Georg Freiherr von Ompteda
Denise de Montmidi
Georg Freiherr von Ompteda

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VI.

Es war Frühling in Montmidi geworden. Die Gartenarbeit fing wieder an, und täglich schritt die Amme mit der kleinen Lucy die Wege hinauf und hinunter, zwischen den grünen Hecken hin. Ab und zu nahm auch Denise das Kind auf den Arm und ging mit ihm spazieren.

Der Diener Louis hatte mit Robert in der einen Ecke des Gartens einen Sitzplatz hergerichtet, etwas wie eine Laube, und dort standen ein paar gewöhnliche Stühle mit Strohsitzen. Man konnte von da aus die Beete übersehen; es duftete und blühte ringsumher, es war ein lauschiges Plätzchen. Dort setzte sich Denise mit ihrem Kind. Sie hielt die Kleine auf den Knien, sie nahm sie in den Arm, und während die beiden Männer im Garten arbeiteten, summte sie ein Lied. Ab und zu blickte sie in die kohlschwarzen Augen ihres Töchterchens und nickte ihm so lange zu, bis das kleine Wesen endlich verstand und langsam den Mund zu einem Lächeln verzog.

Robert kümmerte sich noch immer nicht um seine Tochter, und wenn er sie einen Augenblick halten mußte, etwa weil die Amme ins Haus geschickt worden war, oder weil Denise eine Blume pflücken ging, so wußte er sich nicht zu benehmen; er hielt das Wurm wie ein zerbrechliches Stück Porzellan vom Leibe ab, indem er das Genick des Kindes auf dem Unterarm ruhen ließ, so wie es ihm Denise gezeigt hatte.

Aber einmal, als die Kleine lachte, sah er doch hin und versuchte selbst, sie zum Lachen zu bringen. Es gelang, und zum erstenmal hörte er einen Laut wie von einem Erwachsenen. Er machte ein erstauntes Gesicht, und noch mehrmals in den nächsten Tagen nahm der Vater seine Tochter auf den Arm.

Da sagte die Amme:

»Passen Sie mal auf, gnädige Frau, es wird schon werden! Der fangt sogar früher an als die anderen!«

Wenige Tage darauf überraschte Robert seine Frau damit, daß er aus Paris einen Ammenmantel mit Mütze und Bändern hatte kommen lassen.

Denise war so glückselig, daß sie sich wie ein Kind benahm. Sie klatschte in die Hände, hüpfte umher, lachte und tanzte. Das Kleidungsstück wurde sofort anprobiert, und jetzt ging die junge Mutter mit der Amme täglich spazieren, immer den einzigen Weg, den es gab: die Straße nach dem Bahnhof.

Robert begleitete sie manchmal. Denise nahm seinen Arm, erzählte ihm tausend Geschichten von dem erwachenden Verstande des kleinen Mädchens, das ihnen gehörte, und hier und da suchte sie ihn bescheiden und liebenswürdig aufmerksam zu machen, daß seine Krawatte nicht säße, daß er einen neuen Kragen würde umbinden müssen.

Er nahm die Bemerkungen verschieden auf. Meist brummte er nur ein wenig, manchmal schimpfte er aber auch und meinte wegwerfend:

»Hier sieht einen ja doch niemand! Für wen soll man sich denn hier anziehen?«

Sie antwortete mit leisem Vorwurf:

»Für deine Frau!«

Und er schwieg etwas beschämt.

Das Frühjahr ging hin, der Sommer kam, nichts hatte sich verändert; sie hatten keine Besuche gemacht, es war entschieden, mit den Nachbarn würden sie keinen Verkehr haben.

Robert empfand diesen Mangel nicht allzusehr; es gab im Garten zu tun, der sogar vergrößert worden war, indem gegen Erlaß eines Teils der Pachtsumme der Pächter ein Feld für den Garten hinzugegeben hatte. Herr de la Caille berechnete, daß er dadurch pekuniär nichts verlöre, denn was sie im Garten zogen, brachte mehr ein, als was der Mann zahlte. Robert war ganz Gärtner geworden; er hatte jetzt für nichts mehr Interesse. Er berechnete mit Louis bei jeder Anzahl Quadratmeter, die sie neu umgruben und bepflanzten, wieviel die Anlage kostete, wieviel sie einbringen könnte.

Herr wie Diener sahen bald aus wie die Landarbeiter. Robert rasierte sich nicht mehr täglich, wie er es früher getan hatte, manchmal standen die Stoppeln die ganze Woche. Aber Denise wagte es nicht, etwas zu sagen, denn immer, wenn sie daran rührte, wurde er unangenehm. Der Diener, der in Paris bei seiner Herrschaft tadellos gekleidet gewesen war, ließ sich jetzt gleichfalls gehen; er vergaß ab und zu, sich den Bart abzunehmen und sparte an Wäsche genau wie sein Herr.

Die Sehnsucht nach Paris hatte allmählich in Robert an Stärke nachgelassen. Er las zwar eifrig noch die Blätter, und er sprach lange mit seiner Frau über jede Kleinigkeit, die in Paris und Umgegend vor sich ging: wenn in irgendeiner Straße, die er besonders gut kannte, neues Pflaster gelegt wurde, oder wenn irgendwo zwischen Paris und Rouen eine Regulierung der Seine in Aussicht genommen war. Die Frage der Niederlegung dieser oder jener Teile der Stadtumwallung interessierte ihn ebenfalls, aber er sagte trotzdem einmal zu seiner Frau:

»Wenn uns jetzt die Eltern einlüden, ich könnte gar nicht kommen, da müßtest du schon mit der Kleinen allein hingehen. Denn wenn sie sogar das Reisegeld schickten, ich habe ja gar nichts anzuziehen, und als Provinzler laufe ich in Paris nicht umher!«

Denise sah ihn an:

»Aber, Robert, wenn du deine Anzüge ein bißchen ...«

Er unterbrach sie sofort:

»Ich sage dir, mein Kind, ich habe nichts, nichts, ich habe keinen anständigen Anzug, und als Provinzler laufe ich nicht umher!«

Denise antwortete nichts, aber ihr fiel plötzlich mehr als bisher auf, wie ihr Mann sich verändert hatte. Sie dachte daran, daß der einstmals Eleganteste der Eleganten jetzt öfters zu Tisch kam mit Händen, die noch schmutzig waren von der Arbeit im Garten, mit wirrem Haar und Stiefeln, an denen die Erde klebte. Sie entdeckte mit Staunen, welche Veränderung ein Jahr an einem Menschen hervorbringen kann, wenn er in andere Lebensbedingungen gesetzt wird.

Aber wenn auch er nicht nach Paris wollte, jetzt kam ihr eine zehrende Sehnsucht dahin. Sie wollte zu ihren Eltern, die sie beinahe anderthalb Jahr nicht mehr gesehen hatte. Ihr Vater schrieb zwar nie, mit ihrer Mutter aber stand sie in brieflichem Verkehr. Immer unbezwinglicher stieg in Denise der Wunsch auf, das Elternhaus wiederzusehen und ihr kleines Mädchenzimmer.

Ein seltsames Verlangen quälte sie nach dem, was sie früher als Mädchen so sehr verachtet hatte: sie wollte wieder einmal ins Bois de Boulogne, wollte die Mutter zur Schneiderin begleiten, nicht für sich – denn sie selbst ließ sich ja nichts machen –, aber doch um zu sehen, wie es jetzt mit der Mode stand. Der Sparsamkeit halber hielt sie sich keine Modenzeitung. Noch aus einem anderen Grunde sehnte sie den Augenblick herbei, daß endlich die Eltern schreiben möchten: ›Kinder, kommt, wir erwarten Euch!‹ Sie war stolz auf ihre kleine Lucy, und sie wollte den Eltern zeigen, was für ein prächtiges Kind ihr gehörte.

Nur der eine Gedanke machte ihr Beklemmung: wieviel Geld würde es wohl kosten, und konnte ihr das Robert geben? Sie fragte ihren Mann, aber der gab keine bestimmte Antwort: er war entsetzt bei dem Gedanken an die Kosten, die die Reise verursachen würde. Da entschloß sie sich denn und schrieb ihrer Mutter.

Es kam ein Brief, worin Frau de Verneuil ihr Erstaunen darüber aussprach, daß es auf eine solche Summe bei ihnen ankommen könnte, und ein paar Fragen waren beigefügt: »Seid Ihr denn so abgebrannt? Oder hält er Dich so knapp?«

Die Zeilen schlossen: »Wir wollen darüber jetzt nicht reden, das muß man mündlich tun. Zeige diesen Brief nicht Deinem Manne, verbrenne ihn lieber sofort.«

In dem Umschlag fand Denise einen Hundertfrankenschein, den ihre Mutter mit der bei ihr üblichen Sorglosigkeit einem gewöhnlichen Briefe anvertraut hatte, ohne ihn einschreiben zu lassen. Denise war glückselig, sie hätte es am liebsten sofort ihrem Manne erzählt, aber sie wußte nicht, wie sie es ihm beibringen sollte. Sie sah ihn, wie er im Garten mit Louis arbeitete, den Strohhut auf dem Kopf, in der alten, schmutzigen Hose und einem völlig durchschwitzten Flanellhemd, das er in guten Zeiten einst beim Tennisspielen getragen hatte.

Den ganzen Tag über sprach Denise mit ihrem Mann nicht davon. Es war das erstemal, daß sie ihm in ihrer Ehe etwas verheimlichte. Aber sie mußte es wohl tun: er gab ihr ja nicht das Geld, daß sie nach Paris fahren konnte, und sie wollte doch ihre Eltern wiedersehen. Sie überlegte. Wenn sie ihm sagte, sie hätten hundert Franken geschickt, so würde er ihr wahrscheinlich das Geld nehmen, um es für den Haushalt zu verwenden. Außerdem würde er nach ihrem Briefe fragen, und den hatte sie bereits, dem Wunsche ihrer Mutter entsprechend, verbrannt.

Nachdem Denise einen Tag lang sich alles überlegt hatte, faßte sie sich endlich ein Herz und begann:

»Robert, Mama möchte gern mal unsere Kleine sehen. Sie ersetzt mir die Fahrt, du kannst mir wenigstens etwas geben, die Reisekosten auszulegen, du bekommst es ja wieder.«

Und sie hatte Glück: er fragte sie nicht nach dem Brief, antwortete überhaupt nichts; er brummte etwas, einsilbig, wie er jetzt immer mehr wurde, und dann ging er wieder in den Garten.

Denise atmete tief auf. Sonst hatte sie ihrem Manne jede Kleinigkeit mitgeteilt; heute hatte sie ihm nur die halbe Wahrheit gesagt. Sie spürte etwas wie eine Gewissensmahnung. Aber das dauerte nur ein paar Augenblicke; sie war ja so froh, daß ihr Plan der Verwirklichung entgegenging.

Jetzt fürchtete sie sich auch nicht mehr davor, daß er etwa fragen könnte, wo ihrer Mutter Brief wäre. Es war schon ein Tag vorbei, er konnte verkramt sein, sie würde sich schon herausreden.

Aber zwei Tage vergingen, und er sprach nicht wieder darüber, so daß Denise schon fürchtete, ihre Anregung möchte in Vergessenheit geraten sein. Sie begann ein zweites Mal. Sie fühlte sich unbehaglich dabei, es war wie eine Unwahrheit zwischen ihnen. Sie machte Redensarten, immer im Begriff, auf ihr Ziel loszusteuern und schloß doch nicht ab. Eigentlich wunderte sie sich, daß er es nicht gewahr wurde. Endlich faßte sie Mut und sagte, alle Umschweife abbrechend:

»Ist es dir recht, wenn ich meinen Eltern das Vergnügen mache?«

Er erwachte wie aus einem Traum:

»Wie meinst du?«

»Nun, ich habe dir doch erzählt, daß Mama mir geschrieben hat! Und ich möchte so gern hin.«

Er zuckte mit den Achseln:

»Aber dazugeben kann ich dir nichts, das muß ich dir gleich sagen!«

Sie beruhigte ihn sofort, und wieder fühlte sie bei ihren Worten, daß sie nicht natürlich war, sondern bloß redete, um ihn zu gewinnen:

»Davon ist ja gar nicht die Rede! Nicht ein Sou wird ausgegeben. Mama bezahlt ja alles!«

Damit schien Robert einverstanden; er ging mit ihr den Gartenweg hinunter und zeigte ihr ein neues Beet, wo Spargel gepflanzt werden sollte:

»Es trägt nicht gleich, aber man muß Vorsorge treffen.«

Sie sah ihn von der Seite an. Es war doch erstaunlich, wie er sich verändert hatte, er, der ihr noch als Bräutigam gesagt hatte, nichts wäre ihm schrecklicher, als das fortwährende Vorausdenken; jeder Mensch solle sich des Augenblicks freuen und ihn genießen.

Aber sie wollte ihrem Ziel näherkommen, und während er arbeitete, fragte sie so nebenbei:

»Wann meinst du denn, daß ich fahren kann?«

Er meinte: »Nun, du kannst dir doch denken, daß ich nicht gern allein bleibe.«

Sie schmeichelte:

»Ach, Robertchen, ich bin ja bald wieder da!«

Plötzlich kam ihr ein Gedanke, wie sie ihn gewinnen könnte, und sie begann von ungefähr:

»Ich habe mir auch noch etwas überlegt; du weißt ja, wie die Eltern sind, es bringt doch sicher Vorteil, wenn ich hinfahre ...«

Er stützte sich auf den Spaten und blickte auf ...

»Mama schenkt mir doch gewiß etwas, du wirst sehen, ich bringe was mit. Und dann sind doch zwei Personen, die Amme und ich, weniger am Tisch; das trägt in der Küche immerhin etwas aus.«

Das schien Robert Eindruck zu machen, ein Lächeln flog über seine Züge. Mit der von der Arbeit schmutzigen Hand strich er ihr die Wange:

»Du bist ja schlau, meine kleine Denise!«

Sie errötete vor Freude, zugleich auch ein wenig beschämt darüber, wie leicht er sich hatte fangen lassen, und fuhr nun fort:

»Wo sollen wir denn bleiben, wenn ich nicht auch danach sehe?«

Da runzelte er wieder die Stirn:

»Ja, wir müssen uns sehr in acht nehmen!«

Nun wurden Vorbereitungen getroffen; Denise sah ihre Sachen durch, überlegte, was sie mitnehmen sollte, und zwei Tage hindurch wurde geschneidert, genäht, geflickt, bis endlich der große Augenblick gekommen war und das Paar dem Bahnhof zuschritt, während die Amme mit dem Kinde auf dem Arm folgte.

Robert löste die Fahrkarten zweiter Klasse bis Paris, aber nur für die Hinfahrt; denn er meinte, wenn durch irgendeinen Umstand, vielleicht weil die Kleine nicht wohl wäre, die Rückfahrt sich um ein paar Tage verzögerte, würden die Karten verloren sein; übrigens zahlten ja auch seine Schwiegereltern.

Er hatte sich zu dem Gang auf den Bahnhof besser angezogen, sich rasiert und sah wieder anständig aus, so daß Denise sagte, als sie auf dem Bahnsteig der kleinen Station warteten:

»Robertchen, du bist so hübsch heute!«

Er fühlte sich geschmeichelt, faßte an seine Krawatte, ob sie richtig säße, zog sich die Manschetten heraus, streckte seine Handschuhe, die er wenigstens in der Hand hielt, und brummte:

»So, findest du?«

Da faßte sie sich ein Herz:

»Robert, so solltest du immer sein!«

Er sah sie erstaunt an:

»So bin ich doch!«

Sie schwieg. Er fragte:

»Wie meinst du denn das? Bin ich denn nicht so?«

»Nicht immer!«

»Nicht immer? Ja, wie denn?«

»Ach, aber du mußt nicht böse sein, du läßt dich manchmal etwas gehen, jetzt!«

Er biß die Lippen aufeinander, er schien sich zu ärgern, und fast wären sie mit einem Mißton geschieden, denn schon kam der Zug.

Aber Denise konnte nicht so abreisen. Sie gab ihm einen Kuß und rief:

»Robert, nun sei gut, es ist alles vergessen, nicht wahr? Darf deine kleine Frau nicht einmal an so etwas erinnern? Du sollst mir doch auch alles sagen, was an mir nicht gut ist!«

Als er ihren Liebreiz sah, ihre zierliche Gestalt, noch fast genau so mädchenhaft, wie vor der Ehe, regte sich sein durch Not und veränderte Lebensumstände verbittertes Herz, er umfaßte sie mit einem Blick und flüsterte: »Du bist meine liebe, süße, kleine Frau!«

Nun war er guter Laune, wie lange nicht, und als die Lokomotive herandonnerte und der Boden unter der Last zitterte, der Hauch der von dem, Ungetüm verdrängten Luft ihnen wie ein Wind entgegenschlug, war es, als erwachte in ihm plötzlich die Erinnerung an Paris. Er trat unablässig hin und her und sagte im Augenblick des Abschieds:

»Ach Gott, wenn ich doch mit könnte!«

Ihre Augen leuchteten:

»Robert, willst du wirklich?«

»Es ist zu spät!«

Sie war sofort entschlossen, umzukehren, und rief, während die Bremsen des Zuges knirschten, und hier und da am Fenster ein Kopf erschien und sich eine Tür öffnete:

»Wir geben mein Billett zurück, das muß doch gehen, und du kommst mit, wir brauchen ja erst morgen zu fahren, oder mit dem nächsten Zuge, oh, das wäre zu schön!«

Doch er schüttelte den Kopf:

»Es ist besser, ich fahre nicht, ich muß mich um den Garten kümmern, und wer einmal im Paradies gewesen ist – ach, ich mag Paris gar nicht wiedersehen!«

Sie bat noch einmal, doch er schob sie zu einem Abteil. Der Stationschef, mit dem sie sich grüßten, sagte, es wäre höchste Zeit, Denise stieg ein, das Kind wurde ihr hinaufgereicht, die Amme folgte, und ehe sie noch ein Wort hatte sprechen können, war die Tür zugeschlagen, der Zug pfiff, die Lokomotive zog an, noch ein Händedruck, und allmählich verschwand die kleine Station.

Denise sah Robert nur noch in der Ferne, sie nahm ihr kleines Taschentuch und winkte ihm nach. Die Amme hatte Platz genommen, sie hielt unter dem großen Mantel das Kind verborgen, das glücklicherweise durch das gleichmäßige Rütteln des Zuges sofort einschlief. Denise setzte sich gegenüber und blickte zum Fenster hinaus, an dem die herrliche Landschaft vorüberschoß: die wundervollen Gärten, die reichbestellten Felder, die grünenden Bäume, das Blumenleuchten. Und als ein Duft hereinwehte wie von frischer Scholle, von jungen Keimen, ward ihr ganz weich ums Herz.

In ihr kämpfte die Sehnsucht, ihre Eltern wiederzusehen, mit der Trauer, zum erstenmal ihren Mann verlassen zu haben, ihre kleine Villa, ihr Montmidi. Wohl ging es dort nicht heiter zu, wohl schien dort die Sonne nicht immer, aber es war doch ihr Haus, ihr Daheim. Die junge Frau begann zu weinen. Langsam tropften ihr die Tränen, ihre Züge blieben ruhig, nur unter dem Schleier sanken Perlen herab, näßten das Gewebe und fielen hindurch, daß Denise das Taschentuch nehmen und sich das Kleid wischen mußte.

Stundenlang fuhr der Zug hin, eine Station nach der andern flog vorbei. Die Landschaft blieb die gleiche, ein ganz klein wenig nur ward sie nördlicher, die Vegetation war nicht mehr so fortgeschritten, und endlich erschien die weite Ebene um Paris mit den befestigten Hügeln rundherum, dem Seinelauf, den zahllosen Villen und Landhäusern in Gärten und Parks. Allmählich kamen Vororte, enger stehende Gebäude, die hier und da den Versuch machten, sich zu Straßen zusammenzuschließen, endlich ein paar Häuserblocks, und bei einer Biegung sah man die schlanke, bläuliche Gestalt des Eiffelturms.

Denise wurde schon unruhig, sie holte das Handgepäck herab und rief der Amme zu, die nie ihr Dorf verlassen hatte und nun nicht wußte, was sie zu all dem sagen sollte:

»Wir sind gleich da!«

Es ging über ein paar Brücken, sie sahen wieder den Wasserlauf, die Gleisanlagen verbreiterten sich, statt der zwei Stränge liefen jetzt ein Dutzend, zwei, drei nebeneinander her. Lokomotivschuppen, Züge, die nicht gebraucht wurden, die rangierten oder warteten, standen umher, die große Halle des Orléans-Bahnhofes erschien, immer langsamer ging der Zug, man sah einen Bahnsteig und Menschengewimmel; die Gepäckträger in ihren Blusen standen harrend da. Alles der gewohnte Anblick von Paris, und es war Denise, als kennte sie hier alle Gesichter.

Plötzlich erblickte sie die Mutter, so elegant, wie die junge Frau jetzt seit anderthalb Jahren keinen Menschen mehr gesehen hatte. Und einen Augenblick darauf küßte Frau de Verneuil ihre Tochter rechts und links auf die Wange, und in dem großen Strom von Menschen, der den Zug verließ, gingen sie dicht nebeneinander, vor ihnen die Amme, die sie rechts und links steuerten, als bugsierten sie ein Schiff.

Da stand der Wagen. Der Kutscher verzog sein glatt rasiertes Gesicht und faßte an den Hut. Denise fühlte sich wie im Traum, sie reichte ihm die Hand, und einen Augenblick darauf saß sie im Wagen. Dann zeigte sie, während der Diener zurückgeblieben war, um sich um das Gepäck zu kümmern, und sie fortrollten, der Place de la Concorde zu, ihrer Mutter glückstrahlend die kleine Lucy, die auf dem Arm der Amme unter dem großen Mantel noch immer schlief.


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