Georg Freiherr von Ompteda
Denise de Montmidi
Georg Freiherr von Ompteda

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVIII.

Es ging seinen Weg, wie alles im Leben seinen Weg geht. Aus Kleinstem ward Kleines, und aus Kleinem ward Größeres, aus dem Größern ward das Größte, und sie lebten wie Mann und Frau.

Sie bereute es nicht. Wenn der leise Schreck sie streifte, wohin sie geraten war, kam ihr immer wieder der Gedanke, der das stille Mahnen ihres Gewissens verscheuchte, wie der rauhe Sturm des Lebens, der die feinen Düfte windloser, stiller Stunden gewaltsam fortträgt: ›Kein Mensch kümmert sich um mich! Wem habe ich Rechenschaft zu geben? Jeder ist seines Glückes Schmied!‹ Und sie sagte sich: ›Soll ich mein Dasein im Elend verbringen, nur weil die Gesetze gegen mich sind? Weil meine Eltern zu moralisch sind, um mich zu kennen? Weil ich meines Herrn Bruders Raubtierpläne auf ein Millionenmädchen verdarb?‹

Der Gedanke kam ihr gar nicht mehr, Herrn Béranger zu sagen, sie wollte seine Frau werden. Was tat es? Änderte es etwas an ihrem Leben? Löschte das die Vergangenheit aus? Sie lachte darüber, lachte bitter. Und doch ward manchmal aus dem Lachen eine scheue Träne. Wer sie ertränkte diese Gefühle, die ab und zu in ihr aufstiegen, in der Gegenwart, in der Lust zu genießen, schöne Dinge um sich zu sehen. Was sie in den Museen langsam gelernt hatte, was nur Zeitvertreib gewesen war, wurde nun zur Leidenschaft.

Sie hatte Geld in Hülle und Fülle: Herr Béranger sparte nicht. Sie kaufte Kunstwerke zusammen, die auf sie Eindruck gemacht hatten in den Salons, in privaten Ausstellungen, und es kitzelte ihre Eitelkeit, wenn sie dort, ohne zu handeln, Summen zahlen konnte, bei denen sich mancher Kunstliebhaber überlegt hätte, ob er seinen sehnlichen Wunsch erfüllen dürfe.

Die nächste Folge davon war, daß die Wohnung nicht ausreichte. Herr Béranger ermahnte Denise nicht zur Sparsamkeit, er ermunterte sie vielmehr in ihren Plänen, er freute sich, wenn sie etwas schön fand. Auch er hatte Geschmack, wenn auch keinen tiefergehenden; er besaß die natürliche Mitgabe alter Kultur des Galliers im allgemeinen und im besondern des Bewohners der großen Stadt Paris. Der Platz mangelte, mehr aufzustellen wäre unmöglich gewesen, dann hätte die Wohnung wie ein Museum ausgesehen.

Und als Denise in ihrer Etage ein Jahr zugebracht hatte, überraschte Léon sie damit, daß er eines Morgens zu ihr kam und sagte:

»Denise, es ist mir gelungen, ein reizendes Hotel zu erwerben. Nur klein, aber wirklich hübsch.«

Dabei strahlte er über das ganze Gesicht und lachte sie an in der Freude des Schenkens, die ihm nun mal eigen war. Er konnte es nicht erwarten, das Haus mit ihr zu besehen.

Es lag wieder ganz in der Nähe vom Park Monceau, denn von seiner eigenen Wohnung durfte es nicht zu entfernt sein, das war Bedingung. Herr Béranger hatte alles neu herrichten lassen, es fehlten nur noch die Möbel darin. Denise ging mit ihm von oben bis unten. Es war entzückend. Die größte Freude aber empfand sie darüber, daß sie nicht mehr an der Tür des Ehepaares im ersten Stock vorüber mußte, vor allem aber des Junggesellen im Erdgeschoß, der sie jedesmal grüßte, wenn er sie im Hause traf, um dessen Lippen aber immer ein leises Lächeln zu schweben schien, das sie empörte.

Der Umzug fand statt, die Möbel paßten ausgezeichnet, und nur in den größern Räumen war es vielleicht noch ein wenig leer. Leer aber vor allen Dingen stand im Hof der Stall, der für vier Pferde und drei Wagen eingerichtet war.

Denise lief in der ersten Zeit in ihren Zimmern hin und her wie im Traum. Sie besah die seidenbespannten Wände, sie betrachtete die schöne Stukkatur, die herrlichen Marmorkamine. Sie ruckte die Möbel hierhin und dorthin, sie dachte sich immer etwas Neues aus. Die Bronzen wurden aus einem Zimmer in das andere getragen, die Gemälde umgehängt, und mit einem angeborenen Geschmack schuf sie bald aus den Räumen Kleinode, so daß Herr Béranger, als er eines Abends mit ihr die neue Anordnung der Zimmer durchmaß, einmal über das andere rief:

»Das nenne ich Geschmack!«

In diesem kleinen, verschwiegenen Hause, in dem Denise allein wohnte, ging Herr Béranger aus und ein, wie der Herr. Er trat vorn durch das große Portal ein, wo ihn der Portier jedesmal besonders artig grüßte, und er verließ es durch einen Ausgang nach hinten. Kein Mensch wußte, wann er kam und wann er ging, wie es seiner Würde als Vertreter des Volkes entsprach.

Denise begann sich für seine parlamentarische Tätigkeit zu interessieren. Sie bekam die Druckschriften, die den Abgeordneten zugingen, und vertiefte sich hinein. Zu allem, was sie nicht verstand, gab er ihr die Erklärung, und über alles hatte sie bald ihre Meinung.

Sie war nicht mehr das Mädchen bei den frommen Schwestern; nicht mehr die kindische Kleine zu Haus, die um den Mann gebeten hatte; nicht die junge Frau, die den großen Geldverlust aus Liebe ihrem Gatten verziehen hatte; nicht die Trauernde in Montmidi, der ein Tag hingeflossen wie der andere; sie war auch nicht die Heißliebende, als Henri einen Feuerbrand in ihr Leben geschleudert hatte; sie war nicht mehr die von ihren Eltern Verstoßene; nicht die Denise, die einsam von ihrem bißchen Geld in dem Pensionszimmer hauste. Die Vergangenheit lag weit hinter ihr, sie konnte manchmal kaum mehr fassen, wie sich ihr Lebensgang gestaltet hatte.

Sie war heute die Geliebte eines reichen Mannes, der keine Skrupel auftauchten, die ruhig dem Leben ins Antlitz sah, dem Leben, das da brutal und roh und gemein und rücksichtslos war, das keine Moral predigte, das keine sittlichen Werte schuf, das war, wie es war, das Leute glücklich werden ließ, sie wußten nicht warum, und unglücklich, ohne daß sie etwas dazu getan hatten, das die eine als anständige Frau sterben ließ und die andere als Dirne, während doch in beiden vielleicht der gleiche Keim gelegen hatte, gut oder böse zu werden.

Und sie fühlte sich nicht böse, sie empfand ihr Dasein nicht als Schmach, sie hatte sich versöhnt damit, daß sie nicht mehr zu der Gesellschaft, in der sie groß geworden war, gehörte, sie besaß einen gewissen Trotz und Stolz, daß sie nicht unten geblieben war, sondern sich ihr Leben selbst gezimmert hatte.

Jetzt hatte sie auch keine Angst mehr, ihren Angehörigen zu begegnen, wie das in den ersten Zeiten der Fall gewesen war. Sie meinte, wenn sie ihre Mutter träfe, würde sie nicht mit den Wimpern zucken. Wäre sie ihrem Vater begegnet, sie hätte ihn nicht gekannt. Und sie war überzeugt, daß ihr Bruder, träte er ihr einmal entgegen, für sie Luft sein würde, genau wie Robert, dessen Schicksal sie nicht einmal interessierte, von dem sie nicht wußte, lebte er weiter dort unten auf dem Gut mit jener Dicken oder hatte er eine andere Frau genommen, war er der Bauer geblieben oder wieder ein Weltmann geworden.

Ihre Vergangenheit war versunken, nur ein einziges Bindeglied gab es noch: Lucy! Aber auch das Kind, das sie nun so lange nicht gesehen hatte, liebte sie nicht mehr wie früher, als ihr seine Anwesenheit fehlte. Sie fragte sich manchmal, wie es nur möglich wäre, daß ihr Herz sie nicht drängte, die Kleine wiederzusehen? Nein, ihr Herz rührte sich nicht, es sagte nur: das Kind ist gut aufgehoben.

Doch gab es Augenblicke, in denen der kleine schwarze Kopf vor ihr erschien, in denen die dunkeln Augen sie anblickten, wo sie das dünne Stimmchen hörte, das da sprach: ›Mama, du mußt nicht weinen!‹

In solchen Stunden, wenn sie auch immer seltener wiederkehrten, wurde sie schwach. Dann schloß sie sich ein und war für Herrn Béranger nicht zu sprechen. Sie ließ sagen, sie wäre krank. Dann blieb sie in ihrem Schlafzimmer, und ein dumpfer Druck lastete auf ihrer Seele wie eine Migräne, die Migräne, von der der Diener Léon gegenüber gesprochen hatte. Der Gedanke quälte sie dann: ›Hatte man dem Kinde von der Mutter je etwas erzählt?‹ Und leise kam ihr das Bedürfnis, die Kleine doch einmal wiederzusehen. Lucy war wohl sehr gewachsen! Sie würde sie vielleicht nicht wiedererkennen!

Aber solche Gedanken gingen bei ihr schnell vorüber, sie wollte nicht mit Unmöglichkeiten rechnen. Wie sollte sie Lucy wiedersehen? Wie das Kind besuchen? Würde man ihr nicht die Tür weisen? Denise stimmte der Gedanke dann bitter, daß man der Kleinen vielleicht gar von der Mutter Böses gesagt hatte, daß ihr vielleicht gelehrt worden war, die zu verachten, die sie doch geboren hatte.

Dann ergrimmte sie in ohnmächtigem Zorn, aber er war nur von kurzer Dauer. Wenn am nächsten Tage Herr Béranger kam, war alles vergessen, und sie trat ihm wie gewöhnlich liebenswürdig und zärtlich entgegen, wie eine gute Hausfrau.

Denise sorgte für Léons geistiges und leibliches Wohl. Es gab bei ihr die tadelloseste Küche; sie brachte ihm nach Tisch ein Ruhekissen, wenn der sich noch jugendlich dünkende Mann es auch ablehnte. Sie legte ihm die Zigarre zurecht, sie schnitt sie ihm ab, sie steckte sie ihm an; sie lernte wählen je nach seiner Stimmung, ob er eine starke oder eine leichte brauchte. Sie sagte einmal:

»Nein, Léon, heute eine Zigarette.«

Oder:

»Heute hast du eine gute Zigarre verdient.«

Dann servierte sie den Tee mit ihren feinen, kleinen, graziösen Händen, die sie täglich sorgfältiger pflegte. Sie ließ sich die Nägel polieren und behandeln, ließ sich frisieren und baden, und ganz allmählich begann sie den Augenbrauen nachzuhelfen: an einer Stelle waren sie zu dünn, die Kunst ersetzte die Natur. Wenn sie dann so vor Léon stand in ihren duftigen Toiletten, die sie nur für ihn zu tragen schien, fragte sie jedesmal:

»Gefalle ich dir?«

Dann setzte sie sich ihm gegenüber und ließ sich aus der Deputiertenkammer erzählen. Sie kritisierte die Reden, die er gehalten hatte, denn er sprach jetzt im Palais Bourbon. Er war früher nur einer von jenen Hunderten gewesen, die immer nur die Fraktionsführer reden lassen. Jetzt aber, nachdem er auf Denisens Zureden einmal gewagt hatte, zu sprechen, und es bei seiner natürlichen Rednergabe ganz gut gegangen war, schien ein förmliches Fieber über ihn gekommen zu sein, bei jeder Gelegenheit das Wort zu ergreifen.

Abends beim Kaffee nach Tisch sprach er vor Denise zur Probe. Ab und zu unterbrach sie ihn, um etwas auszustellen, und sie hatte recht, sie hatte immer recht. Nicht daß sie seine sozialen oder politischen Ausführung ganz erfaßt hätte, aber mit dem natürlichen Instinkt des Weibes fühlte sie: ›Das wirkt nicht, was er jetzt sagt, er verliert sich zu sehr in Einzelheiten, er kehrt den Fachmann heraus.‹ Wenn sie ihn dann unterbrach, so führte sie ihn von seiner Abschweifung auf den geraden Weg zurück, so daß seine Reden an Klarheit und Übersichtlichkeit gewannen und nun allgemein verständlich blieben.

Um den Eindruck besser abschätzen zu können, sagte sie ihm dann wohl:

»Léon, aufstehen!«

Gehorsam erhob er sich, setzte die Tasse fort, legte die Zigarre hin, und dann predigte er ihr in dem kleinen Salon vor, immer lauter und begeisterter. Er erwärmte sich dafür, allen Menschen müsse die Möglichkeit zu menschenwürdigem Dasein gegeben sein, und die Reichen hätten ihr Teil dazu beizutragen. Es kam ihm vielleicht nicht ganz von Herzen, und er wurde etwas nüchtern. Denise rief dann:

»Mehr Wärme, mehr Schwung!«

Sie bezeichnete ihm, wo er wieder anfangen sollte. Dann begann er von neuem an der Stelle, wo sie das Feuer vermißt hatte, strengte sich an, steigerte seine Leidenschaft, und sprach vom Segen der Familie, vom Glück der Häuslichkeit, das auch dem Ärmsten gegeben werden müsse. Er redete nun mit Wärme, indem er eigentlich nur seine eigenen Empfindungen wiedergab, daß er als alternder Mann wieder ein Heim gefunden hatte nach langer Heimatlosigkeit.

Es klang ernst, es klang moralisch. Er war seiner Wirkung gewiß. Endlich schloß er, und Denise unterbrach ihn nicht wieder:

» ... und mögen wir dahin in unserm herrlichen Vaterlande kommen, daß das Wort Heinrichs IV. vom Huhn im Topf für jeden Franzosen gilt, daß der Arbeiter zu Hause eine Häuslichkeit findet, die ihn ausruhen läßt von seiner angestrengten Tätigkeit, ein liebendes Weib und eine Schar heranwachsender Kinder, denn die Zukunft für unser Volk liegt in der Familie, in der Heiligkeit der Ehe, im Glück des häuslichen Herdes!«

Herr Béranger war ganz außer Atem, seine Augen funkelten; noch benommen von seinem Gegenstand, streckte er Denise beide Hände entgegen und fragte:

»Wird das wirken?«

Sie meinte, nicht ohne Stolz, denn sie fühlte, daß ihr Einfluß ihm die Zunge beflügelte:

»Wenn du morgen genau so sprichst wie heute, so werden sie Beifall klatschen.« – –

Den Sommer über blieb Denise ruhig in Paris, sie fühlte sich so wohl in ihrem kleinen Hotel, daß sie keine Sehnsucht empfand, die Stadt zu verlassen. Eine industrielle Krise hatte übrigens Herrn Béranger genötigt, nach Carmeaux zu gehen. So konnte er Denise nicht, wie es eigentlich sein Wunsch gewesen war, ins Seebad schicken. Und der Aufenthalt in Paris war Denise um so weniger schrecklich, als alles seinen regelmäßigen Entwicklungsgang unerbittlich weitergeschritten war. Sie besaß jetzt eine Equipage. Sie fuhr täglich zweimal aus. Aber niemals zeigte sie sich mit Léon, und sie ging auch nie in die Deputiertenkammer, um ihn etwa reden zu hören. Er hatte es gewünscht, doch sie antwortete:

»Nein, das fällt auf, ich bin nicht eitel.«

Sie war es in der Tat nicht. Sie besaß nicht das Bedürfnis, zu prunken und sich zu zeigen, wollte nicht durch Toilettenpracht blenden, etwa in einer Loge der Großen Oper durch den Schmuck die Augen auf sich ziehen. Sie war wie eine zurückhaltende Dame geblieben. Sie hatte nicht den Wunsch, von sich reden zu machen, sie wollte im Dunkel bleiben. Der Name paßte für sie, den Herr Béranger in einer Liebesstunde für sie gefunden hatte: ›Hausmütterchen!‹

Aber Schmuck und Schönheit liebte sie trotzdem, nur nicht für die Öffentlichkeit. In ihren vier Pfählen jedoch sollte alles vom Herrlichsten und vom Besten sein und dabei vom reinsten und einfachsten Geschmack. Sie war bemüht, jedes Stück, das ihr dem nicht zu entsprechen schien, noch aus der ersten Einrichtung Bérangers stammend, zu entfernen und durch anderes zu ersetzen.

Sie besuchte wieder die Museen, trat mit Sammlern in Briefwechsel, machte allmählich aus ihrem Hotel ein Museum voll der wunderbarsten Kostbarkeiten, und sie verstand es, ihr Haus so einzurichten, daß einem nie der Gedanke kommen konnte: dieser Gegenstand war dorthin gestellt, um zu prunken, diese Statue stand dort, weil sie von Rodin gebildet war, jenes Bild hing an der Wand, weil es Manet gemalt hatte, sondern alles fügte sich in die Umgebung hinein oder wuchs vielmehr aus ihr heraus.

Es war in diesem Heim ein gewaltiger Luxus, nur nicht Prachtliebe, sondern überfeinerte Kultur. Der wunderbarste Geschmack, dem nirgends durch das Geld eine Grenze gezogen schien. Sie hatte Schnitzereien aufgestellt aus der Zeit Ludwigs des Heiligen; ihr kleiner Salon enthielt Stücke aus dem persönlichen Besitz der Marie Antoinette, ihr großer nur Möbel, die einst der Sonnenkönig für die Trösterin seines Alters hatte machen lassen. Wunderbare seidene Gebetsteppiche nannte sie ihr eigen, eine Sammlung von Plaketten und Medaillen des Mittelalters hatte sie in einem Gang aufgestellt, der nach der Gartenfront des Hotels führte. Das war das einzige, das wirklich an ein Museum gemahnte.

In diesen Räumen waltete sie wie ein stiller, unaufdringlicher Geist; sie war Dame geblieben, obwohl sie für die Welt nicht mehr Dame war.

Sie liebte die kostbarsten Stoffe, die schwersten Seiden, sie kleidete sich mit ungeheurem Raffinement. Lächelnd gab Herr Béranger das Geld. Es verstand sich von selbst, es war nie darüber die Rede, und das brachte in ihre Beziehungen nie etwas von Schmutz und Handel.

Ein wunderbares Bad hatte sich Denise herrichten lassen, einen Anbau nach den besten Mustern römischer Thermen. Dort pflegte sie ihren Leib, nur aus Freude an der Schönheit; es war ein geheimer Luxus, den sie sich selbst bot, von dem niemand etwas ahnte.

Nie wieder war ihr der Gedanke gekommen, Léon zu bitten, mit ihr vor den Altar zu treten. Sie war immer still, sie war bescheiden, sie war jetzt gewöhnt an dieses Dasein, eine Ehe hätte ihr nicht mehr geben können, als sie besaß.

So ward es wieder Winter und wieder Sommer, und im ruhigen Gleichmaß der Tage ging die Zeit hin ohne Aufregung, ohne Änderung.

Denise vermehrte langsam die Kunstwerke in ihrem Hotel, sie sorgte für ihre Kleidung, sie sann sich Neues aus und immer nur für das Haus, nicht für das Auge der Menschen. Der unerhörte Luxus, der sie umgab, tat ihren Sinnen wohl, sie verlangte nichts anderes, und das hätte so Jahre und Jahre weitergehen können, wäre ihr nicht eines Tages die Möglichkeit vor Augen getreten, daß sich das plötzlich ändern könnte. Als sie mit Léon im kleinen Salon saß, den sie besonders liebte mit seinen zierlichen, koketten Möbeln, stand Herr Béranger plötzlich auf, preßte das Taschentuch an die Lippen und atmete schwer. Er tupfte sich die Stirn. Erschrocken erhob sich Denise:

»Um Gottes willen, was ist denn?«

Er sagte:

»Nichts, nichts, mir ist nur etwas sonderbar. Ich weiß gar nicht, das habe ich doch noch nie gehabt!«

Dann ließ er sich in einen Stuhl sinken, als wollten die Beine die Last seines Körpers nicht mehr tragen. Er lehnte sich zurück. Denise bemühte sich um ihn, und nun sah sie, wie ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Sie erschrak:

»Herrgott, was fehlt dir denn? Was fehlt dir denn?«

Er gab keine Antwort, er hatte die Augen geschlossen. Sie dachte daran, einen Arzt rufen zu lassen, für den Augenblick öffnete sie wenigstens das Fenster; es war im Vorfrühling, und trotz der schönen Tage strömte die Abendluft ziemlich kühl herein.

Das schien ihn zur Besinnung zu bringen. Er richtete sich auf. Sie hatte geklingelt, ein Glas Wasser wurde gebracht, er trank ein paar Tropfen, dann blickte er sie wie geistesabwesend an. Er tupfte sich die Stirn, erhob sich und ging auf und ab.

Das Taschentuch geballt in der kleinen Hand, blieb Denise stehen und sah diesem sonderbaren Beginnen zu. Sie sagte erschrocken:

»Aber bitte, erkläre mir doch einmal, was ist denn geschehen?«

Jetzt begann er zu lächeln, ihm war wieder ganz wohl, er hatte ein paar Knöpfe der Frackweste geöffnet und antwortete: »Das war ganz merkwürdig! So was ist mir doch noch nie passiert!«

Sie bat dringend:

»Aber so sage mir doch, was dir fehlt?«

»Es ist schon vorbei«, meinte er nur.

Doch sie schob ihm einen Stuhl hin, hielt seine Hand und fragte:

»Dir war wohl schlecht? Bist du krank? Ich glaube, ich werde doch einen Arzt holen lassen.«

Sie erhob sich und wollte klingeln, aber er drückte sie wieder auf den Sessel nieder. Er war gerührt über ihre Fürsorge, zog ihre Hand an seine Lippen und sagte nur, indem er sie mit noch etwas mattem Blick, aber doch liebevoll ansah:

»Ja, wenn ich dich nicht hätte!«

Sie meinte eindringlich:

»Nun erzähle mir mal, was war denn eigentlich?«

Da sagte er, und es klang ein wenig theatralisch, er malte es ihr vor, indem er aufstand, genau wie wenn er ihr seine Reden für die Kammer hielt:

»Es flimmerte mir vor den Augen, dann kam eine Wolke, und dann dachte ich: ›Du bist weg!‹ Mir war so sonderbar zumute, ein Druck auf den Magen, ich fühlte, mir wurde ganz kalt, und der Schweiß trat aus. Ich glaube, ich war ein paar Augenblicke ganz weg. Dann wachte ich wieder auf, und dann habe ich Wasser getrunken, und das andere weißt du ja.«

Aber er wiederholte mehrmals:

»Das ist ein ganz sonderbarer Zustand.«

Es ging vorüber, er steckte sich sogar später am Abend noch eine Zigarre an, und ehe er ging, sagte er nur nachdenklich:

»Es schadet nichts, wenn es nur nicht wieder kommt.« Dann dankte er ihr für all ihre Liebe und sprach von einem großen Unrecht. Er war bewegt wie seit langer Zeit nicht. Am andern Mittag brachte er ihr ein paar Blumen, und nach dem Frühstück, als er die Tasse Mokka schlürfte, sagte er:

»Komm mal her, Denise, wir wollen miteinander reden.«

Dann sprach er, wie er noch nie gesprochen hatte. Von seinem möglichen Ende, als hätte ihn gestern der Tod leise berührt:

»Wenn es einmal aus ist, dann möchte ich doch für dich gesorgt haben, daß dir deine Liebe und Aufopferung vergolten würde. Mein Gott, ich hätte es vielleicht gleich tun sollen, ich habe ein Unrecht an dir begangen, ich habe dich ganz leise hineingleiten lassen in diesen Zustand, der – nun sagen wir es ehrlich – der vor Priester und Gott nicht besteht und nicht recht ist. Du hättest meine Frau werden sollen; ich will dir einmal gestehen, weshalb ich das nicht getan habe, ich wollte dir längst schon das Geständnis machen. Es ist, was du wahrscheinlich gar nicht ahnst, ich – ich – –«

Er zögerte, als wagte er es gar nicht zu sagen, endlich platzte er damit heraus:

»Ich habe nämlich eine Tochter.«

Sie war sehr erstaunt – davon hatte sie noch nie etwas gehört – und sie sagte nur:

»Ach!«

Da setzte er ihr auseinander, daß er nicht bloß Witwer wäre, sondern aus seiner Ehe eine bereits verheiratete Tochter besäße. Sein Schwiegersohn lebe dort drüben in Carmeaux; er führe die Geschäfte, und das mache es ihm, Béranger, möglich, den Wahlkreis hier in Paris zu vertreten.

Denise hatte sich oft schon darüber gewundert, daß Léon verhältnismäßig wenig in die Provinz fuhr; damit war es erklärt. Nun entschuldigte er sich gewissermaßen: seiner Tochter würde durch den Luxus, den er mit Denise hier in Paris trieb, nichts entzogen, denn er hätte ja so viel Geld, so entsetzlich viel Geld.

Er lächelte dabei vor sich hin und machte eine Bewegung, als läge das Geld haufenweise ihm zu Füßen, und er stieße es von sich, um Platz zu haben.

Dann rückte er mit weiteren Geständnissen heraus, eines fügte sich zum andern, und allmählich kam es heraus: er war Großvater. Ja wirklich, er war Großvater. Dabei strich er sich über das Haar, das sich im Laufe der Jahre, die er nun Denise kannte, allmählich von einem natürlichen starken Grau mit Hilfe des Friseurs zu einem künstlichen Rotbraun verändert hatte. Denn er hatte immer das Bestreben gehabt, nur ja jung zu erscheinen, wie er es noch in Figur und Auftreten war.

Als er gesagt hatte, er wäre Großvater, fügte er schnell hinzu, immer bemüht, sein Alter zu verbergen:

»Ich habe aber auch ganz jung geheiratet, und meine Tochter wieder war noch nicht achtzehn Jahre alt, als sie ihren Mann nahm.«

Denise antwortete nichts, sie wollte in seine Familienverhältnisse nicht eindringen, und er war ihr dankbar dafür. Er ließ mehrmals eine Äußerung fallen wie: »Ich werde jedenfalls alles ordnen!«

Aber er ging noch immer nicht daran, er war viel beschäftigt, und das Unwohlsein, das ihn zu solcher Überlegung geführt hatte, war spurlos vorübergegangen, kehrte auch nicht wieder.

Es trat bei ihm der Fall ein wie bei vielen Leuten, die noch nicht gerade alt und dabei körperlich rüstig sind, nie krank waren und nun denken, sie müßten mindestens noch zwanzig oder dreißig Jahre leben: die Abfassung des Testaments – denn das war sein Gedanke gewesen – worin er Denise bedenken wollte, schob er hinaus von Tag zu Tag. – –

So ging wieder ein Jahr vorüber, und nichts änderte sich. Sie fuhr in das Bois, sie machte Besorgungen, sie traf nachmittags Herrn Béranger irgendwo in einem nicht belebten Viertel. Sie ging mit ihm spazieren. In keiner Beziehung fiel sie auf. Sie war zwar tadellos angezogen, aber sie suchte möglichst unauffällig zu sein; sie prunkte nicht mit Eleganz, und jeder Mensch, der das Paar sah, mußte sich sagen, es sind Mann und Frau, oder es ist ein Herr, der eine bekannte Dame in der Stadt getroffen hat und sie ein Stück begleitet.

Zu den Erstaufführungen in den Theatern erschien Denise nicht. Sie zeigte sich niemals in einer Loge mit Herrn Béranger. Sie war immer allein; ja, sie ging überhaupt selten abends aus, sie interessierte sich nicht für Theater und Vorstellungen, sie liebte nichts so sehr wie ihr Heim.

Dort wurde sehr spät gegessen, denn Herr Béranger kam gewöhnlich nicht vor acht Uhr. Dann dachten sie nicht mehr daran, auszugehen; denn er hatte tagsüber gearbeitet für seine eigenen Unternehmungen, für seine Kammertätigkeit, und war müde.

In die Beziehungen der beiden war eine ruhige Stetigkeit gekommen, wie bei einem lang verheirateten Ehepaar. Léon war immer voller Aufmerksamkeit, ritterlich wie am ersten Tage. Trotzdem quälte Denise ein Gedanke, und einmal nach Tisch, als sie wieder in dem kleinen Salon saßen, fragte sie ganz unvermittelt:

»Du mußt mir einmal etwas sagen, nur um mich zu beruhigen.«

Er lächelte. Aber sie machte ein so ängstliches Gesicht, daß er die Stirn in Falten legte:

»Bitte, was ist denn?« Da setzte sie sich an seine Seite und begann:

»Du sollst mir eine Sicherheit geben. Wenn die Verhältnisse es nicht verböten, wenn ich nicht daran dächte, daß ich eine geschiedene, davongelaufene Frau bin, wenn du nicht eine Tochter und Enkel hättest, kurz, wenn nichts entgegenstände, hättest du mich dann zu deiner Frau gemacht?«

Die Falten glätteten sich auf seiner Stirn, er preßte ihre Hand, ein Lächeln ging über sein Gesicht, und er sagte einfach:

»Gewiß, ganz bestimmt.«

Sie blickte ihn flehend an:

»Kannst du das schwören?«

Er ließ ihre Finger los und hob die Hand wie zum Schwur:

»Ich kann einen Eid darauf ablegen.«

Da seufzte sie erleichtert auf, ihr Gesicht verlor seine Harte, die gespannten Züge wurden weich, und sie sagte wieder aufatmend:

»Das wollte ich nur einmal hören, nur einmal hören! Nun ist alles wieder gut.«

Er fragte:

»Hast du – – – Gewissensbisse?«

Sie starrte vor sich hin, dann sah sie ihn an:

»Ach nein, es kam mir nur so eine Idee. Mit dieser Versicherung bin ich zufrieden.«

Sie schlug die Augen nieder; langsam fragte sie:

»Weißt du, was ich getan hätte, wenn du es mir vorgeschlagen hättest?«

Er blickte sie an:

»Nun?«

Sie stand auf und sagte ruhig:

»Ich hätte nein gesagt!«

Auch er erhob sich. Er nahm ihre Hände und zog sie die Schultern herauf, daß sie sich um seinen Hals schmiegten, dann blickte er ihr in die Augen und fragte langsam: »Aber warum?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ist das nicht der Traum jeder« – er fuhr nicht fort und verbesserte sich:

»Ich meine, hättest du das nicht wünschen müssen?«

Als sie antwortete, war ihr Gesicht ganz ernst geworden, und langsam nickend meinte sie:

»Fahre nur ruhig fort, ›jeder, die so ist, wie ich bin‹, willst du doch sagen.«

Er antwortete eifrig:

»Aber nein, nein, durchaus nicht! Du irrst dich, wirklich, ich habe mir nur die Worte nicht überlegt.«

Ihre Augen verschwammen, und sie sagte:

»Ach, warum willst du es leugnen, ich weiß ja, was ich bin, ich weiß, wie ich geworden bin. Bin ich deine Frau? Nein! Ich will deine Frau nicht sein, ich würde es nie sein wollen! Eine wie ich, was soll denn das helfen? Was hätte ich davon? Hast du nicht ganz richtig gefühlt, daß du mich deiner Tochter nicht ins Haus bringen konntest? Nachdem ich so aus Montmidi geschieden bin, eine ehebrecherische Frau, deren Liebhaber vom Mann erschossen wird, eine Frau, die jahrelang ohne eine Miene zu verziehen mit einem Manne gelebt hat, die sich von ihm Haus und Pferde und alles schenken läßt?«

Sie machte eine abwehrende Bewegung und rief ein:

»Pfui!«

Dann riß sie sich von ihm los und ging langsam im Zimmer hin und her, indem sie ab und zu verstohlen mit der Spitze des kleinen Fingers sich die Augenwinkel wischte.

Herr Béranger wußte diesem plötzlichen Ausbruch von Reue gegenüber nicht recht, was er sagen sollte. Er meinte besänftigend:

»Aber um Gottes willen, Denise, so habe ich dich ja noch nie gesehen! Was hast du denn nur heute? Ja, ich weiß schon, ich habe schlecht an dir gehandelt, ich weiß es, aber so sind wir nun mal alle, so werden wir hier in Paris!«

Sie blieb stehen:

»Mein Gott, ich hab's doch auch nicht anders verlangt, ich bin dir dankbar, sehr dankbar.«

Er antwortete kleinlaut:

»Dankbar! Wie das klingt!«

Aber sie lachte laut auf:

»Ach was, das ist ja alles ganz gleich, nur lustig, lustig! Was ist denn an so einem Menschenleben gelegen! Wenn es nun einmal verschustert und verdorben ist, ist nichts damit anzufangen! Weißt du, daß es jetzt zehn Jahre her sind, daß ich als Mädchen das Haus meines Vaters verließ? Zehn Jahre, mein Gott, was ist da alles passiert! Aber wir können's nicht ändern, wir leben nur einmal, wir können nicht von neuem beginnen, es ist nichts mehr rückgängig zu machen. Und wozu rückgängig machen? Ich bin ja zufrieden so, bin glücklich so, ich bin furchtbar, furchtbar glücklich!«

Dabei schossen ihr plötzlich die so lange zurückgehaltenen Tränen aus den Augen. Sie begann zu weinen, daß ihre Schultern zuckten, ihr ganzer Körper bebte. Sie lief hinaus.

Er eilte ihr nach. Sie war ins Schlafzimmer gerannt. Dort warf sie sich auf das kleine, geschnitzte Betpult, ein Kleinod des vierzehnten Jahrhunderts, und barg das Gesicht in den Händen.

Er umfaßte sie, aber sie stieß ihn zurück. Da nahm er ein Bänkchen, schob es nahe heran, und der starke, große Mann kniete darauf nieder. Er redete ihr zu, ganz weich geworden, und bat sie um Verzeihung für das, was er an ihr getan hatte. Er wäre ja so glücklich mit ihr gewesen, und er wolle alles wieder in Ordnung bringen. Er hätte eine Idee, eine wunderbare Idee, ja, die wolle er ausführen.

Er erzählte ihr mit fliegendem Atem einen ganzen Plan. Er habe die Absicht, aus seiner Firma auszutreten und sie ganz seinem Schwiegersohn überlassen. Das große Kapital solle dort bleiben als Erbteil schon bei Lebzeiten für seine Tochter und seine Enkel. Er selbst werde sich nur eine gewisse Summe zurückbehalten, vielleicht eine Rente, die ihm ausgezahlt werden sollte. Dann werde er Abschied nehmen von seiner Familie und Denise heiraten und ganz allein mit ihr leben, so wie sie bisher allein gelebt hatten. Er wolle das Kammermandat niederlegen, und sie würden auf ihren Lebensabend zwei glückliche Menschen werden.

Es kam ihm wirklich vom Herzen, er war gerührt durch dieses hingebende Wesen, das ihm Jahre des Daseins geopfert hatte, ohne je ein Wort zu verlieren, das er liebte nach seiner Art, wenn er es auch bei seinem Alter, dem das Feuer der Jugend fehlte, nicht wild und leidenschaftlich zeigen konnte. Er wollte ihr den späten Dank abstatten für all ihre Treue und Hingebung.

Aber Denise schien gar nicht zuzuhören. Sie hatte die Hände gefaltet und preßte sie gegen die Augen, und unablässig bewegten sich ihre Lippen: sie stammelte ein Gebet. Es waren die herkömmlichen Worte, wie sie sie einst im Kloster gelernt hatte, wie sie täglich von Millionen Gläubigen gesprochen wurden; aber hinter diesem Äußern stand ihr Herz. Sie legte der reinen Jungfrau ihre Unreinheit zu Füßen, bat sie, Mitleid zu haben mit der Kreatur, die das Leben hin und hergeworfen, die auf ihren Wegen immer noch den Lichtstrahl empfand, der von oben in ihr armes Dasein leuchtete, und nur den einen Wunsch hatte: ›Hinauf, hinauf in die reine Sphäre, in die ich nicht mehr gehöre!‹

Sie vernahm dabei immer Léons Erklärungen neben sich, sie hörte, wie er ihr die Ehe vorschlug, der sie nicht mehr wert zu sein wähnte, und sie rief nur abwehrend, mitten in ihrem Gebet, während ihr Geist bei der Gottheit weilte, um Verzeihung von ihrem Fehl und Irrtum zu erlangen:

»Lassen Sie mich! Lassen Sie mich, ich will nicht! Ich will nicht!«

Er begriff sie nicht, er suchte sie zu umfassen, legte seinen Arm um ihre Schulter, griff um ihre Taille und flehte:

»Denise, meine kleine Denise, sei doch gut, höre doch zu, es wird ja alles gut werden!«

Aber sie stieß ihn von sich, riß sich von ihm los, sprang auf, lief durch das Zimmer und streckte die Hände in die Luft, die Finger zusammenkrampfend. Dann rief sie wie in einem hysterischen Anfall, indem ihr Gesicht sich zu einer Grimasse verzog:

»Nein, nein, ich will nicht! Ich will nicht! Ich will nichts weiter als Ruhe und Frieden! Gehen Sie hinaus, ich kann's nicht ertragen! Gehen Sie hinaus!«

Herr Béranger erhob sich. Es ward ihm schwer, sich aufzurichten, die Knie waren ihm steif geworden in der ungewohnten Stellung, und er zog langsam die herausgerutschten Beinkleider herab. Er starrte Denise mit offenem Munde an, er begriff nicht, was geschehen war, er meinte, sie hätte den Verstand verloren. Aber ihr Ausdruck war so drohend und ihre Gebärde so befehlend, daß er zurückwich und langsam hinausging, während er immer diese Frau ansehen mußte, die da stand mit verzerrten Zügen, mit groß aufgerissenen Augen, die nichts mehr von Schönheit, von Ruhe und Milde an sich zu haben schien.

Als er gegangen war, lief Denise an die Tür, schloß sie zu, taumelte ans Bett, sank in die Knie und blieb schluchzend liegen. – –

Es war eine Stimmung, die vorüber ging, ein moralischer Zusammenbruch, aus dem sie sich wieder erhob; aber trotzdem kam ihr eins, der Gedanke an den Trost, den sie einst in frühern Kummerstunden ihres Lebens empfunden hatte, wenn sie ihr Elend vor den Thron des Höchsten brachte.

Denise war hier in Paris, seitdem sie sich in dem neuen Hotel befand, nicht mehr zur Kirche gegangen; sie hatte das Gefühl, als besäße sie kein Recht mehr, dort zu weilen, als müsse ein flammender Engel sie aus dem Gotteshause weisen.

Nun kehrte sie doch dahin zurück. Jeden Nachmittag ging sie in die kleine Kirche Sainte Geneviève. Sie trat vorsichtig ein, bescheiden, zurückhaltend.

Im Gotteshause war es sehr dunkel, es lag hineingebaut zwischen mächtige Gebäude. Man hatte immer davon gesprochen, daß Sainte Geneviève einmal modernen Mietspalästen weichen müßte, aber die sozialistische Stadtverwaltung hatte sich bisher doch gescheut, die Kirche Erwerbszwecken zu opfern. Die Nebenhäuser waren fast bis an das kleine Gotteshaus herangebaut worden, gering war der Raum zwischen den hohen, bemalten Scheiben der Fenster und den gewaltigen Mauern der Gebäude nebenan. Das Licht des Tages drang nur spärlich durch das Glas und konnte das Innere nicht durchleuchten. Es war still in dem kleinen Raum, in den kein Geräusch der Straße klang. Hinter den beiden Windfängen, die man durchschreiten mußte, schien die Welt des Luxus und der Armut, des Glückes und des Elendes, das ganze übrige Paris versunken und vergessen.

Es herrschte auch an hellen Tagen immer eine Dämmerung hier, die den Augen und verwundeten Gemütern wohl tat. Denise setzte sich auf die erste Bank unter dem Chor, wo es am finstersten war und man beim Eintritt aus der Helle nicht einmal sah, ob jemand dort weilte oder nicht.

Die eleganten Bewohner des reichen Stadtviertels besuchten Sainte Geneviève. Es war keine Kirche für die Armen und Enterbten des Glücks, es war ein Gotteshaus für die reichen Leute, die sich beinahe alle untereinander kannten, und für die Ausländer, die in diesem Viertel wohnten.

Der Pfarrer, der die Messe las, war auch kein gewöhnlicher Geistlicher, wie der dicke Vikar in Montmidi, der seine Bauern zu nehmen wußte, sondern ein schlanker, großer Priester mit seidener Schärpe und untadeliger Soutane, ein Priester mit hohlen Wangen und starker Nase, mit tiefliegenden, schwarzen, leuchtenden Augen, ein Mann, der bei seinen feinen Zügen, seinen wohlgepflegten Händen, seiner eleganten Figur etwas hatte von einem Manne von Welt.

Denise sah diesen Priester die Messe feiern und hörte ihn von der Kanzel sprechen, oratorische Meisterreden, dem Stand und Gesichtskreis seiner Hörer schmiegsam angepaßt.

Er redete oft von Dingen, die nur einen leisen Zusammenhang mit der Kirche zu haben schienen; er erzählte von Kunstwerken gotischer Kirchenbaukunst, von Altarschreinen, von Heiligenbildern mit überirdischen Augen alter Meister, die mit frommem Gemüt gestaltet und ihr Innerstes wiedergebend wahr gewesen waren, so daß man heute vor ihren Schöpfungen mit einem Schauer im Herzen stehe. Er redete von der Vertiefung, die diese Kunstwerke gewährten, wie sie zu Gott und dem Glauben führten durch den tief gläubigen Sinn, der sie einst geschaffen hatte.

Er redete mit kirchlichen Worten, er sprach in tiefen Herzenstönen, und doch war alles weltweise und weltgewandt. Man hatte das Gefühl, als stände dort vor dem Altar, auf der Kanzel, einer, der einst selbst heiß am Leben gehangen, der aber noch in jungen Jahren den rechten Weg gefunden hatte, die Lösung all dieses weltlichen Wirrwarrs: den Frieden Gottes, der höher ist denn alle Vernunft!

Denise saß abseits im Dunkel. Dort störte sie niemand, denn die andern Damen setzten sich vorn ins Licht. Sie betrachtete die ganze Handlung fast wie eine Gelegenheit, gegenseitig Schmuck und Toiletten zu sehen, sich zu zeigen und andere zu bekritteln, um sich nach der Messe dann draußen zu treffen und zu sprechen: ›Wie geht es Ihrer Frau Gemahlin? Wie geht es Ihrem Gatten? Was machen die Kinder?‹

Denise gehörte nicht hinein in diesen Kreis, und länger als die andern, die hinausdrängten, einander noch draußen zu sehen, blieb sie sitzen.

Allmählich tat sie noch mehr; der Gang hierher ward ihr zur täglichen Gewohnheit, genau wie damals in der kleinen Kirche in Montmidi, wo sie gesessen hatte beim Zucken der ewigen Lampe, brütend über ihrer Vergangenheit und ihrem Unglück. Jetzt saß sie hier jeden Tag, dachte nach über ihr Leben und ihr Dasein. Und jeden Tag verließ sie das kleine Gotteshaus gekräftigt und gestärkt.

Aber sie ging nicht zur Beichte; sie hatte Furcht vor diesem Priester mit den schwarzen ernsten Augen, sie hatte Furcht, ihm die Todsünden zu gestehen, die sie begangen hatte, ihm zu sagen, wie lange sie ohne Absolution geblieben war. Sie hatte Angst, ihm bekennen zu müssen: ›Das bin ich! So lebe ich, so bin ich schuldig geworden!‹

Die übrigen Stunden des Tages aber wachte die Welt wieder in ihr auf, und dann ging sie auf die Suche nach Kunstwerken, wie sie es die Jahre hindurch getan hatte. Sie ging in die Ausstellungen, und ganz allein, wie einst als junge Frau, schritt sie durch die Avenue de l'Opéra und die Rue de la Paix über die Boulevards und durch die Arkaden der Rue de Rivoli. Dort blieb sie an den Läden stehen und freute sich an dem Funkeln der Brillanten, an dem roten Leuchten der Rubine, dem Glühen der Smaragde, an dem matten Glanz der Perlen. Ihre Equipage hatte sie warten lassen. Der Kutscher mußte nebenher fahren, immer sie im Auge behaltend, damit sie jeden Augenblick sich aus dem Menschengewühl retten und einsteigen könnte, um zurückzukehren in ihr Hotel.

Als Denise eines Tages wieder vor einem Juwelier stand, hörte sie neben sich sagen: »Gott, ist das eine schöne Frau!« Und in der glänzenden Scheibe gewahrte sie vor demselben Schaufenster zwei große Herren stehen, deren Gesichter sie in der Blendung nicht erkannte, von denen sie bloß die Zylinder spiegeln sah, einer höher als der andere. Sie wandte sich ab und ging weiter.

Es war ihr geschehen wie in frühern Tagen, als es ihr Spaß gemacht, daß die Herren sie anstarrten, als Léon sie einst angeredet, als man sie verfolgte, als man sie entkleidete mit den Blicken. Aber sie gab keinen Augenstrahl zurück, sie ging still und ruhig ihres Weges. Doch an einem Schaufenster sah sie wieder die beiden Zylinder, ungleich hoch, hinter sich spiegeln, und sie hörte ganz deutlich, als wäre es für ihr Ohr berechnet gewesen: »Sie ist reizend!«

Da überschritt sie die Straße, vorsichtig den daherbrausenden Equipagen, heranrollenden Automobilen, einem gewaltigen Omnibus ausweichend. An der andern Seite ging sie weiter, aber ihre Verfolger hatten sie eingeholt. Sie blickte sich nach ihrem Wagen um. Sie mußte dabei an den beiden vorübergehen, von denen der eine, wie sie flüchtig sah, gewiß so groß war wie Herr Béranger, der andere noch einen Kopf höher. Sie trugen weiße Handschuhe und lange Gehröcke; riesige Kragen wuchsen ihnen bis ans Ohr und bis unter das Kinn, und beide lächelten, als Denise vorüberschritt. Sie stieg in ihre Viktoria. Einen Augenblick darauf war sie davon.

Einen Moment wohl beschäftigte Denise die Begegnung, doch sie verschwand wieder, sie hatte kein Interesse für sie. Aber es war noch nicht Zeit heimzukehren, und sie ließ noch an der Madeleine halten, um auch in der Rue Royale die Läden zu besehen. Sie hatte dem Kutscher gesagt, er solle am Marineministerium auf der Place de la Concorde auf sie warten. Langsam ging sie durch das schwirrende Leben neben dem unausgesetzt in dichter Folge in Reihen nebeneinanderziehenden Wagenverkehr hin, in fortwährendem Zickzack-Weg rechts und links ausweichend.

Da stand sie plötzlich vor einem Herrn, und es fügte der Zufall, daß, als sie rechts vorbei wollte, er ihr Platz machend, links trat, und als sie links auswich, er dieselbe Bewegung von sich aus rechts machte.

Sie runzelte die Augenbrauen und sah ihn an, der entschuldigend den Zylinder lüftete. Da durchzuckte es sie, schnitt wie ein Messer in ihre Seele. Dieses Gesicht! Dieses Gesicht – ihr Vater!

Herr de Verneuil war zwar sehr gealtert, sah sehr grau aus, aber es waren doch noch die Züge, die sie nicht hätte vergessen können bis an das Ende ihrer Tage, die Züge, die ihre Kindheit und Jugend begleitet hatten, und deren wutverzerrter Ausdruck, als er sie damals aus dem Hause gewiesen, noch wie eine letzte bleibende Erinnerung vor ihren Augen stand.

Sie las aus seinen Zügen einen furchtbaren Schreck, ein unverhohlenes Entsetzen, sie las auch aus ihnen etwas wie Verachtung und Ekel. Sie sah vor sich seinen vor Erstaunen offenen Mund, der sich im selben Augenblick schloß, zusammenkniff mit verächtlichen Lippen, die sich spitzten, als wollten sie vor dem verworfenen Kinde ausspeien.

Und dieses Greisenantlitz packte sie so, daß sie dahinlief mit eilenden Schritten, nur um ihren Wagen zu gewinnen. Sie sah flüchtig wie im Traum ein paar spöttische Gesichter, sie hörte jemand rufen:

»Nun, nun, es ist noch Zeit! Es ist noch Zeit!«

Und eine meckernde Stimme tönte: »Er wartet doch nicht mehr!«

Sie achtete nicht darauf, sie sah nur immer das Gesicht ihres Vaters vor sich. Sie war doch jahrelang darauf vorbereitet gewesen. Nur durch einen Zufall und durch die gewaltige Größe der Stadt war es tatsächlich möglich gewesen, daß sie ihn bisher nie wiedergesehen hatte.

Vielleicht gingen sie zu verschiedenen Stunden aus, vielleicht war er lange abwesend von Paris; er brachte seine Zeit beinahe ausschließlich im Klub zu, sie wußte, er liebte die Theater nicht, er ging nur in die Varietés oder in den Zirkus. Er war nie im Tuileriengarten, nie im Luxemburg, im Louvre nicht, nicht im Museum Cluny, nie fuhr er nachmittags ins Bois, nie kam er in die Nähe des Parks Monceau. Es war keine Möglichkeit gewesen, daß ihre Wege sich kreuzten, und da hatte der Zufall gespielt; aber wie sie ihn plötzlich vor sich gesehen hatte, war sie nun doch ein armes zitterndes Weib, das sich vor diesem Kopf mit dem grauen Haar und dem verächtlichen Mund fürchtete, als verfolge sie eine böse Erscheinung.

Sie warf sich in ihren Wagen. Sie rief:

»Nach Hause.«

Sie wagte es nicht mehr, nach rechts oder links auf die Straße zu blicken, sie meinte, jeden Augenblick müsse er ihr wieder entgegenkommen. Und an diesem Tage war sie so verstimmt und einsilbig, daß Léon sie bei Tisch fragte, was ihr denn zugestoßen sei. Sie gestand es nicht, sie huschte darüber hinweg.

Aber die nächste Zeit ging sie nicht mehr zu Fuß aus, sie verließ ihren Wagen nicht. Die beiden kecken großen Herren, die ihr gefolgt, hatten sie nicht gestört. Sie konnte sich ihrer erwehren, sie konnte ihnen zurufen, daß sie sich an einen Schutzmann wenden würde. Die Männer waren einmal hier so in Paris, dessen mußte jede Frau gewärtig sein. Aber dem Antlitz ihres Vaters konnte sie nicht entfliehen, und wie eine Maske und Fratze sah sie in stillen Augenblicken sein Gesicht.

Sie hatte öfter gemeint, im Bois, wenn sie spazieren fuhr, dem Wagen ihrer Mutter begegnen zu müssen. Es war aber nie geschehen. Es gab ja auch schließlich schwarze tadellose englische Livreen zu Tausenden in Paris. Diener, Kutscher, Pferde, Wagen konnten zudem gewechselt worden sein. Und wenn ihre Mutter sie nun wirklich erkannt hätte, was hatte ihr das ausgemacht?

Die Mutter hatte nie ein besonderes Interesse für die Tochter bewiesen. So war sie auch dieser ziemlich gleichgültig. Ganz anders der Vater, der seinem Kinde einmal wenigstens sein Herz gezeigt hatte, als er traurig davon gesprochen, was einem alten Manne im Leben bliebe!

Und immer und überall verfolgte sie das Gesicht ihres Vaters. Es tauchte vor ihr auf, wenn Léon mit ihr sprach, es nahm seine Züge an, sie fand sogar eine Ähnlichkeit zwischen den beiden. Wenn der Kutscher jetzt, während sie ausstieg, mit der Peitsche präsentierte, sie ihm eine Adresse angab und er die Hand an den Hut hielt, glaubte sie auf dieser regungslosen, glattrasierten Fläche plötzlich ein spöttisches Lächeln zu entdecken, wie auf den Zügen ihres Vaters.

Sie suchte sich von dem Bann zu befreien; sie ging in die kleine Kirche. Dort setzte sie sich wieder im Dunkel hin und sank inbrünstig ins Gebet. Wie sie auf den Knien lag und hinüberblickte zu dem leise zitternden Licht der ewigen Lampe am Altar, ward es ruhiger in ihrer Seele. Sie konnte in finstere Ecken des Gotteshauses blicken, und das Antlitz mit dem grauen Bart und Haar gewahrte sie nicht. Sie machte die Probe. Sie schritt, als niemand in der Kirche war, durch die Stuhlreihen vor bis an den Altar, und starrte in das Antlitz des Gekreuzigten, das sich im Sterben zur Schulter hinabneigte. Es blieb rein und hoheitsvoll; keine Fratze, keine Spottgeburt der Erregung ihres gepeinigten Gewissens trat an seine Stelle. Dann ging sie am Seitenaltar vorüber, wo die Mutter Gottes thronte mit den sieben Schwertern: ihren Schmerzensblick zum Himmel trübte kein Wahngesicht. Da beugte sie das Knie, schlug das Kreuz, erhob sich langsam und ging mit niedergeschlagenen Lidern hinaus.

Als sie in die Blendung der hellen Straße trat, sah sie einen alten Herrn gerade auf sich zukommen, genau wie ihr Vater, elegant, schlank, derselbe Bart mit der weißen Fliege, der Zylinder etwas schief auf dem Haar. So täuschend ähnlich, daß sie sich bewußt ward, wie der Typus durch gleiche Figur, durch Mode und Haltung sich wiederholte. Sie blickte dem alten Herrn starr ins Gesicht, sie hätte in ihm ihren Vater sehen müssen, und sie gewahrte einen Fremden.

Der alte Herr war unruhig geworden, er lächelte ein wenig, rückte mit den tadellosen Handschuhen die Krawatte zurecht. So hatte ihn eine Dame doch nie angesehen und eine so schöne! Er blieb stehen, schaute ihr nach, machte kehrt und folgte ihr von weitem.

Denise aber beeilte ihre Schritte nicht, sie wandte sich nicht um nach dem Gecken, der geschmeichelt hinter ihr drein lief. Sie atmete auf, sie wußte jetzt ein Mittel, das ihr half vor dem Alpdrücken ihres Gewissens: der Frieden des Gotteshauses!


 << zurück weiter >>