Betty Paoli
Neueste Gedichte
Betty Paoli

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Der Minotaurus.

          Die Mythe lehrt: von Theseus Hand
Ward jenes Ungethüm bezwungen,
Das, unersättlich, gierentbrannt,
Die Opfer ohne Zahl verschlungen,
Die in des Labyrinth's Verließ
Athen, ihm zum Tribute, stieß.

Wohl rang der götterstarke Held
Im heißen Kampfe es zu Boden!
Doch, ob zum Schein von ihm gefällt,
Erstanden ist es von den Todten,
Und fordert mit erneuter Wuth
Den Zoll von unserm Fleisch und Blut.

Im dunkeln Labyrinth nicht mehr,
Es hauset jetzt in uns'rer Mitte!
Sein Antlitz dräut, verderbenschwer,
Entgegen uns auf jedem Schritte.
Sein früh'rer Name nur entschwand, –
Das Elend wird es heut genannt!

Das Elend, der lebend'ge Tod,
Sein Gift in jeden Tropfen mischend,
Der Wangen jugendliches Roth,
Der Augen heitern Glanz verwischend!
Das Elend, grimm, erbarmungslos,
Der Sünde tück'scher Bund'sgenoß!

Dem Manne ruft es lockend zu:
»Seh' Jeder selbst, was er erraffe!«
Der Jungfrau: »Hold und schön bist du!
Gebrauche deinen Reiz als Waffe!«
O Gott, noch mehr! wie oft entweiht
Die Unschuld es der Kinderzeit!

Und ries'ger stets wächst es empor,
Gleich einer Flamme lohem Wallen;
Das Unthier ist's, dem nach wie vor
Noch immer Hekatomben fallen!
Der Minotaurus, wüthend blind, –
Europa jetzt sein Labyrinth!

Die ihr im Rath der Weisen sitzt,
Und ihr, die Mächtigen, die Reichen,
Gedenket ihrer Qual! beschützt
Die Opfer, die verzweiflungsbleichen!
Wähnt nicht schon Alles wohlbestellt,
Sagt ihr: »Es ist der Lauf der Welt!«

Wißt ihr, wohin der Lauf uns führt?
Zum Kampf der Reichen und der Armen?
Weh' euch, wenn diesen ihr erkürt!
Kein Recht gilt da, wo kein Erbarmen.
O zahlt, von milderm Geist erhellt,
Für sie und euch das Lösegeld!


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