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Rede vor dem 53 er Ausschuß (Zentralrat der Marine) am 7. Dezember 1918

In dieser schwierigen Zeit braucht die Revolution eine Gemeinschaft von Menschen, die sich zu dem geistigen Inhalt der Revolution bekennen. Draußen geht allerlei vor sich. Eine Deutung der Dinge ist den Arbeiter- und Soldatenräten nicht immer möglich, aber Klarheit kann geschaffen werden, wenn wir wissen, wo wir stehen und was wir wollen. Erkennen wir an, daß die Gedanken der Vorkämpfer Marx und Engels jetzt am Werke sind, eine neue Zeit zu schaffen, und daß wir durch die Tat des Proletariats am 9. November in die Lage gekommen sind, mit allem mittelalterlichen Gerümpel endgültig aufzuräumen, so müssen wir jetzt alles tun, um in die Ereignisse der Zeit den Sinn der Revolution hineinzutragen. Nur ein geringer Teil des Volkes, das jetzt vom Sozialismus berührt worden ist, weiß, daß unter »Revolution« nicht das zu verstehen ist, was uns im Geschichtsunterricht gelehrt wurde, weiß, daß die Revolution sich entwickelt auf der Grundlage ökonomischer Veränderungen. Soll eine neue Freiheit errungen werden, die von dem wirklich arbeitenden Volke, auch dem geistig arbeitenden, verstanden wird, so muß eine Aufklärung beginnen, die über den Sozialismus als Wissenschaft die Wahrheit sagt und es jedem möglich macht, den Vergleich mit der kapitalistisch-imperialistischen Ordnung selbst zu ziehen. Das kann jetzt zum ersten Male in solchem Maße geschehen. Es steht dann jedem frei, zuzustimmen oder abzulehnen; sehr viele Menschen aber werden sich wundern, wenn sie so nebenbei erfahren, daß es sich bei der Sache um ganz neue Formen des naturwissenschaftlichen Denkens handelt, also um eine Revolution des Gehirns. Es wird ihnen nicht entgangen sein, daß Friedrich Adler in der Zeit seiner Gefangenschaft ein Buch über den Naturwissenschaftler Ernst Mach geschrieben hat. Was jetzt geschieht, die Hetze gegen alle wirklichen Sozialdemokraten unter irgend einem Namen, der graulich macht, ist der Wunsch, von den Zuständen des bürgerlichen Zeitalters zu retten, was irgend zu retten ist. Die Arbeiterschaft hat in den wenigen Tagen, in denen sie das Rätesystem betrieben hat, bewiesen, daß die Auslese der Tüchtigen durch das Aufsteigen der wirklich tatkräftigen und uneigennützigen Menschen im System der Räte immerhin möglich sein wird. Es kommt darauf an, die Zeitspanne, die bis zu der künftigen Versammlung gegeben ist, auszunutzen und zu beweisen, daß die Arbeiter- und Soldatenräte etwas leisten, das entwicklungsfähig ist, und daß staatsrechtliche Formen daraus gebildet werden können. Ich zweifle nicht daran, daß es mit den alten Formen nicht mehr geht und daß etwas Neues kommen muß. Wie schnell und unter welchen Wehen es bei uns zur Welt kommen wird, das hängt von der Kraft ab, die wir der Aufgabe der Revolution widmen.

Der Zeitungsleser weiß noch nicht, was überhaupt vorgegangen ist, der Sinn der Revolution ist der Masse nicht klar; Gehirne, die jahrelang belogen und betrogen wurden und auf die ein ganzes System von Verordnungen losgelassen worden ist, Gehirne, die in Kinderköpfen schon in den Rahmen einer falschen Geschichtslehre gezwängt wurden, lassen sich nicht in die Erkenntnis umsteuern, indem sie einen Schlag bekommen. Für die Masse des Proletariats ist der 9. November noch kein Tag der Freiheit geworden. Aber nun kommt unser Leichtsinn. Wir sind so voll Güte auch gegen die alten Methoden der Unterdrückung und des Mißtrauens; wir glauben, wir lebten schon in einer Zeit der Menschlichkeit, die uns das Zutrauen des deutschen Volkes sichern könnte. Das ist nicht der Fall. Die Masse will aber, wie ein Kind, etwas zum Spielen haben; bekommt sie nicht, was ihr heilsam ist, so greift sie nach einem andern; es gilt, ihr das Richtige zu geben, damit sie das Volk nicht unbrauchbar macht für Friedensverhandlungen. Das System der Räte wird zur Zeit in der Presse planmäßig herabgesetzt. Unregelmäßigkeiten, die unerheblich sind gegen das, was früher geschah, werden breit besprochen und übertriebene Lügen laufen ungehindert mit. Die Reaktionäre wissen die Aufmerksamkeit geschickt von der Vergangenheit abzulenken, indem sie auf die menschlichen Fehler hinweisen, die auch heute zu entdecken sind, wenn man sie sucht. Die Schuld des alten Systems ist im deutschen Volke noch nicht einmal bekannt, noch viel weniger gibt sie dem Denken der Massen revolutionäre Kraft und Zuversicht. Wir wissen, welch ein Verbrechen die Vertreter des U-Boot-Krieges begangen haben, und haben durch die Darstellung von Persius erfahren, welche Dinge in den inneren Marineangelegenheiten geschehen sind. Wenn das Volk sie erführe, wäre die Revolution gesichert, trotz aller Schwierigkeiten, die der Zusammenbruch des früheren Systems hinterlassen hat. Aber die Revolution selbst ist jetzt gar nicht einmal am Ruder der Republik; so ist es erklärlich, daß über die Schuldfrage nicht gesprochen wird. Dagegen wird es so dargestellt, als ob die Nationalversammlung ein wünschenswerter Ertrag der Revolution sein könne. In der Geschichte erscheint, sagt, glaube ich, Engels, jedes Ereignis einmal als Tragödie, das nächste Mal als Farce. Die Nationalversammlung von 1848 war übrigens bereits eine Farce. So eine Versammlung in dem alten Stile mit 75 Professoren wäre jetzt ganz unerträglich. Diese Bourgeoisie mit ihren Redensarten darf nicht wieder zu Worte kommen. Gewisse Größen der früheren Zeit sind nach dem, was sie geäußert haben, heute unmöglich. Schon der Anstand sollte ihnen gebieten, sich zurückzuhalten. Das Wiederauftauchen gewisser Namen würde von den Menschen der neuen Zeit nach den Opfern des Krieges als unerträglich empfunden werden.

Den Willen zur Freiheit kann man niemandem aufschwatzen: er muß aus den Tatsachen entstehen. Durch das Leid und das Mitleid werden Menschen getrieben, neue Wege zu suchen. Es ist in den Kasernen, an Bord und auch in Gefängniszellen manches erdacht und gefunden worden, was in neue Formen gegossen werden kann und was auch unsern Brüdern in Rußland klar wurde, als der Zarismus sie in sibirische Gefangenschaft sandte. Es zeugt von unglaublich geringem Geschmack, daß das deutsche Volk nach den Leistungen des Reichstages der parlamentarischen Schwatzbuden noch immer nicht überdrüssig ist, und von geringer politischer Reife, daß es in sich nicht die Kraft fühlt, etwas Neues zu schaffen, was hoch über dem Parlamentarismus steht. Bei uns ist die Sache nun ganz einfach: Nationalversammlung heißt Reaktion; Rätesystem Revolution. Hier scheiden sich die Geister. Offenbar ist der größte Teil des deutschen Volkes heute politisch auf einer Stufe, auf der es gar kein Bedürfnis nach Freiheit verspürt und gar nicht weiß, was Freiheit ist.

Das Mittelalter ist über den Haufen geworfen; die Kronen rollten auf das Pflaster. Es ist viel erreicht, das wissen wir, wenn wir uns dessen erinnern, was bisher war. Schreckliches haben wir durchlebt, als unsere armen Kameraden, weil sie vom Idealismus überschäumten, vor ein Kriegsgericht gestellt, von Richtern, die wir jetzt nicht um ihre Gewissensqualen beneiden, ins Gefängnis gesperrt und erschossen wurden. An solche Dinge uns zu erinnern, ist unsere ernste Pflicht, und uns nicht mit Kleinigkeiten herumzuschlagen, die zu der Größe der Zeit nicht passen.

 

Zum Frieden kann nur führen die entschiedene Abkehr von der Vergangenheit und das starke Verlangen nach einer besseren, reineren Zukunft. Die Entente macht mit uns keinen Frieden, solange keine Änderung der Gesinnung zu erkennen ist. Sie empfindet: das, was wir haben, ist durchaus nur Revolutionsersatz; Männer, die den Krieg um Jahre verlängert und die tiefste Erbitterung der Völker auf unser ganzes Volk gelenkt haben, wirken jetzt in der Regierung mit oder bleiben in ihren Dienststellungen. Es scheint gar nicht der Wunsch zu bestehen, von der Schuldfrage zu sprechen und dadurch einen trennenden Strich zu ziehen gegen die Vergangenheit. Die Entente kann sich nur denken, daß die Schuld die hier Regierenden hindert, das zu tun, was Kurt Eisner in München tat: die Geheimakten zu veröffentlichen, die durch die Revolution in den Besitz des hintergangenen Volkes gekommen sind. Wenn wir uns weder für besiegt erklären, noch die Schuld anerkennen, kann niemand mit uns verhandeln. Die Nationalversammlung soll angeblich Frieden und Brot bringen; die aber, die diese Versammlung wollen, haben kein Verständnis für die Bedeutung der Niederlage und Schuld, haben keinen Sinn für Revolution. Das hätte das erste sein sollen bei jeder wirklichen Revolution: das System der Gewalt und Lüge aufzudecken, sich davon öffentlich abkehren und sich zu neuen Menschheitsgedanken bekennen. Statt dessen hat man sich gar nicht darum besorgt, ob nicht wichtige Akten vernichtet und gestohlen wurden. Und das ist geschehen, und die Vertreter des alten Systems sitzen noch in den Ämtern und gestehen es lächelnd ein. Die ganze Menschheit hat gespannt darauf gewartet: Was werden die Deutschen nur sagen, wenn sie endlich erfahren, wie sie mißbraucht, betrogen, belogen wurden? Und jetzt, wo alle Archive denen offen stehen, die bisher in Vorzimmern oder auf der Straße warten durften, geschieht nichts. Was müssen unsere Brüder in aller Welt von uns denken? Sind wir phantasielos, haben wir keinen Sinn für dramatisches Geschehen? Wir sind jetzt bald soweit, daß die reaktionäre Presse behaupten darf, an der wirtschaftlichen Zerrüttung und der Blutarmut des ganzen Deutschlands seien die roten Fahnen schuld.

Wir sind noch lange kein freies Volk. Es ist auch gar nicht zu verwundern, daß uns das Gefühl der Freiheit fehlt, wo wir zur Knechtschaft erzogen sind. Frei sind wir erst, wenn wir mit der Sehnsucht nach Freiheit leben und ohnedem nicht leben können. Wir sind befreit worden, ehe die Sehnsucht nach Freiheit reif war. Der Mensch lebt aber nicht von dem Besitz der Güter, sondern von der Hoffnung auf sie, und ist glücklich, wenn er die Möglichkeit hat, sie zu erreichen, wenn ihm der Weg dahin nicht versperrt ist. Weil uns dieses Gefühl der Freiheit, dieser Begriff von Glück noch fehlt, deshalb hat unser politisches Leben etwas so Trostloses, oft Niederziehendes, deshalb treffen wir immer wieder auf die Tatsache, daß unsere Volksgenossen an Selbstlosigkeit beim Gegner nicht glauben, ihm häßliche Motive unterlegen, ihn nicht achten. So, wie wir noch sind, will der Herrscher den Untertan. Wir sind schon mit großem Geschick und mit erstaunlicher Ausdauer zum Knechtsgeist erzogen worden. Erst wenn freie Rede, in Gruppen, in Versammlungen zur Gewohnheit wurde und das Volk Lust hat am Wort, das den Geist offenbart, erst dann kommen wir über diese Öde hinaus, in der sich die Masse mit trockenen Schlagworten und Formeln begnügt und auf das eigene Denken verzichtet, wenn ihr ein Name oder ein Doppelname hingeworfen wird, nach dem sie begierig schnappt. »England der Feind, U-Boote, Hindenburg und Ludendorff, Nationalversammlung«. Das sind solche Worte, hinter denen sich die Absicht verbirgt, die autoritätsgläubige Masse dumm und gefügig zu machen. Solche Masse wird jedem Geistigen, jeder Freiheit, jedem Menschheitsgedanken noch heute gefährlich, wenn sie von kaltstirnigen Gewalthabern mißbraucht wird.

Das Schlagwort »Nationalversammlung« dient heute dazu, die Aufmerksamkeit von anderen Dingen, die viel wichtiger sind, abzulenken. Es ist beinahe gleichgültig, ob sie kommt oder nicht. Neues, Besseres kann sie dem Volke nicht geben: nichts, was es sich nicht heute schon durch revolutionäres Recht einfach nehmen könnte. Ihre Hauptgefahr liegt darin, daß das Volk wieder einmal, trotz aller schlechten Erfahrungen, verleitet wird, die lebendige Teilnahme an der Politik aufzugeben, sich des Verantwortungsgefühls durch einmalige Abgabe eines Stimmzettels zu entledigen. Wichtig wäre jetzt nur eins: den Völkern der Erde zu zeigen, daß wir andere geworden sind und so endlich zum Frieden zu kommen. Unsere Brüder in aller Welt wollen sehen, daß wir Menschen sind. Das können sie nur, wenn wir zeigen, daß wir menschlich mitempfinden. Wo aber ist bei uns Erbitterung über die Lüge, in der wir gehalten wurden, wo hört man den Schrei: »Das haben wir nicht gewußt; Menschheit, verzeih, wir waren blind.« Es ist nicht einmal die Neugier da, den Machtgötzen enthüllt zu sehen. Und deshalb bekommen wir nicht Frieden, nicht Brot: weil von einer Änderung der Gesinnung bei uns nichts zu sehen ist. Wir beleidigen unsere »Gegner« durch den Anblick von Männern, die das Frühere mitgemacht, es geduldet, ja verteidigt haben. So kommt die Stimmung nicht, in der die Menschheit aufatmen kann: »Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden.«


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