen Regiment gestanden.»

Barney hörte dem allen zu wie einer, den das nichts anging. Dann zogen sie ab, und Bombay kam heim. «Da kannst du sehn, was ein guter Ruf wert ist!» sagte er mahnend. «Als sie das letztemal hier waren, saßen da zwei Burschen, die der Stadtkommandant rübergeschickt hatte. Die frechen Kerle hatten einfach ihre Schießprügel aufs Sofa gestellt, während sie hier an diesem Tisch Fünfundvierzig oder vielmehr Fünfundzwanzig spielten und unten die Schwarzbraunen rumorten. Alle sternhagelvoll vom Sprit, den sie irgendwo hier herum gestohlen hatten. Sie hatten Befehl, den Brigadegeneral unsers Bezirks zu fangen, tot oder lebendig – aber ja nicht zu lebendig. Sie stellten auch die Frage: ‹Wer wohnt droben?› Und Frau Hoban antwortete: ‹Herr Bombay.› Da sagten sie: ‹Wollen Sie Herrn Bombay unsere ergebensten Grüße ausrichten und ihm sagen, wir bedauerten sehr, ihm nicht die Hand drücken zu können. Wir müssen aber weiter und einem Brigadegeneral den Hals umdrehen.› Ja, ja, Herr Mac Cleary, die Bedeutung eines guten Rufes kann schwerlich übertrieben werden!»

Der Ertrag an Neuigkeiten war mäßig, und Bombay pries sein Glück, daß er nicht Journalist geworden war. Die Post nach Glengowla war zum dreizehntenmal geplündert worden und konnte daher so etwas wie ein Jubiläum feiern. Ein Jude namens Earne war draußen vor Aghacuma erschlagen aufgefunden worden, und ein auf seiner Stirn mit Siegellack festgemachter Zettel hatte die Worte getragen: «Nehmt euch in acht, Spione! I. R. A.» Dem Bronzestandbild eines Grafen in der einzigen städtischen Anlage hatte man den Kopf abgerissen und ihn in das Schaufenster des Manufakturladens von Holden geworfen, das tags zuvor von der Landmine zersprengt worden war. Der Schullehrer in Rotkreuz war zu einer Geldbuße von zehn Schilling verurteilt worden, weil er einen Jungen durchgehauen hatte, ohne das Urteil vorher vorschriftsmäßig, und zwar zehn Minuten vor seiner Vollstreckung, in die Strafliste eingetragen zu haben. Ferner war wegen der Maul- und Klauenseuche der Viehauftrieb nur gering gewesen und demgemäß der Marktpreis am Vormittag auf hundertsechzig Schilling für den Zentner gestiegen, was Bombay sehr ärgerte, denn er hatte keinen Zweifel daran, daß die Metzger das als Vorwand für eine weitere Preissteigerung benutzen würden.

Die Uhr war halb zehn, als Barney sich für die genossene Gastfreundschaft bedankte und die Stube mit ihrer behaglichen Wärme verließ. Statt über den Marktplatz zum Hafen hinunterzugehen, wählte er die etwas dunkleren Verkehrswege, deren spinnwebartiges Netz mit dem dünnen Faden der Teetopfgasse am Marktplatz befestigt ist. Wie Adern eines Blattes münden sie alle in die nächste größere Straße, die Schubkarrengasse ein, die aus triftigen Gründen im Munde der Bürger Khyberpaß heißt. Der Enge Weg, die Juden-, die Metzger- und die Buttergasse gehören zu den dunkelsten unter ihnen, gewinnen aber im Licht der Militärscheinwerfer eine geradezu herausfordernde Abenteuerlichkeit. Barney brachte sich schleunigst in Sicherheit, als er am Ende des Gerberhofbogens auf eine Patrouille stieß. Nachdem sie vorüber war, trabte er quer durch den Teich beim De la Salle-Gymnasium und lief weiter die Frühlingshöhe und die Verbandhausgasse hinauf, übers Hopfenfeld, um schließlich durch den Liebessteig auf den weniger poetischen Gaswerkweg zu kommen, der sein Ziel war. Das hatte ungefähr dreißig Minuten beansprucht, dafür zeugte jetzt das muntere Hornsignal, das die Polizeistunde verkündete und der Bürgerschaft warnend ins Gedächtnis rief, daß die Schwarzbraunen gleich wieder erscheinen und in der Stadt ausschwärmen würden, um Fußgänger, die sich nicht an das Zehnuhrgebot hielten, zu belästigen und gegebenen Falles zu verhaften. Mit dem Glockenschlag zehn begann die Jagd unweigerlich, und wer nach diesem Zeitpunkt eine Kugel in den Leib kriegte, konnte sich bei seinem eignen Ungehorsam dafür bedanken. Als Barney lautlos in den Fluß hinunterglitt, kam im Laufschritt eine Patrouille daher, das Gewehr in der Hand. «Merkwürdig!» sagte eine Stimme, während das Licht einer großen elektrischen Taschenlampe die Wasserfläche abtastete. «Ich hab doch gemeint, es wär einer hier.» – «Das macht das diesige Wetter!» sagte jemand andres. Doch nun erblickten die Soldaten eine Gesellschaft auf der Ladenseite der Kaigasse. Es waren Freimaurer, die verspätet aus ihrer Loge kamen. Freimaurer sind keine Katholiken und daher auch meistens nicht so fanatisch nationale Iren. Sie durften mithin unbehelligt passieren. Und nun fing es zu regnen an.

 

7

Die einzige Brücke über den Fluß war für Barney gesperrt. Selbst wenn er das unwahrscheinliche Glück hätte, an deren einem Ende unbehelligt an der Wache vorbeizuschlüpfen, so wäre es doch zu leichtsinnig gewesen, mit einer Wiederholung dieses Glücksfalles am anderen Ende zu rechnen. Es gab also keinen Ausweg, als hinüberzuschwimmen und sich dann bis zu einem Weg weiterzutasten. Es war zur Zeit der tiefsten Ebbe, als er sich ins Wasser gleiten ließ, und der Strom zog in wirbelnder Fahrt ostwärts zum Meer. Barney hatte die Strömung benutzt und lag schon in Deckung hinter einer Vertäuungsboje, als die Soldaten nach ihm suchten. Nun wußte er, daß er für heute nacht gerettet war. Eine kleine Stunde brachte ihn ein ziemliches Stück flußabwärts auf der andern Seite wieder an Land. Da es zu dunkel war, nach einem Weg zu suchen und dieser ohnehin nur ein hoffnungsloser Morast sein konnte, kroch er unter eine Persenning und versuchte zu schlafen. Das glückte ihm nur kümmerlich, und so brach er beim ersten Tagesgrauen landeinwärts auf und aß aus Mangel an anderer Nahrung von den Brombeeren, die am Wegrand vom Sommer her übriggeblieben waren. Damals mußten sie hier längs ein paar hundert Metern Weges in solchen Mengen gehangen haben, daß man in ihrem Saft eine Ziege hätte ersäufen können. Selbst jetzt im Herbst noch hingen sie massenhaft da, schmeckten aber so schlecht, daß Barney sie bald wieder hängen ließ.

Später am Morgen stieß er auf einen Bauern, der grade mit zwei Fudern dürren Farnkrautes in den Weg einbog. Nach Landesbrauch wurde jedes Fuder von einem kräftigen Gaul gezogen, von denen der zweite mit einem Zügel an den ersten Wagen gebunden war, und zwar so kurz, daß dieser dem Pferd vor die Brust stieß, als der Bauer auf Barneys Bitte, ihn mitzunehmen, anhielt.

«Auf der Walze?» fragte der Bauer verschmitzt lächelnd.

«Nein, ich lauf bloß, um Hunger fürs Mittagessen zu kriegen», antwortete Barney matt. Er war fertig.

Der Bauer bewies sein wohlwollendes Verständnis für die Lage mit einem verstohlenen Kichern und überließ dann den Wandersmann seinen Betrachtungen. Aber die waren träge, und die Landschaft glitt vorüber, ohne Eindruck auf ihn zu machen. Als er eine naßgeregnete zweisitzige Mähmaschine dastehen sah, dachte er bei sich: Die verdienen gar kein besseres Schicksal, diese Bauern, die über die Zeiten jammern. Wenn wir unseren Kampf jemals gewinnen, steht uns ein noch schwererer bevor, bis denen die Augen aufgehen. Wir müssen es ihnen abgewöhnen, die Landwirtschaft wie einen Sport zu betrachten und es für flotter zu halten, sie vom Pferderücken aus zu betreiben als vom Platz hinterm Pflug. Bauernarbeit war immer Plackerei, wird immer Plackerei bleiben, Plackerei und Knickerei. Da sollten sie dem dankbar sein, der ihnen die Scholle zur Nutzung gibt …

«Warst du gestern in der Stadt?» fragte der Bauer gähnend. «Ich meine, ob du weißt, wie hoch der Viehpreis stand?»

«Hundertsechzig Schilling der Zentner», antwortete Barney automatisch. Er erinnerte sich, daß Bombay ihm nach seiner Neuigkeitenexpedition so was gesagt hatte.

«Aha, steigt also», meinte der Bauer. «Aber wenig genug.» Barney wollte antworten: Und wenn ihr sechshundert kriegt, wird's immer noch heißen: wenig genug. – Aber er mochte nicht, sondern lehnte sich einen Augenblick zurück und sah über die nebligen Wiesenflächen mit den Bergen im Hintergrund hin. Und wieder einmal hatte er das Gefühl, als ob die Landschaft in diesen Zeiten der Bedrängnis schöner wäre als sonst. Doch war das nur ein Aufleuchten, er verfiel sogleich wieder in seine frühere Stumpfheit und erwachte erst aus ihr, als der Bauer sagte: «Willst du nicht einen Hengst kaufen, einen kräftigen jungen Hengst? Von so einem kannst du leben …»

«Ich halt mir nur Windhunde!» sagte Barney. «Das ist feiner.»

«Aber sicher ein schlechtes Geschäft zur Zeit», meinte der Bauer. «Meiner Schwester ihr Mann drüben in England hat auch eine Koppel, und die laufen öfters; aber es kommt nichts dabei raus. Womit fütterst du sie?»

«Madeira mit Ei, das gibt man den Hunden in Keksdosen.»

Barney überließ sich wieder seinen Gedanken. Und wieder war es der kleine Jimmy Malone, der da auftauchte. Und wieder das Atelier, wohin alle diese komischen Leute kamen: Vater Billy, der indische Soldat, der Holländer. Jimmy hatte gesagt: Es ist schon der Mühe wert, zu beobachten, wie sich Uniformen den Leuten in die Seele reinfressen. Augen auf vor Uniformen! Selbst vor den priesterlichen! Auch nur mit dem Revolver im Gürtel rumlaufen ist schon gefährlich! hatte Jimmy Malone gesagt … Und die Bauern müßten sich zusammennehmen, wenn sie gegen die Konkurrenz aufkommen wollten.

Und wieder riß ihn der Bauer aus seinen Gedanken und sagte: «Es hat gar keinen Zweck für dich, drauf zu spitzen, du kannst mit mir heim und kriegst was zu essen. Wir haben die Maul- und Klauenseuche und müssen sehr vorsichtig sein.»

Barney gab keine Antwort. Er hatte doch gar nicht darum gebeten. Wenn Barney gesprochen hätte, wäre der Bauer stumm geblieben. So aber reizte des andern Schweigen ihn zum Reden: «Hör mal, daß du deinen Windhunden Madeira mit Ei gibst – das ist doch Schwindel … oder nicht?»

«Ja!» sagte Barney.

Kurz darauf drehte sich der Bauer ganz zu Barney herum und fragte: «Du hast wohl überhaupt keine Windhunde?»

«Nein!» erwiderte Barney und war schon dabei, an seinem Gedankenfaden weiterzuspinnen, als ihn der Bauer wieder abriß und sagte: «Du erinnerst mich so an den alten Peadar Phelan von Rotkreuz! Die gleiche Art, den Mund zuzumachen – als ob ein Schloß einschnappt. Kennst du ihn?»

«Flüchtig!» warf Barney hin. «Es ist mein Großvater.»

Das schien den Bauern ganz lebendig und gradezu redselig zu machen: «Ja, Peadar Phelan! Das war der flotteste Bauer des ganzen Amtes, als ich noch ein Junge war. Wir wohnten damals draußen vor der Stadt, und an den Markttagen waren wir früh auf den Beinen, um die Marktleute zu sehen, die von weiter her kamen. Aber kein Markt kam richtig in Gang, bevor Peadar Phelan da war mit den schönsten Pferden vor seinem Wagen! Ja, damals gab's noch Märkte … Aber jetzt!» Barney entgegnete nichts darauf, und so begann der Bauer wieder: «Leider ist mir meine Haushälterin fort … Das geht mit den Dienstboten wie mit den Tonpfeifen: rauchen sich sauer, bis sie angeraucht sind. Und ist es so weit, dann hat man sie gesehn …»

Barney lag da und dachte an seinen Großvater, der bei zahllosen Gelegenheiten ein Lob für alles Ausgefallene gehabt hatte: kleine Sünder, kleine Heilige, kleine Riesen, große Zwerge … Traurig! Wahrhaftig! Der alte Peadar verlor seine Mägde nicht. Wenn er eine los sein wollte, mußte er sie vom Hof jagen. Und nun durfte er sein Lob von diesem Bauern anhören, in dem nicht mehr Kraft stak als in einem welken Rhabarberblatt …

Der Bauer fing wieder an: «Aber wenn du vorlieb nehmen willst, werden wir schon noch irgendwo einen Bissen für dich auftreiben.»

«Hast du nicht gesagt, ihr habt die Maul- und Klauenseuche daheim? Aber das war vielleicht auch Schwindel?»

«Ja», sagte der Bauer und bog vom Weg ab auf einen kleinen schmucken Hof zu, so einen mit drei, vier Kühen im Stall und vier oder fünf Pferden und einem Esel draußen auf dem Feld. Und Barney war es einigermaßen zufrieden, weil ihm das am bequemsten schien.

 

8

Da der Bauer seinen Gast nicht überreden konnte, über Nacht zu bleiben, tat er das Nächstbeste: er spannte seinen Hengst vor ein leichtes Wägelchen und fuhr ihn zu Löwenmähnes Hof hinaus, der wie ein Idyll der Verfallenheit in der Nähe des Kanals lag, des Königskanals, auf dem das deutsche Munitionsschiff einlaufen sollte. Der Hof war auf den Trümmern einer Kirche erbaut, von der noch hohe Mauern standen, die die Vorsehung schmückend mit Efeu und anderen Kletterpflanzen zugedeckt hatte. Solche Ruinen gibt es in Irland zu Tausenden; selbst in den Städten läßt man verlassene Häuser mit der größten Seelenruhe verfallen. Hier aber war nicht nur die Kirche eine Ruine, auch der Hof befand sich im Zustand der Auflösung; und würde es eines Tages jemand einfallen, an Stelle des alten einen neuen Hof hinzubauen – Löwenmähne konnte das übrigens nicht einfallen –, so geschähe das voraussichtlich auf den Trümmern des alten. Aber der Hof lag in seinen Lumpen mit der fröhlichen Selbstverständlichkeit da, mit der ein alter irischer Landarbeiter seine Knie aus den Hosen hervorsehen läßt, ohne daß das seinen natürlichen Anstand noch seine Gentlemanswürde irgendwie beeinträchtigt. Ringsum wuchsen selbstverständlich auch Palmen, die mit Sinn für das Malerische bedachtsam zu vier, fünf Gruppen geordnet waren. Und Fuchsienbüsche hatten sich gegen den Fluß hinunter weit in das Feld hinein verirrt, und ein Hain von gut zweimal mannshohen Rhododendren summte ein Lied zum Preise der Feen, die dem Lande solche Fruchtbarkeit, Milde und Lieblichkeit beschert hatten.

Nichts überraschte Barney hier draußen. Er wußte, daß eine Herde Schweine in der Scheune herumgaloppieren würde, wo sie nichts mehr ruinieren konnte, weil alles Zerstörbare hier längst zerstört war. Auch hatte er sich's denken können, daß die Truthühner hier draußen Pfauen vorstellten – wie konnte es auch anders sein! – und daß eins von ihnen gegen einen kleinen westafrikanischen Affen ankollern würde, der so lang angekettet war, daß er zwischen der Gartenveranda und einer Holzhütte mit invaliden Gartengeräten hin und her sausen konnte. Und daß der Esel Zwillinge haben und die Art der Kinder, sich einem vorzustellen, darin bestehen würde, hier einen feuerroten Haarschopf aus einem zerbrochenen Zementrohr, dort einen aus einer Hundehütte herauszustrecken, während zwei andere mit weitaufgerissenen, todernsten Augen zwischen den Zweigen eines riesigen Weißdorns hervorlugten, der sich am Ende eines östlich vom Hofe gelegenen Gesträuchs erhob. Barney wurde sich nie darüber klar, wieviel es eigentlich waren. Mitunter sah er eins davon ins Haus stürzen, eine Tasse Tee in sich hineinschütten und sich einen Keil Brot herunterfetzen, oder er traf eins mitten auf dem Wege, wo es ein unschuldiges kleines Geschäft verrichtete. Strümpfe hatte keins von ihnen an, und da ihnen niemand erzählt hatte, daß es Orte gab, wo kleine Jungen und Mädel derlei lästige Dinge anhatten, vermißten sie sie auch nicht. Nur der Größte trug ein paar Gummistiefel, die inwendig voll Wasser und Schlamm waren. Darin stand er den ganzen Tag geduldig in dem oder jenem Versteck und graste durch einen vorzüglichen Offiziersfeldstecher die Gegend ab. Er und Barney wurden so gute Freunde, daß dieser die Erlaubnis bekam, den Feldstecher zu bedienen, während der Junge zum Tee hineinging.

«Wenn man das nur fünf Minuten lang vergißt, kann man das süße Spiel verlieren!» sagte er zu Barney. «Und was seid ihr dann noch wert?» Mit einem sehr ländlichen Wort drückte er aus, was sie vermutlich noch wert wären, falls die Schwarzbraunen den Hof überraschten. Von Wert konnte da überhaupt kaum noch die Rede sein. So machte der junge Herr auch im allgemeinen kein Hehl daraus, daß die anwesenden Republikaner überhaupt nur noch vorhanden waren, weil er seine Hand über sie hielt. «Aber wir haben ihnen schon ein paar Hindernisse gelegt, falls sie etwa plötzlich daherkommen sollten. Da drüben bei den Bäumen ist ein Hund angebunden, der Laut gibt wie toll, wenn sie sich zeigen, und drüben an der Mauer sind drei Gänse angepflockt, die werden auch schon was zu erzählen wissen, wenn einer sich anschleicht …»

«Und wenn sie vom Fluß kommen?» fragte Barney.

«Dann bleiben sie im Morast stecken, wenn sie nicht einen bestimmten Weg kennen; und den kennen sie nicht.»

Nichts war für Barney überraschend. Alles schien ihm so bekannt, als hätte er die letzte Nacht davon geträumt. Auch Löwenmähnes Frau konnte gar nicht anders sein, als sie war. Klein, hitzig und nicht schlampiger, als eine verantworten kann, die vierzehn Jahre lang ohne wesentliche Unterbrechung immer ein Kind an der Brust und mindestens zwei an der Schürze hängen gehabt hat. Löwenmähne selber war bei seiner Ankunft nicht daheim, sie aber schenkte Barney und sich selbst das übliche Glas Whisky ein und sagte: «Auf deine Gesundheit, und daß wir euch bald wieder glücklich loswerden! Wenn die Lumpen in ihren Panzerwagen und Sardinenbüchsen kommen und finden euch, fliegt hier der ganze Zimt in die Luft. Hol der Teufel Lloyd George!»

Gegen Abend kam Löwenmähne heim und vollendete das Bild des Hofidylls. In seiner Begleitung befand sich ein altmodisches Männlein mit glattgekämmten weißen Haaren und falschen Zähnen, die beständig auf dem Sprung waren, sich selbständig zu machen. Jeder republikanische Soldat des Bezirks kannte ihn als den alten Schloßbastler-Murphy, und sein Erscheinen bedeutete meistens, daß irgendein Schlag bevorstand. Sein einziger Fehler war der recht weitverbreitete, daß ihn rote Wirtshausrouleaux mit unwiderstehlicher Gewalt anzogen. Und hatte er eine gewisse Anzahl von Gläsern in sich, dann fing er zu weinen an. Das mochte für die übrigen Anwesenden wenig erheiternd sein, aber gerade in einem gewissen Stadium der Reue kam das Beste in Herrn Murphy zutage, man mußte ihn nur, wie sich seine Frau ausdrückte, im richtigen Augenblick vom Feuer nehmen, fast als ob er ein leicht anbrennendes Gericht wäre. Was Arbeit betrifft, war dieser Zustand sein fruchtbarster, und er brachte darin verblüffend viel vor sich in der Prüfung und Ausbesserung von Schußwaffen jeder Art.

Nachdem die ersten Grüße getauscht waren, zog Löwenmähne einen Brief aus der inneren Brusttasche und drehte ihn langsam genug herum, daß alle seinen maschinengeschriebenen Namen im Fenster des Briefumschlags lesen konnten. Um des besseren Lichtes willen trat er unter die offene Tür und las das Schreiben. Es kam von dem Kommandanten in der Bezirksstadt, und dieser bat ihn darin, ihm umgehend Meldung zu machen, wenn das Munitionsschiff in Sicht sei. Es schloß mit den Worten: «Sollte Hauptmann Taylor vom Hilfskorps draußen rumschnüffeln, so weißt du, daß es zwischen euch nur eins gibt: Pistolen für zwei – Mittagessen für einen. Gruß usw.»

«Ziemlich unverschämte Art, Befehle zu geben», sagte Barney; aber das fand Murphy durchaus nicht.

«Weiß nicht, was du willst!» erwiderte der kleine Mann. «Ein Soldat und Revolutionär muß Mut haben – das ist doch klar. Wenn er außerdem noch Geschmack und Selbstbeherrschung hat, ist das großartig. Aber es ist nicht unbedingt notwendig, daß er Wickelkinder trockenlegen und eine Ziege melken kann. Soldaten so, und Säulenheilige so … Das ist meine Ansicht von der Sache.»

«Den Herrn Taylor kriegen wir schon – keine Angst!» sagte Löwenmähne. «Tüchtig ist er – der kann einem den Rahm vom Kaffee stehlen, erzählt man. Aber seine Kugel ist schon lang gegossen – wenn's nicht ein Strick ist, mit dem er verlobt ist.»

Vor dem Essen gingen sie ein bißchen zum Kanal hinunter, um sich das Gelände anzusehen. Das Wasser stand fast gleich hoch mit dem Ufer, und über dem Fluß drüben stach ein Berg, so nackt wie ein Kuhhorn, in die Luft. Eine Regenwolke zog heran und hüllte die Ferne in ihre Decke. Das Wetter schien nicht besonders einladend, es war rauh, kalt und windig.

Während sie so wie die Ochsen im Morast herumstapften, fühlte Barney plötzlich eine kleine kalte Hand in der seinen, und als er sich umdrehte, fiel sein Blick auf einen roten Schopf, eine kleine Triefnase und zwei kleine blaugefrorene Beine. «Sie sind droben!» sagte der Junge heiser.

Feinhörig wie ein Luchs hatte Löwenmähne die Worte aufgefangen. «Wer ist droben?» fragte er und fuhr herum.

«Die Scheckigen!» sagte der Junge ohne jede Erregung.

«Wieviel?»

«Zwölf.»

«Was machen sie?»

«Alles durchsuchen.»

Löwenmähne wendete sich beruhigt an seine Begleiter und meinte: «Wenn irgendeine Gefahr wäre, hätte er's gesagt. Unser Glück, daß wir draußen sind. Jetzt brauchen wir bloß hierzubleiben, bis sie sich wieder verrollt haben.»

Barney spürte abermals einen kleinen Ruck in seiner Hand und bückte sich. «Penny, Herr!» klang es heiser aus der Dämmerung, die mittlerweile eingefallen war. Der Junge bekam seinen Penny, und der schwabbelnde Laut nackter Füße auf feuchtem Boden verlor sich in der Richtung gegen das Haus.

«Er kommt zurück, wenn sie weg sind. Es wird schon Taylor sein», meinte Löwenmähne.

 

9

Es wurde ein geräuschvoller Abend, denn bevor sie sich zu Tisch setzten, kam Roddie Carroll mit vier andern von der Kompanie. Die Suppe schmeckte etwas nach Kampfer, doch war das weiter nicht von Bedeutung. Es kam daher, daß einem von den Kleinen die Zelluloidpuppe in den Suppentopf geraten war und unter dem großen Markknochen begraben lag, den die Hausfrau einem herumfahrenden Metzger abgelockt hatte. Das tat dem Fest weiter keinen Abbruch. Nachher gab es Blutwürste. Die Irländer schwärmen für Blutwürste, deshalb war alles glänzend aufgelegt.

Die Revolutionsseekrankheit hat im allgemeinen drei Stadien: im ersten hat man Angst, daß das Schiff untergehen könnte, im zweiten ist es einem gleichgültig, und im dritten hat man Angst, daß es nicht untergehen könnte. Mit Ausnahme von Barney befanden sich sämtliche jungen Soldaten im dritten Stadium, und es war die reine Einbildung, wenn sie sich erzählten, sie hätten Sehnsucht nach der Republik. Einer von ihnen war Ladenjüngling und war davongelaufen, um sich die Welt auf der andern Seite des Ladentisches anzusehen. Sehnte er sich wohl in den Laden zurück? Sicher nicht. Außerdem war seine Stelle bestimmt schon lange wieder besetzt. Ein anderer war Schuhmacher und nach Roddies Beschreibung so geil wie ein Bock im April. Konnte er sich was Besseres wünschen als fürs Vaterland im Land herumzuziehen? Und die drei jungen Bauern, die keine zwei Tagewerk Acker besaßen und keine Aussicht auf ein paar Kreuzer hatten – sollte es denen vielleicht eilig sein, heimzukehren und bei einem Bauern zu fronen, der sie um einen elenden Lohn einstellte, den sie dann am Ende nicht einmal kriegten? Nein, das freie Leben, und sei es selbst vogelfrei, war etwas andres. Freilich ließ die Bequemlichkeit manchmal zu wünschen übrig, aber sie waren ja nicht verwöhnt. Auch konnten sie jetzt in ganzen Trupps bei den Bauern einfallen, die ihnen früher kaum das Essen gegönnt hatten, ihnen Revolver und Gewehre unter die Nase halten und – requirieren.

Requirieren ist ein so wunderbares Wort, daß man es nur gesperrt drucken sollte. Von den Fällen abgesehen, wo sie überhaupt nichts bekamen, aßen sie jetzt bei weitem besser, als sie es gewohnt waren. Man brauchte nur hineinzugehen und im Namen der Irischen Republikanischen Armee das Gewünschte zu fordern. Fehlte es an Stiefeln, Unterzeug oder Kleidern, so hieß es einfach: Das und das wird requiriert. I.R.A. – Und schließlich gab es ja auch noch Banken und Postämter, vor allem die kleineren Neben- und Zweigstellen. Drei Mann hinein und einen draußen vor die Tür gestellt! Alle mit Larven vorm Gesicht und Revolvern in der Hand. «Hände hoch! Im Namen der Republik: das Geld oder das Leben! … Die Regierung zahlt alles, wenn sie erst mal Geld hat.» Sie hatten aus den Filmen vom andern Ufer des Atlantik hübsch etwas gelernt. – Einer der jungen Bauern war bei einem solchen Unternehmen dabeigewesen, wo sie in Ermangelung von was Besserem hölzerne, mit Stiefelwichse geschwärzte Revolver hatten verwenden müssen. Im Grunde war es ja auch ziemlich gleichgültig, was man den Leuten vor die Nase hielt.

Natürlich wurden auch Geschichten erzählt, und darin traten die Engländer immer als geistesschwache Memmen auf und die Irländer als scharfsinnige Helden. Die Schießkünste der Irländer hatten etwas vollkommen Filmhaftes. Jeder Ire war ein geborener Tom Mix oder Buffalo Bill.

Der alte Murphy warf dann doch einmal friedlich, aber deutlich dazwischen: «Das nun ist auf jeden Fall Schwindel!» Selbstverständlich mußte er sich näher erklären und tat das auch: «Möchtet ihr mir nicht mal erzählen, wo zum Teufel ihr das gelernt haben wollt? Keiner von euch war im großen Krieg mit draußen, und Munition für Schießübungen hat es hierzulande niemals gegeben … Nein, ein bißchen Bewunderung auf Gegenseitigkeit mag ganz schön sein, und es ist durchaus in der Ordnung, daß jeder seine Säue für die besten hält, aber, aber, aber …» Als er so ins Stammeln gekommen war, ließ er das Thema fallen und fing nach einem Weilchen zu singen an – zuerst Soldatenlieder, später weniger feierliche. Das populärste war – sonderbar genug für diese jungen Burschen – jene berühmte Jeremiade über die Ehe, die einmal in den Kindertagen der Menschheit in London vom Stapel gelaufen und in der Folge von den Revue-Langfingern der ganzen Welt von Lippe-Detmold bis Timbuktu geklaut worden ist … «Ach, wenn ich doch wieder ein Junggesell wär!» lautet dieser Seufzer.

Und zusammen mit dem Licht, das durch die Scheiben nach draußen fiel, floß der Kehrreim hinaus in das regnerische Dunkel:

« For when I was single, my pockets did jingle. I wish I was single again!»

 

10

Diesen blutrünstigen Republikanern sollte es vergönnt sein, ihrer Sache einen wirklichen Dienst zu erweisen, nachdem sie über eine Woche gewartet hatten, während welcher Zeit ein kleiner Frachtdampfer aus Hamburg verzweifelt gegen einen hartnäckigen Südweststurm angekämpft hatte. Das Schiff war alt und überlastet und hatte zudem ein Gewissen, das ihm nicht erlaubte, einen Hafen anzulaufen; denn entfernte man nur eine einzige Lage Salzsäcke unmittelbar unter den Luken, so stand da Kiste an Kiste mit Maschinengewehren, Gewehren, Revolvern und Munition. Hätte ein Inspektionsschiff es in der englischen Hoheitszone angeprait, dann wäre es mit der Mannschaft Matthäi am letzten gewesen. Dagegen bot allerdings der Sturm ausreichende Sicherung. Jedes Fahrzeug hatte selber genug damit zu tun, sich über Wasser zu halten, wenn auch zugegeben werden muß, daß nur wenige von ihnen sich in einer so ungemütlichen Lage befanden wie dieses Schiff. Es hatte acht Tage gebraucht, um sich vom Hamburger Hafen mitten durch den Kanal zu schlängeln, und dann noch ein paar Tage darüber, um Landsend zu runden. So vergingen im ganzen vierzehn Tage, bevor es die Flußmündung sichtete, und als es endlich unter Volldampf an den beiden Leuchttürmen der Einfahrt und an der Flußwache des Fischerdorfes Überfahrn vorüberbrauste, ohne deren höfliche Anfragen zu beantworten, wurde die letzte Schaufel Kohlen in die Feuer geworfen. Vier Stunden später – und es wäre zu spät gewesen.

Löwenmähnes großer Junge, in Gummistiefeln und Südwester, war es, der das Fahrzeug als erster sichtete und die Mannschaft alarmierte. Vom Ausspähen mit dem Feldstecher war ihm schon die Haut von der Nase geschürft, nichts aber konnte seine Begeisterung abkühlen und niemand ihm das kostbare Instrument entwinden, bevor nicht das Schiff in dem alten halbzugewachsenen Kanal vertäut war unter den drei Palmen, die sich über das verfaulte Bollwerk neigten. Es kam so langsam daher, als ginge es in seinem eignen Leichenzug mit, und der Rauch quoll wie Samt aus dem wackligen Schornstein und wurde ins Feld hinuntergepeitscht von einem Regen, der aus Südwesten heraufzog und sich über das Land ergoß, wie das Rote Meer über die Ägypter. Noch nie hatte jemand ein Schiff den Kanal heraufkommen sehen, und es bahnte sich seinen Weg auch in einer Flüssigkeit, die wenig mehr mit Wasser zu tun hatte. Vertäut wurde es gleich an Ort und Stelle; bevor es aber noch angelegt hatte, waren schon Leute auf Rädern nach der Stadt unterwegs, um den Bezirkskommandanten zu alarmieren.

Der erste, der an Bord kam, war Barney, und sein Instinkt führte ihn sofort zu einer kräftigen, von Schmutz starrenden Gestalt, deren Zähne ihn über einer Waschbütte anblitzten, worin der Mann soeben den Kohlenstaub und Schweiß von vierzehn Tagen anzubringen im Begriff war.

«Bißchen feucht!» sagte der Fremde in deutlichem Munsterlager-Englisch. «Seid ihr klar zur Übernahme der Zündhütchen, bevor die Schnüffler auftauchen?»

«Wir sind klar, sobald der Kommandant mit den Lastautos da ist. Das wird eine Stunde brauchen. Schwere Überfahrt gehabt?»

«Stück von einem Wunder, daß wir überhaupt da sind. Gibt's was Warmes zu essen?»

Roddie kam mit den übrigen Freiwilligen im Laufschritt daher, und man begrüßte die Deutschen, kräftige germanische Gestalten, die von den vierzehntägigen Strapazen wohl erschöpft waren, aber immer noch mit ihren auch während der Fahrt nicht eingeschlafenen Zweifeln spaßen konnten, ob die Irländer wohl alles so gut vorbereitet hätten, daß sie mit der Ladung glücklich ins Land kämen. Im Schutz eines Abhangs und später einer Hecke ging man zum Hof hinauf, um erst einmal was zu essen, bis die Verbindung mit der Stadt klappte. Barney ging neben einem herkulischen Steuermann, der ein verständliches Schulenglisch sprach und über die augenblicklichen unter der Oberfläche liegenden politischen Verhältnisse ziemlich gut Bescheid zu wissen schien. Er hatte seine sehr bestimmten Ansichten und packte sie nicht erst lange in Watte ein.

«Wir hatten Angst, es könnte uns ebenso gehen wie weiland Sir Roger Casement!» sagte er ironisch. «Und ich habe doch meiner Braut in Altona heilig versprochen, mich nur in Deutschland henken zu lassen. Was meint ihr übrigens zum Fall Casement? Solche Leute, die im gegebenen Augenblick ja von Nutzen sein mögen, dann später aus dem Spiel zu wissen, muß doch eine Erleichterung bedeuten, oder nicht? Taktvolle Frage, was?»

Für die, die das vergessen haben sollten: Casement schied aus dem englischen diplomatischen Dienst, um den Irländern zu helfen, und wurde bei dem Versuch, eine Ladung Geschütze nach Irland zu schmuggeln, erwischt und als Verräter gehenkt. Barney wußte von ihm nicht viel mehr, als daß einmal ein ziemlich hoher Preis auf seinen Kopf gesetzt war, und daß sein norwegischer Diener ein Angebot von hunderttausend Schillingen für den Verrat an seinem Herrn zurückgewiesen hatte.

«Stimmt», sagte der Deutsche. «Christensen war eine Zierde seiner Rasse. Ob man das gleiche von seinem Herrn behaupten kann, steht nicht so ohne weiteres fest. Ich weiß das, weil ich in einem Gefangenenlager Dienst getan habe, zu dem Casement Zutritt bekam, um die Irländer zu überreden, sie sollten gegen die Engländer kämpfen. Er versprach ihnen Geld, mehr zu essen und, wenn der Krieg zu Ende wäre, eine Fahrkarte nach den Vereinigten Staaten. An die tausend Irländer waren zu der Zeit in deutscher Gefangenschaft, aber nur fünfundsechzig haben sich auf das Angebot eingelassen. Von diesen fünfundsechzig würde ich nicht ein Stück Brot nehmen, und wenn's mich noch so hungerte.»

Barney zuckte die Achseln. «Krieg ist Krieg!»

«Krieg? Sowas ist kein Krieg! Wer aber sein Angebot abschlug, den empfahl er ins Gefängnis zu stecken und ihm die Rationen zu kürzen …»

Als ob er plötzlich fürchtete, doch zu taktlos zu werden, brach der Deutsche das Gespräch mit einem Lächeln ab und bat um eine Zigarette. «Euch kann es natürlich gleich sein, woher ihr Hilfe bekommt, und wir haben natürlich auch nichts dagegen, euch hie und da eine Ladung Munition rüberzuschicken. Nur habt ihr mit diesen Transporten so selten Glück. Woran fehlt's da hier?»

«An der Schiffahrt, die nichts taugt!» entgegnete Barney. «Wenn wir eine ordentliche Fischerflotte hätten, wäre der Krieg längst gewonnen … Aber jetzt ist es schon gleich. In einem Monat sind wir soweit.»

Der Deutsche lächelte, nicht grade überzeugt, sondern weil er sich über diesen Glauben freute. Er sagte: «Meine besten Glückwünsche dazu! Jedenfalls hättet ihr dann mehr Glück gehabt als wir. Ich komm mal und seh zu euch rein, wenn ihr die Sache geschmissen habt. Vielleicht können wir eure Schiffahrt etwas in Schuß bringen. Wozu braucht ihr die Schotten, um für euch Fische zu fangen?»

Barneys auf fruchtbares Schaffen gerichtete Natur wurde sofort von diesem Gedanken ergriffen. Denn was ihm an diesem Kriegerdasein am wenigsten gefiel, war, daß er nichts aufbauen konnte, sondern niederreißen und zerstören mußte. Die Achtung, die von mindestens zwanzig Bauerngenerationen allem gezollt worden war, was Schaffen und Wachsen hieß, hatte seine Art, die Dinge zu sehen, geprägt, und die Hand, die er dem Deutschen gab, gehörte weniger ihm selber, als einem Geschlecht, das wohl ebensogut wie irgendein anderes im Krieg seinen Mann gestanden hatte, aber auch ebenso fest wie irgendein anderes mit seinem Boden verwachsen gewesen war. «Du darfst mir glauben: wenn wir einmal die Engländer draußen haben, wird hier gearbeitet! … Denk doch nur: was für ein Vorrecht, zu einem Geschlecht zu gehören, das das Land aufbauen soll! So angesehen, ist es sogar schön, daß das Ganze so verwahrlost ist, denn wir können alles von Grund auf neu machen und aus den Fehlern von euch und allen andern Völkern lernen. Komm nur mal in zehn Jahren wieder rüber, und du wirst einen Musterstaat sehen. Und bedenk auch, was für ein Vorteil es für uns ist, daß wir einig sind … und daß wir Führer haben, die ihre Kräfte und das Kapital unseres Volkes an Intelligenz und Geld darauf verwenden können, unser Land in die Höh zu bringen, statt Kräfte und Kapital dadurch zu vergeuden, daß wir uns gegenseitig bekämpfen! Auch sind wir ein fast rein katholisches Volk! In zehn Jahren wird die Welt beschämt auf uns blicken und sagen: Es ist also doch möglich, ein Land nach christlichen Grundsätzen zu regieren und wie Brüder zu leben … Denk, daß man so was erleben darf! Es ist fast nicht zu glauben!»

«Ja!» sagte der Deutsche gedankenvoll. Und als Barney ihn fragend anblickte, wiederholte er: «Ja, es ist fast nicht zu glauben.»

 

11

Da nicht nur der Stadtkommandant, sondern auch der Brigadegeneral des Bezirks mit der nötigen Hilfsmannschaft herauskam, ging das Löschen rasch und ordentlich vonstatten. Obgleich wegen der Bodenverhältnisse auch das kleinste Stück zu den wartenden Lastautos hinaufgetragen werden mußte, war das Schiff schon am nächsten Tag leer. Um Löwenmähne keine Ungelegenheiten zu schaffen, wurde beschlossen, das Schiff einen halben Kilometer weit den rechten Flußarm hinaufzuschleppen, wo sich eine Bucht mit einer dürftigen Kaianlage befand; und nachdem die Deutschen dabei geholfen hatten, nahmen sie Abschied und fuhren mit einem Mietauto aus der Stadt nach einer weiter nördlich gelegenen Bahnstation, von wo aus sie mit dem Zug nach Dublin und dann über Holyhead nach Hause fuhren. Auch die Offiziere und der größte Teil der Mannschaft machten sich davon, und Barney und Roddie bereiteten sich zum Aufbruch vor. Sie saßen in der Scheune und rauchten eine Zigarette und waren beide der Meinung, daß sie sich schleunigst zum Dienst melden sollten, als sich der kleine Murphy in ihr Gespräch einmischte.

«Das ist ein gutes Schiff», sagte er so vor sich hin in die Luft.

«Kommt drauf an, wozu man's braucht», wendete Barney ein. «Ich möchte lieber zusammenfassend sagen, es ist ein schlechtes Schiff. Schließlich kauft man in Deutschland ja auch nicht gute Schiffe, um sie in irgendeinem Winkel von Irland wegzuschmeißen.»

«Und ich meine nun wieder, es ist ein sehr gutes Schiff!» entgegnete der Schloßbastler-Murphy hartnäckig. «Wasserdicht und schön gestrichen … Es liegt ja auch nicht jeden Tag so ein guter kleiner deutscher Frachtdampfer hier in unserm Fluß … und uns fast vor der Tür.»

«Mist!» sagte Roddie. «Geh heim und wieg Kinder in Schlaf und erzähl uns zweien nichts über Schiffe!»

«Nur nicht so vorschnell, Roddie – ein Schiff kann wohl noch zu mehr als einem Zweck gut sein, und dies da scheint mir besonders geeignet, in die Luft gesprengt zu werden …»

Roddie, der halb ausgestreckt auf ein paar Säcken Korn gelegen hatte, erhob sich, stützte sich auf die Ellbogen und sah Murphy durchdringend an. Auch Barney sah ihn an. Und schließlich sahen Roddie und Barney sich an. Als nun Löwenmähne am Scheunentor vorüberkam, rief Barney ihm zu: «Murphy sagt, der Deutsche drüben wär ein reizendes kleines Schiff, um in die Luft gesprengt zu werden.»

Löwenmähne schenkte allen dreien zugleich einen verschleierten Blick.

«Sollten wir nicht ein paar Einladungen fortschicken?» schlug Barney vor.

Roddie nickte. «Hab auch grad dran gedacht – wir können doch nicht das Ganze für uns behalten.»

«Hauptmann Taylor …!» sagte Murphy. Und das klang wie eine Verhandlungsgrundlage, und es sah aus, als hätten sie alle das gleiche gedacht.

Löwenmähne zog den Brief des Kommandanten aus der Tasche und las noch einmal den Schluß vor: Pistolen für zwei – Mittagessen für einen! – Ist das nicht wie eine Fügung? … Ist Murphy da selber draufgekommen? In deinen Jahren, Murphy – zu was kannst du es da nicht noch bringen! Hast du übrigens Sprengstoff?» Eine Stunde später ließen zwei kleine Rotköpfe den Esel in die Stadt trotten, wo sie ein Schreiben an Hauptmann Taylor in den Briefkasten warfen. Das lautete:

Geehrter Herr! Wir halten es für unsere Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß ein deutscher Frachtdampfer mit Munition für die republikanische Armee eingetroffen ist. Er liegt in der kleinen Bucht unterhalb von O'Briens verlassener Ziegelei nördlich von Überfahrn. Drei Ex-Freischärler.

Barney war grade daran, den Feldstecher zu bedienen, als die Explosion erfolgte. Sie lagen alle hinter einem mit Brombeerbüschen bestandenen Damm versteckt, als die mit Soldaten bemannten Motorboote dröhnend heranbrausten und neben dem verlassenen Frachtdampfer anlegten. Er hatte sofort den Hauptmann ins Glas bekommen und musterte interessiert sein Gesicht. Es glich einem Holzschnitt – der Holzschnittkarikatur eines Römers. Ein spärlich behaarter Kopf mit tiefliegenden Augen, großen Ohren, einer herrischen Nase und einem Mund, dessen eingefallene Oberlippe ein gestutzter weißer Schnurrbart bedeckte. Es war das Gesicht eines Mannes, der es nicht im Sinn hat, Pardon zu geben, aber auch nicht, Pardon zu verlangen. Eine Sphinx konnte man ihn nicht nennen, denn eine Sphinx ist nicht aktiv. Auch «grausam» konnte man ihn nicht nennen, wenn man auf präzise Ausdrucksweise hielt. Er war ein Mann, geschaffen für eine Kugel und einer, der nicht klagen würde an dem Tag, wo sie ihn traf. Ein merkwürdiges Gesicht. Ein verwirrendes Gesicht. Und es schien in einer Heldenglorie aus Feuer zu lächeln, als das Schiff in die Luft flog.


 << zurück weiter >>