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Der Gedanke der Lebensreform

Eine Belehrung über Lebensreform kann nicht beginnen, ohne daß die Frage erörtert werde, was denn der Sinn und die Aufgabe dieses Lebens sei. Ist diese Frage beantwortet, und gelingt es, das Ziel zu zeigen, dann werden wir selbst nach einer Lebensführung streben, die den Menschen am besten befähigt, den Weg, der zum Ziele führt, zu gehen. So spreche ich schon zu Anfang meiner Darlegung den Satz aus, in dem alles gipfelt, was ich zu sagen habe. Nur wer die Aufgabe des Lebens erkennt, verlangt nach Lebensreform, und nur, wer die Lebensreform erfaßt hat, ist fähig, der eigentlichen Bestimmung des Menschen zu leben und den »höchsten Gang« zu gehen.

Die großen Lehrer der Menschheit belehren uns, daß es auf die Frage nach der Aufgabe des Lebens nur eine einheitliche Antwort gibt.

Ob wir den Gedanken der indischen Philosophen folgen, ob wir uns in die Weltanschauung eines Plato hineinversetzen oder nach dem Wesen des Christentums fragen und dessen philosophische Durchleuchtung durch Kant und Schopenhauer verstehen – überall ist es derselbe Gedanke: daß diese Welt im argen liege und daß wir einer Erlösung bedürfen. So besteht das Wesen des Christentums nach Paul Deussen in dem Gedanken, daß unser Leben nicht Selbstzweck ist, daß vielmehr die höchste Aufgabe des Lebens darin besteht, auf dem Wege der Selbstverleugnung, welche den Kern aller wahren Tugend ausmacht, uns von dem uns allen anhaftenden Egoismus zu läutern und dadurch unserer ewigen Bestimmung entgegenzureifen, die uns im übrigen unbekannt bleibt und bleiben muß, soll nicht die Reinheit des moralischen Handelns gefährdet werden.

Die Inder nennen dieses Leben eine Täuschung, ganz ähnlich wie Euripides sagt: »Wer weiß, ob nicht das Leben ein Gestorbensein und das Gestorbensein ein Leben ist.« Demnach wäre unser Erdendasein eine Abirrung von unserem an sich seienden ewigen, unzerstörbaren, also unsterblichen Wesen. Die Inder legen den Irrtum in den erkennenden Teil des Menschen und sprechen von einer Täuschung. Das Neue Testament legt den Irrtum in den wollenden Teil und spricht von der Sünde. Beide aber fordern von dem Menschen eine Wiedergeburt nur mit einem kleinen Unterschiede: Was bei Paulus ein einmaliger Akt ist, das ist bei den Indern ein durch das ganze Leben sich hinziehender Läuterungsprozeß, wie es denn in einem der indischen Gesänge von dem sterbenden Menschen heißt: »Durch mancherlei Geburt geläutert, geht endlich er den höchsten Gang.«

Dieser kurze Hinweis auf ewige Gedanken und Wahrheiten zeigt uns die Grundlage, auf der der Gedanke der Lebensreform aufgebaut werden kann.

Damit haben wir uns wohl klargemacht, daß Vorwürfe, wie die Lebensreform sei Gesundheitsangst, sie entstehe aus dem Wunsche, dieses Leben behaglich, schmerzlos und möglichst lang ausgedehnt zu genießen, kindisch genannt werden müssen.

Im Gegenteil, bewußte Überwindung des uns natürlichen Egoismus, Anerkennung des moralischen Menschen und unseres wahren an sich seienden göttlichen Wesens, das ist die Vorbedingung, die wir an den stellen müssen, der unseren Gedanken gerecht werden will. Nie und nimmer bieten wir die Hand dazu, eine Veredelung des Materialismus zu fördern, und denen, die in dieser Zeit in der empirischen Realität (Erfahrungsfülle der Wirklichkeit) haften, das Leben zu erleichtern, etwa wie es Nietzsche und die, die ihm nachlaufen, in unseliger Verblendung träumen.

Das muß zum richtigen Verständnis der Lebensreform gesagt werden.

Wer aber die Zukunft aufbauen, wer den neuen Menschen schaffen will, der kann an der Lebensreform nicht vorbei. Tiefer aufgefaßt heißt das: Kein Christentum ohne Lebensreform, keine Lebensreform ohne Christentum, wobei ich, mit Paul Deussen gesprochen, freilich nicht an das in mythischen Formen auftretende Christentum denke, gegen dessen aus dem Alten Testamente vererbten Buchstabenglauben sich jeder Christ auflehnen sollte, sondern an den echt christlichen Gedanken, welcher viel weiter reicht als der Name des Christentums und sich schon in Indien in »Vedanta« wie im »Buddhismus«, ferner bei Plato und sich endlich, von einer mythischen Hülle umkleidet, im Neuen Testamente findet, und eben von dieser mythischen Hülle befreit, den eigentlichen Kern des von Kant begründeten und erst von Schopenhauer zur Vollendung gebrachten philosophischen Idealismus bildet.

Das heutige Leben in der Welt des Abendlandes ist, wir müssen uns das eingestehen, nichts anderes als ein Hasten in der empirischen Realität, ein Bekenntnis zum schrankenlosen Materialismus, ein Sichausleben des egoistischen Menschen. Das empirische Leben wird überschätzt. Das Leben des wahren Menschen, das göttliche Leben ist nicht nur unbekannt, sondern wird, wo es auftritt, mit den Phrasen des Materialismus unduldsam verfolgt.

Das beste Kennzeichen für den Materialismus unserer Zeit ist, daß die Arbeit maßlos überschätzt wird und die Menschen sich gewöhnen, in der Arbeit als solcher schon Pflichterfüllung und die Aufgabe des Lebens zu sehen, anstatt zu wissen, daß Arbeit nichts weiter ist als ein Bedürfnis wie Essen und Trinken und daß man sich dessen nicht rühmen dürfte. Diese Menschen haben gar kein Verständnis dafür, daß Betriebsamkeit und Arbeit schändet, wenn sie davon abhält, uns mit geistigen Dingen, mit Philosophie, Religion, mit den Fragen nach der ewigen Bestimmung des Menschen auseinanderzusetzen.

Daß die Arbeit, die getan wird, an sich wertlos ist, beweist z. B. dieser Krieg, in dem die sogenannten wirtschaftlichen Werte rücksichtslos vernichtet werden und in dem die Menschen diese in Friedenszeit so überaus wichtige Arbeit, bei der sie nicht einen Augenblick aufschauen zu dürfen glaubten, um den Blick gen Himmel zu richten, daß sie diese Arbeit einfach liegen lassen und statt ihrer jahrelang in Schützengräben eingegraben gegenseitig auf Anstand liegen. Und daß diese Arbeit, die im Frieden so wichtig erscheint für den Menschen, der sie verrichtet, wertlos ist, erkennt man an den Begleiterscheinungen dieser Arbeit: dem stumpfsinnigen Rennen nach materiellem Besitz, der ödesten Zerstreuung.

Das richtige Symbol für das Haften in der empirischen Realität ist das Tabakrauchen. Wer könnte sich vorstellen, daß der Apostel Paulus sich vor seiner berühmten Rede auf dem Areopag erst eine Zigarre angesteckt hätte! Das fortwährende Hantieren mit Zigarren, Zigaretten und Feuerzeug und das Austrinken von Gefäßen, die mit berauschendem Getränk gefüllt werden, ist das Kennzeichen des schrankenlosen Materialismus. Auf gleicher Stufe mit dem Rauchen und Trinken steht das Skatspielen und Zeitunglesen und die Geselligkeit, die bei den Nikarnalken Hans Paasche bezeichnet als Nikarnalken einen Karnivoren, der Nikotin raucht und Alkohol einnimmt und dadurch weniger schlank, weniger klug und weniger schön wird, als er sein könnte. »Ein Nikarnalke kann ein tüchtiger Mensch sein; dennoch wäre es gut, wenn weniger Deutsche Nikarnalken wären. Das Gegenteil von Nikarnalke ist Lebenserneuerer. Wer Willenskraft genug hat, werde das! Je weniger Nikarnalken es in einem Volke gibt, desto besser kann es seine Aufgabe erfüllen. Im Nikarnalken stirbt das metaphysische Bedürfnis. Lebenserneuerer sein heißt deshalb auch: den Geist bejahen.« üblich ist. Wenn Sie prüfen wollen, ob diese Betrachtung richtig ist, so fragen Sie sich einmal, ob einer der Toten, die im Granatfeuer in diesem Kriege das Ende ihrer empirischen Erscheinung kommen sahen, Zeitung lesen oder Skat spielen oder einen Stammtisch besuchen würde, wenn ihm noch einmal acht Tage Lebenszeit gegeben würde. Wenn dieser Krieg wirklich für die Erziehung des einzelnen irgendeinen Wert hat, wovon so viel geschwatzt wird, so könnte das doch nur liegen in dem »memento mori«, das uns für immer zum Bewußtsein bringen müßte, wie wertlos alles ist, was wir treiben und wonach wir streben; materieller Besitz, Rangerhöhung, Auszeichnung, Ruhm, und daß nur eine Frage der Beantwortung harrt: welchen Weg hat der Mensch zu gehen, wenn er sich in dieser Erdengestalt von seinem ansichseienden Menschen, von dem moralischen Menschen, also von Gott das Sittengesetz vorschreiben läßt? Das ist es, was Immanuel Kant genannt hat den kategorischen Imperativ.

Die Ursache des falschen Lebens liegt letzten Endes in einer falschen Weltanschauung. Die wahren Bedürfnisse des Menschen werden nicht erkannt und werden verachtet. Die empirische Welt wird überschätzt, die Naturwissenschaft zum vollendeten Materialismus ausgebaut und die metaphysische Wesenheit des Menschen völlig verneint. Was in der Öffentlichkeit als Ursache des Niederganges hingestellt wird, der zunehmende Luxus, die Verfeinerung ohne Hemmung, das ist erst die Folge einer falschen Denkart, wie denn jedem Geschehen erst ein Umdenken vorausgehen muß, weshalb Jesus Christus den Menschen nicht gleich gesagt hat: »Liebet euren Nächsten«, sondern: »Ändert euer Denken!« Wenn nun auch das Umdenken vorausgehen muß, so ist es eine Unmöglichkeit, praktisch eine Änderung herbeizuführen, ohne daß man die schädlichen Zustände deutlich erkennt; und mit ihnen haben wir uns kurz zu beschäftigen.

Unser öffentliches Leben und auch das Leben des einzelnen Menschen steht unter dem Zeichen falscher wirtschaftlicher Begriffe. Die heute noch geltende Volkswirtschaft stellt in den Mittelpunkt ihres Denkens die tote Sache und nicht den Menschen. Und was da fehlt, ist Kritik: eine Kritik der Volkswirtschaft, eine Kritik des Konsums, Kritik des Verkehrs. Dieser Gedanke ist nicht neu. Der amerikanische Nationalökonom Carey hat ihn schon vor Jahrzehnten ausgesprochen und begründet, und Eduard Baltzer war es, der die Gedanken Careys in Deutschland zum ersten Male ernst genommen hat. Während das, was sich Wissenschaft nennt, d.h. eine heute geltende Festlegung, Carey keiner rechten Beachtung würdigte. Wenn ich die Gedanken Careys als die entscheidenden erkannt habe, so liegt das daran, daß ich, ähnlich wie Carey, die Mißerfolge der geltenden Volkswirtschaft an ihren Wirkungen in den Kolonien erkannt habe.

Was die Kritik der Volkswirtschaft ist, will ich in wenigen Worten deutlich machen. Unsere volkswirtschaftlichen Lehrer stehen in Bewunderung vor wachsenden Ziffern und fragen, wie die Einfuhr, die Ausfuhr, der Gesamthandel eines Landes steigt, wieviel Kilometer Eisenbahn jährlich vorgeschoben werden, wieviel Menschen auf Bahnen und Schiffen hin und her reisen – sie nennen das Fortschritt. Der Lebensreformer aber, denn jeder Lebensreformer übt Kritik der Volkswirtschaft, fragt: Welcher Art sind denn die Waren, die den Zoll passierten, sind sie ihrer Wirkung nach nützlich oder schädlich, und was wird erfahrungsgemäß aus den Menschen, die diese Waren herstellen oder verbrauchen müssen? Sie sagen, eine Eisenbahn ist nur nützlich, wenn sie gute Menschen und gute Dinge in das Land hineinbringt, nicht wenn sie dazu dient, Bodenspekulanten, Alkohol, Tabak, Opium, Geschlechtskrankheiten hineinzubringen und die unschuldigen Menschen und Tiere des Landes herauszuholen und der Vernichtung preiszugeben, wie das noch heute in Afrika geschieht. Wenn eine Kolonie sich rühmt, bereits Industrie zu haben, und man hört im Nachsatz, daß die einzige Industrie die Herstellung von Bier betrifft, so weiß man, daß das eine Minus-Volkswirtschaft ist, denn die Schäden, die das Bier der Kolonie zufügt, sind weit größer als der Geldgewinn, den der Bierbrauer und der an der Steuer interessierte Staat einstecken. Da müssen Krankenhäuser, Irrenhäuser, Gefängnisse gebaut werden und die Kinder in besonderen Hilfsschulen unterrichtet werden, weil sie durch den Biergenuß der Eltern zu dumm geworden sind, um am allgemeinen Unterricht teilnehmen zu können. Ist aber der wirtschaftliche Götze erst einmal da, so wird er auch angebetet, und es dürfte nicht als ein Beweis menschlicher Freiheit gelten, wenn sich ein Volk dazu hergibt, schädliche Dinge zu konsumieren, weil sich die wirtschaftlichen Anlagen, die nun einmal da sind, verzinsen müssen. Welches Volk das mit in erster Linie ist, brauche ich hier nicht erst zu sagen.

Der Mensch tritt in dem heutigen Wirtschaftsleben in den Hintergrund. Industrie und Militär rühmen sich, eine Schule des Menschen zu sein, ihn zu höheren Bedürfnissen und größeren Fertigkeiten zu erziehen, das trifft wohl zum Teil zu auf das Militär, das in Deutschland wenigstens in steigendem Maße eine Schulung des Körpers und des Geistes und Schule für Hygiene ist, es aber da auch noch weit mehr sein könnte; aber gerade die Industrie treibt einen Raubbau mit den Kräften und mit der Gesundheit und ist schuld an der Verarmung des Familienlebens, und zwar ist die Schuld der Industrie eine doppelte: Sie verarmt die Seele der Hersteller, indem sie den Handwerkerstand vernichtet und den Menschen zu einem seelenlosen Teil einer Maschine macht, indem sie ihn obendrein dazu verurteilt, zwecklose, schäbige und gar schädliche Dinge herzustellen, in denen selbst schon völlige Unsittlichkeit liegt, und sie plündert und die Verbraucher verdirbt; sie benutzt die Staatsgewalt und die Presse dazu, dem Menschen unsinnige Bedürfnisse anzuerziehen. Der Mensch ist nicht mehr frei, er ist nur noch Konsument.

Die Schäden, die durch diese Entwicklung entstehen, sind auch in der heutigen Zeit bekannt, aber die Gegenmittel, die sie gebraucht, stehen unter dem Zeichen eines Zwiespaltes, einer Heuchelei, unsauberer Kompromisse, schwächlicher Mäßigkeit. Genau wie in der offiziellen Medizin zu gewissen Zeiten wird Symptombehandlung statt einer Gesundung des Ganzen vorgezogen. Mit dieser Symptombehandlung meine ich das unerfreuliche System der Dienstbeschädigungen, Krankenversicherungen und all der sozialen Pflästerchen, die die Wunde verdecken und so das Gewissen der Missetäter beruhigen sollen. Das alles erkennt die Lebensreform als unzulänglich an. Sie will eine Gesundung des Ganzen, eine Gesundheitskultur, eine Vorbeugung und eine Gewissenhaftigkeit, in der Krankheit als Schande gilt und nicht jeder Kranke von der eigenen Schuld freigesprochen wird, solange er noch irgendein Laster betrieb oder ihm nachgewiesen werden kann, daß er seine ihm gegebene fleischliche Gestalt gewissenlos verwaltet habe.

Die Schwierigkeit der Abhilfe ist größer als der Laie denkt, denn hier steht als Hüter des Schlechten eine Erscheinung, die überaus gewaltig ist und deren Wesen nur von einer Auslese von Menschen erkannt werden kann. Es ist die Tatsache, daß die Menschen sich durch gewisse Gifte berauschen und gerade bei dem mäßigen Gebrauch dieser Gifte ihre Urteilskraft derart trüben, daß sie weder die Unfreiheit, in der sie leben, noch eine Sehnsucht nach besserem Zustand empfinden. Selbst das Urteil über die nächstliegenden Dinge, über die täglichen Gewohnheiten ist dermaßen verhärtet und getrübt, daß die Menschen, die sich mäßig berauschen, rettungslos immer wieder hinuntergedrückt werden, wenn sie sich erheben wollen. Es gibt keinen Lebensreformer, der nicht froh wäre, wenn er von den Rauschgetränken überhaupt nicht zu sprechen brauchte, aber es ist unser Geschick, davon sprechen zu müssen: Die Befreiung vom Alkohol ist die Vorbedingung aller gesunden Entwicklung. Es ist, als ob Gott hier prüfen wollte, wer sich zum Kampf für das Höchste eignet: Hast du die Willenskraft zu diesem, dann darfst du eintreten in die Reihen der Kämpfenden.

Hier ist der Schlüssel zu jenem Ereignis, das 1913 die ganze öffentliche Meinung Deutschlands verwirrte und weshalb alle ewig Gestrigen sich einmal so sehr vor den Kopf geschlagen fühlten – die Tatsache, daß die auf dem »Hohen Meißner« bei Kassel versammelte tausendköpfige Jugend als erstes das Bekenntnis in die deutschen Lande hinausrief: »Bei uns gibt es keinen Tabak und keinen Alkohol.« Hier ist auch der Schlüssel für die Tatsache, daß in allen germanischen Parlamenten der Zukunft die erste und wichtigste Scheidung der Abgeordneten die Scheidung in Abstinente ist, in solche, die es erkannt haben, und in solche, die es noch nicht erkannt haben. Als zweites Hindernis der Abhilfe müssen wir erkennen, daß wir trotz allem naturwissenschaftlichen Denken kein wirklich biologisch-hygienisches Denken haben, daß unsere Instinkte völlig verkümmert sind. Über die Notwendigkeit der Lebensreform nach dem jetzigen Kriege dürfte nur eine Meinung sein. Der Einsichtige wird sich nicht mehr betören lassen von einer wohlorganisierten Beeinflussung der öffentlichen Meinung, wie sie das Kapital nach dem Kriege vornehmen wird.

Wie so oft in der Weltgeschichte, gibt es auch von dem großen Ereignis dieses Krieges aus nur zwei Entscheidungen, die der Mensch treffen kann. Die Eitelkeit und Nichtigkeit aller irdischen Bestrebungen ist uns zum Bewußtsein gekommen. Entweder wir begreifen nun, daß allen irdischen Gütern eine Eitelkeit anhaftet, und lassen uns auf ein Höheres hinweisen, das nur auf dem Wege der in reiner Gerechtigkeit, Liebe und Entsagung sich betätigenden Verleumdung des eigenen Selbstes erreicht werden kann, oder der Mensch verkennt diese höchste Bestimmung, und es bleibt ihm nichts übrig, als seine Erdentage zu genießen, solange es geht. Wenn sich die Menschen zu diesem Zweiten entscheiden, so üben sie jene feige Mäßigkeit, die nur an die Schädigung denkt, die uns in dem Wohlsein unserer empirischen Erscheinung hindern könnte, oder sie werden von den Giften überwältigt, worüber wir uns nicht entrüsten wollen, denn der Verunglückte, Beschädigte, Strafwürdige ist nicht schlechter als der mäßig Genießende, der es auch nicht erkannt hat. Beide verdienen unser Mitleid, und der Geschädigte noch viel mehr als der andere. Wenn nach dem Kriege wirtschaftliche Armut Lebensreform nötig macht, dann wäre das kein Fehler, denn auch das kann ein Ausgangspunkt der Besinnung sein.

Man spricht viel von den Aufgaben des Deutschen in der Zukunft. Wenn deutsche Menschen etwas wirklich Großes vornehmen wollen, was in der Geschichte der von uns beachteten Menschheit noch nicht vorgemacht worden ist, so ist es dies: reich sein und arm leben. Durch selbstgewollte Kargheit immer neue Kräfte aus sich gebären und immer bereit sein zum Aufstieg in das Geistige. Polemik über alle diese Dinge mag verwerflich sein und zwecklos und zu nichts führen – und doch gibt es eins, was den Menschen, die es noch nicht wissen, immer wieder vorgehalten werden muß von denen, die es wissen: daß der Weg, den wir zu gehen haben, nur erkannt werden kann von nüchternen Gehirnen.

Einer späteren Vorlesung mag es vorbehalten sein, auf die einzelnen Gebiete der Lebensreform einzugehen und so die Mittel zu nennen, die zu einer ewigen Verjüngung des einzelnen und der Menschheit dienen können. Alle diese Dinge sind nicht Geheimnis und doch in der Welt des ewig Gestrigen völlig unbekannt. Es ist in ihr verpönt, darüber zu sprechen. Es gibt aber eine Kulturgeschichte der Menschheit im Lichte der pythagoräischen Lehre, eine Geschichtsbetrachtung, die nicht nur von Völkerdünkel, Völkerhaß und dem Waffensieg stärkerer Völker spricht, sondern in der Selbstverleugnung, Mitleid und Nächstenliebe ihre schönsten Blüten treiben. Wer diese Geschichte aufschlägt, erkennt, daß die Wahrheiten der Lebensreform uralt und zu allen Zeiten dieselben sind.

Mephisto sagt zu Faust: »Dich zu verjüngen, gibt's auch ein natürlich Mittel; allein es steht in einem andern Buch und ist ein wunderlich Kapitel.

Faust: Ich will es wissen!

Mephisto: Gut! Ein Mittel, ohne Geld und Arzt und Zauberei zu haben: Begib dich gleich hinaus aufs Feld, fang an zu hacken und zu graben, erhalte dich und deinen Sinn, in einem ganz beschränkten Kreise, ernähre dich mit ungemischter Speise, leb' mit dem Vieh als Vieh und acht' es nicht als Raub, den Acker, den du erntest, selbst zu düngen! Das ist das beste Mittel, auf achtzig Jahr dich zu verjüngen!«

Heimatfreude, also Bodenreform, das ist Unabhängigkeit vom Kapital, eigene Gesundheit, deshalb karge Lebensweise, Licht, Reinlichkeit, frische Luft, Abkehr von allen schädlichen, unnatürlichen Reizmitteln, Freiheit des Denkens und Menschenwürde. Auf dieser Grundlage entwickelt sich ein neues geistiges Leben und eine Religion des Mitleidens und der Nächstenliebe.

Von welcher Seite man sich auch dem Gebiet der Lebensreform nähert, über kurz oder lang kommt man, wenn auch nach Zweifeln und mannigfachem Erlebnis, zu den gleichen Ergebnissen. Die Kenntnis der Alkoholfrage führt immer zur Abstinenz, die Kenntnis der Ernährungsfrage zum Vegetarismus. Licht- und Luftbäder reinigen nicht nur den Körper, sondern befreien auch von Häßlichkeiten des Sexuallebens, und das Zusammensein der Geschlechter wird frei und schön.

Das Wirtshausleben und die Stammtischgesellschaften verschwinden und machen einer wirklichen frohen Geselligkeit Platz. Für die Frage der Erziehung und in der Straffrage kommen neue Anschauungen. Die Stellung des Menschen zum Tier wird eine andere, das Recht der Tiere, das Recht des Kindes, das Recht des Verbrechers werden anerkannt, der Aberglaube der Medizin schwindet.

Lebensreform ist eine Weltanschauung und führt in eine neue Welt.


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