Georg Freiherr von Ompteda
Denise de Montmidi
Georg Freiherr von Ompteda

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XI.

Der Schnee war schon am nächsten Tage bis auf die letzte Spur wieder davon; die Sonne trocknete den Boden auf, und nun, wo sie vom Morgen bis zum Abend am wolkenlosen Himmel stand, schien es weniger schrecklich in Montmidi. Denn die Sonne verklärte alles, sie wärmte, die Temperatur stieg, die Veilchen dufteten im Garten, und man hatte gar nicht mehr das Gefühl, immer noch im Winter zu sein.

Das Frühjahr, das ja zeitiger kam als in Paris, schien seinen Einzug zu halten. Das Gras erholte sich von seinem stumpfen Aussehen, zeigte neue, grüne Triebe. An frühzeitigen Bäumen begannen bereits hier und da die Knospen zu schwellen.

Da knirschte eines Tages der Sand vor der Villa, und auf dem schlecht gehaltenen Platz, der immer mit einem grünspanartigen Schimmer von Unkraut überzogen war, hielt ein Dogcart. Baron d'Hautecourt stieg aus.

Denise sah ihn vom Fenster aus, wandte sich aber sofort ab, denn sie hatte ein Gefühl, als schämte sie sich. Sie fand sich zu schlecht angezogen, obgleich sie sich im Haus nicht gehen ließ wie ihr Mann, sondern immer bemüht war, sauber und anständig auszusehen, wenn sie auch noch ihre Kleider aus der Ausstattung tragen mußte.

Sie horchte jetzt auf jeden Laut, und ihr Herz schlug bei dem Gedanken, wie wohl der Besucher Robert finden würde. Er arbeitete gerade im Garten, hatte die Hosen in seine großen, hohen Schaftstiefel gesteckt und sah verwahrlost aus wie gewöhnlich. Sie hätte in diesem Augenblick gewünscht, ihr Mann nähme den Nachbar gar nicht an, aber da hörte sie schon seine Stimme, und wie sie nun vorsichtig hinunterspähte, sah sie ihn bereits dem Besuch entgegenkommen, und sie vernahm deutlich, was sie sprachen.

Sie stellten sich vor. Baron d'Hautecourt war höflich, Robert zurückhaltend, fast feindlich, als wollte er sagen: ›Bitte, wie kommen Sie eigentlich hierher?‹ Aber den anderen störte das gar nicht in der Leichtigkeit seiner Unterhaltung, wie er sie auch Denise gegenüber gehabt hatte. Sie hörte, wie er seine Begegnung mit ihr erzählte, und sie glaubte, obgleich Robert ihr den Rücken zudrehte, zu sehen, daß er ein erstauntes Gesicht machte.

Baron d'Hautecourt aber sprach immer weiter in seiner liebenswürdigen offenen Art. Er erzählte beinahe genau dasselbe, was er Denise gesagt hatte, wie er hier in der Verbannung lebe, weil er sein Geld in Paris durchgebracht hätte.

Er müsse sich einschränken und habe deswegen von seinem Nachbarn nur einige wenige besucht, denn er wolle seine Beziehungen nicht zu weit ausdehnen, das koste zu viel.

Robert antwortete, sprach aber leiser, so daß ihn Denise nicht verstehen konnte. Nur ab und zu, wenn Baron d'Hautecourt redete, hörte sie wieder etwas von dem Thema, das beide behandelten: das des Geldes! Das einte sie offenbar, und sie ergänzten einander auch. Der eine mit seinem Geiz, der andere mit seiner vollständigen Nichtachtung des Geldes, seinem ihm so gut stehenden jugendlichen Leichtsinn.

Einen Augenblick darauf kam Robert an die Tür von Denises Zimmer, das sie verschlossen hatte, klopfte und rief:

»Bitte, komm doch mal herunter, es ist Besuch da!«

Und in seiner Stimme klang gar kein unangenehmer Ton.

Denise stand schnell vor dem Spiegel. Sie hatte das Gefühl, sie wenigstens müßte einen guten Eindruck machen. Schnell vertauschte sie noch ihre Krawatte mit einem kleinen lila Spitzentuch, in das sie eine schöne Brosche steckte, von ihrer Ausstattung her, eine große, matte Perle, an der ein halbes Dutzend kleinerer an beweglichen Brillantstreifen hingen, so daß es aussah, als hätte die große sechs kleine Tränen geweint.

Dann ging sie in den Salon. Dort war niemand. Nun trat sie in die Bibliothek und fand die beiden am Kamin in den großen Sesseln einander gegenüber. Jetzt sah sie erst, wie elegant d'Hautecourt war, wie struppig, schmutzig und verwahrlost ihr Mann.

Sie ging dem Baron entgegen und reichte ihm, wahrend sie leise errötete, die Hand. Sie sah, wie sein Blick über sie lief, ein Blick, der sie förmlich zu entkleiden schien von oben bis unten, und verwirrt schlug sie die Augen zu Boden, während sie sagte:

»Das ist aber nett von Ihnen, daß Sie Wort gehalten haben.«

Er meinte:

»Sie dachten wohl, ich würde nicht Wort halten?«

Während sie sich setzten, antwortete sie:

»Ich glaubte, es wäre nur eine liebenswürdige Art zu reden gewesen.«

Er verneigte sich:

»Bitte, gnädige Frau, Sie unterschätzen mich, ich verstecke weder das Gute noch das Schlechte bei mir. Das Schlechte: ich bin ein großer Bummler und unnützer Geldvertuer! Das Gute: ich sage nie Sachen, die ich nicht wirklich so meine; ich mache nie Redensarten.«

Sie blickte ihn an, als wollte sie fragen: ›Ist das auch wirklich wahr?‹

Dann warf sie, während der Baron d'Hautecourt allerlei erzählte, wie er sich das Leben hier eingerichtet hätte, einen Blick auf Robert. Sie wollte prüfen, was er für ein Gesicht machte. Sie dachte: ›Es kann ihm ja nicht recht sein! Wenn unser Besuch fort ist, werde ich es schon zu hören bekommen, als ob ich ihn veranlaßt hätte, uns zu besuchen! Ich habe es doch nicht hindern können!‹

Aber ganz im Gegenteil schmunzelte Robert, und als noch einmal auf den Leichtsinn die Rede kam, der Baron d'Hautecourt hier in die Provinz geführt hätte, war es, als klammerte er sich förmlich daran. Er sagte, zu seiner Frau gewendet:

»Siehst du, ich bin nicht allein so!«

Denise fühlte, wie er sich freute, gewissermaßen einen Genossen gefunden zu haben, von dem er vielleicht glaubte, daß er dieselben Neigungen hätte wie er. Da sagte sie, in dem Bestreben, das Aussehen ihres Mannes und die Einfachheit ihres Hausstandes zu erklären:

»Ach, wir haben schon Verständnis für alles das, was Sie sagen, Herr d'Hautecourt.«

Dann zwang sie sich, ihren Mann freundlich anzublicken, und fragte:

»Nicht wahr, Robert?«

Sie fürchtete schon, es möchte trotzdem auf ungünstigen Boden fallen, als Robert es aufgriff und lang und breit erzählte, wie er in Paris gelebt hätte, was für ein fabelhafter Kerl er gewesen wäre; und der lumpig gekleidete, ungepflegte Mann prahlte mit seiner frühern Eleganz. Ja, er sprach, obgleich seine Frau dabei saß, zum ersten Male übrigens, über allerlei Verbindungen, die er gehabt hätte, und stellte sich als rechten Don Juan dar.

Denise schlug dabei die Augen nieder. Sie erhob sie erst wieder, als ihr Mann von seiner Heirat erzählte, und daß er das Unglück gehabt hätte, in Monte Carlo sein Geld zu verlieren.

Es klang, als hätte dieser Verlust Millionen und Millionen betragen, so daß der Besucher daraus entnehmen sollte, welch unglaublich reicher Mann Robert eigentlich sei. Er ließ durchblicken, auch sie lebten nur auf ihrer kleinen Besitzung Montmidi, um sich pekuniär zu erholen, bis sie in einer gewissen Anzahl von Jahren in den alten Verhältnissen wieder in Paris auftreten und ein großes Haus machen könnten.

Während er log, blickte er Denise immer an, als ob er ihr zustimmendes Wort begehrte, so daß sie die Augen abwenden mußte, um nicht ihr Erstaunen und ihre Scham zu zeigen. Dabei tat Robert, als wäre er eigentlich mit seiner Frau ein Herz und ein Sinn. Ja, als der Besucher endlich aufstand, um sich zu empfehlen, stellte er sich neben sie und schob seinen Arm in den ihren. Baron d'Hautecourt verabschiedete sich an der Schwelle. Während Robert hinausging, um den Wagen zu rufen, sagte er, und abermals tauchten seine Augen tief in die der jungen Frau:

»Das war doch mal ein guter Gedanke, daß ich gekommen bin. Das heißt, für mich wenigstens! Aber ich hoffe, Sie noch oft zu sehen. Erlauben Sie mir das?«

Sie meinte:

»Es wird uns sehr freuen, und Robert ...«

Er unterbrach sie:

»Gnädige Frau, sind Sie nachmittags zu Hause?«

»Gewiß.«

»Also darf ich kommen?«

Sie machte einen Scherz:

»Sie langweilen sich wohl schrecklich?«

Er wurde beinahe böse:

»Sie müssen nicht glauben, daß ich aus Langeweile komme. Nein, sehen Sie, gleich vom ersten Augenblick ab, als ich Ihnen den Brief gab und dann wußte, wer Sie waren, stand es bei mir fest.«

Er beugte sich nieder auf ihre Hand, küßte sie, und als er sich aufrichtete, ruhten wieder seine schwarzen Augen auf ihr. Dann wandte er sich kurz herum.

Denisens Herz klopfte, sie lauschte, hörte noch draußen ihren Mann etwas rufen, vernahm den Hufklang des Pferdes, und es war wieder alles still. Sie blieb in der Bibliothek stehen. Sie war aufgeregt und wußte nicht warum. Es war ihr, als sei ein großes Ereignis geschehen, als bahnte sich irgend etwas an. Sie hatten Beziehungen jetzt, sie blieb nicht ganz allein, und sie dachte an den, der in ihr Leben heute diese Veränderung getragen hatte. Sie sah den großen, schlanken Mann vor sich, mit diesem wunderschönen Bronzeteint, der so männlich und stolz aussah, mit diesen sammetweichen Augen und den langen Wimpern, und sie entdeckte in der Erinnerung plötzlich etwas Seltsames an seinem Blick: daß der schöne Mann die Lider länger schloß, als es nötig gewesen wäre. Jedesmal, wenn er sie angeschaut hatte, senkte er die Wimpern, ließ sie einen Augenblick ruhen, und langsam entschleierte er dann wieder das große, tiefe, schwarze Auge, das so seltsam bis in tiefste Tiefen zu dringen schien.

Während Denise vor den Büchern stand und spielend eins herauszog, scheinbar darin blätternd, obgleich sie gar nicht wußte, welchen Band sie in der Hand hielt, versuchte sie unwillkürlich, wie eine Spielerei, diesen Blick nachzuahmen. Sie senkte den Kopf, senkte das Lid und hielt einen Moment das Auge geschlossen; dann öffnete sie es wieder langsam, indem sie etwas in die Höhe sah und die runden Augen weit öffnete.

Sie schrak förmlich zusammen, als Roberts Stimme klang. Er stand hinter ihr, er schien sehr guter Laune zu sein und rief:

»Nun, das ist ja ein ganz angenehmer Zufall! Der Baron d'Hautecourt scheint sehr nett zu sein. Ein Tugendspiegel ist er freilich nicht gewesen. Als ob überhaupt einer das wäre!«

Denise legte das Buch beiseite und musterte ihren Mann. Er fuhr fort:

»Die, die es sind, tun bloß so! Ist ja überhaupt ein Unsinn. Übrigens hat d'Hautecourt sehr gesunde Ansichten. Er sagt auch ... aber das verstehen ja die Frauen nicht ... ein jedes hätte seine Zeit, Geldausgaben und Vernünftigsein, und er wäre auch vernünftig geworden. Ich glaube, ich werde mit ihm sehr gut auskommen, man sehnt sich auch danach, sich einmal auszusprechen.«

Damit ging er hinaus, und Denise blickte ihm nach. Sie fühlte die Worte wie einen Stachel im Herzen. Sie hätte sie dem Davonschreitenden nachrufen mögen: ›Nun, und mit deiner Frau kannst du dich nicht aussprechen?‹

Schon ein paar Tage darauf erschien Baron d'Hautecourt; nachmittags, wie ihm Denise gesagt. Robert war nicht zu Haus, er hatte wieder einen seiner Gänge getan, die zur Alltäglichkeit geworden waren, hinüber nach dem Dorf, wohin sie ihm nicht folgte, wovon sie nichts wissen wollte.

Sie sagte dem Besuch auch nur, ihr Mann wäre mit dem Gewehr fort wie gewöhnlich. Es klang, als hätte er ein großes Revier, das er beaufsichtigte. Baron d'Hautecourt fragte nichts Näheres. Sie setzten sich, aber diesmal im Salon.

Er begann sie zu unterhalten, eigentlich von nichts und von allem. Er hatte eine seltsame Art, die Denise gefiel, mit größter Offenheit von Dingen zu reden, die andere versteckt haben würden. Von seinem sträflichen Leichtsinn sprach er wie von einer Notwendigkeit. Es klang so wie: einer ist als Philister geboren, der andere muß Geld ausgeben; einer macht alles heimlich, der andere tut es allen Menschen kund. Gegen das Schicksal kann niemand an; wie einer veranlagt ist, so muß er auch werden und bleiben.

Sie hörte ihm nur zu, sie selbst sprach nichts. Es war auch nicht nötig, denn er redete ununterbrochen. Das klang wie ein sanftes Plätschern: keine große Erregung, keine Sturzbäche und Wasserfälle, aber auch kein Stillstehen im Teich, kein stagnierendes Gewässer, sondern ein Fluß, der kaum merklich zu Tale zieht, unausgesetzt in stillen Spiegeln in Bewegung. Seine Stimme tönte weich und melodisch, ab und zu hatte sie einen traurigen Klang, wenn er von all dem erzählte, was er verlassen hatte, von den Wonnen und Freuden des einzigen Paris. Er sagte nicht, worin diese Wonnen und Freuden bestanden, es blieb in ein mystisches Dunkel getaucht.

Und sie fragte nicht danach, sie ließ sich nur einlullen von der sanften Musik seiner Worte. Als er dann ging, nachdem er vergeblich Roberts Rückkunft abgewartet hatte, zog er wieder an der Schwelle ihre Hand an seine Lippen, und dann sagte er, und abermals kam dieses seltsame Ruhenlassen des obern Lides mit den langen Wimpern auf dem untern und dieser weiche langsame Aufblick:

»Ich habe mich schon ein paar Tage auf diesen Besuch gefreut, nun zehre ich wieder lange daran.«

Denise meinte, wenn es ihr auch schmeichelte:

»Aber, aber!«

Wieder kam der sammetweiche Blick:

»Ja, ja, gnädige Frau. Glauben Sie denn, daß ich mich zu Hause unterhalte? Sehen Sie, das Gut ist verpachtet, und für Landwirtschaft habe ich gar kein Interesse. Dann hat mein Notar – das ist nämlich wirklich ein famoser Mann – mir grundsätzlich verboten, mich um irgend etwas zu kümmern, was die Landwirtschaft betrifft oder meine Gutsverwaltung angeht. Ich darf nicht einen Ziegel vom Dach nehmen, ich darf, ich möchte beinahe sagen, keine Blume abschneiden, denn mein Notar meint, nur so könnten meine fürchterlichen Schulden gedeckt werden. Wirklich, es ist mir alles fortgenommen, ich darf an nichts heran! Es ist eigentlich ein entsetzlicher Zustand, obgleich ich manchmal darüber lache. Gnädige Frau, ich habe eben von den Blumen gesprochen. Nun, wenn ich so durch den Garten gehe, denke ich: jetzt wirst du deiner reizenden Nachbarin einen kleinen Strauß mitnehmen! Wissen Sie, nichts Schönes, wie man es in Paris bekommt, aber, Gott, irgendein paar Blumen. Da gehe ich denn an einer Rabatte hin und will etwas abpflücken, gleich kommt der alte Pascal, der Gärtner, mir in seinen riesigen Holzschuhen entgegen, nimmt den Hut ab und sagt: ›Herr Baron, Sie werden es mir nicht übelnehmen, aber das ist nicht gestattet! Das dürfte der Herr Notar nicht wissen!‹ Ich will wütend werden, denn am Ende ist es doch mein Grund und Boden, und ich werde doch mal eine Blume abpflücken dürfen; aber der Mann erklärt sofort weiter: ›Der Herr Notar hat all diese Blumen schon verkauft! Sie werden nach Paris geschickt.‹ Nun denken Sie, wie einem zumute ist, wenn man so durch seinen eigenen Garten geht und hat nicht das Recht, einen Grashalm abzurupfen! Was ist denn schließlich solch eine Blume wert? Keinen Sou! Herrgott, und was habe ich in Paris für Blumen ausgegeben! Was habe ich in Paris für Blumen verschickt! Was habe ich in Paris für Blumen mitgebracht! Und wenn ich denke, zu welchen dummen und albernen und törichten Gelegenheiten. Ich bereue nichts, gar nichts. Wozu? Das hat keinen Zweck, man wird dadurch nicht besser, aber das könnte ich wirklich bedauern, denn so habe ich für Sie keine Blume, und Ihnen hätte ich zu meiner Pariser Zeit den ganzen Blumenmarkt zu Füßen gelegt ...«

Denise schlug das Herz. Er wollte ihr Blumen schenken! Hatte Robert je daran gedacht? Er wollte ihr Blumen geben, der keine einzige besaß, und in ihrem Garten stand alles voll, wenn auch bei ihnen die schönsten fortgeschickt wurden, um Geld herauszuschlagen.

Sie wollte sagen: ›Ich habe ja selbst Blumen hier.‹ Doch das wäre eine Kränkung gewesen, und nach einer Weile erst, denn sie war nicht schlagfertig, kam es von ihren Lippen:

»Nun, Herr d'Hautecourt, nehmen wir es als geschehen an. Ich danke Ihnen für die gute Absicht.«

Sie meinte, sie hätte Gott weiß was damit gesagt.

Er verbeugte sich, dann war er verschwunden. Denise aber blieb im Salon, den sie sonst selten betrat, sitzen und lauschte wieder auf das Rollen der Räder, bis es in der Ferne verklang.

Sie ging mit der Absicht um, ihrem Mann den Besuch mitzuteilen, aber da er heute wieder sehr spät kam, nachdem sie allein ihr Essen hatte einnehmen müssen, sagte sie sich: ›Ach was, mag er es erfahren, von wem er will, er erzählt mir auch nicht, wo er gewesen ist.‹

Sie sprach ihn den Abend nicht, betete noch mit ihrer Kleinen, dann legte sie sich schlafen. Aber während sie den Schlummer suchte, sah sie immer vor sich wie ein Atmen, wie eine Brandung, die regelmäßig wiederkehrt, dieses Öffnen und Schließen jener schwarzen, langbewimperten Augen, diesen Aufblick, nachdem die Pupille lange auf ihr geruht hatte.

Robert hatte nicht gefragt, ihm war der Besuch auch nicht mitgeteilt worden, und als nach ein paar Tagen Baron d'Hautecourt von neuem erschien, abermals nachmittags zur gleichen Stunde, war er wiederum nicht zu Hause.

Denise empfing den Besuch. Diesmal waren sie schon bekannter und vertrauter. Er trat schnell ein, küßte kurz ihre Hand, sie nahmen Platz, genau in denselben Stühlen wie das erstemal, und wieder begann dieses sanfte Geplätscher des Gesprächs, das nie zu Höhepunkten stieg, aber auch nie gänzlich verflachte. Immer ließ sie ihn erzählen, während sie selbst kaum etwas sagte.

Aber er stellte doch ab und zu eine Frage, und es klang daraus ein Bestreben, als wollte er das prüfen und richtigstellen, was er vielleicht von anderer Seite über die Familie de la Caille gehört hatte.

Denise hätte ihn am liebsten gefragt, was die Leute über sie sprächen, aber sie fand nicht den richtigen Augenblick, und schließlich tat sie es nicht. Als er diesmal schied, standen sie sich beinahe wie gute Freunde gegenüber, und sie rief ihm zu:

»Auf Wiedersehen!«

Er kam wieder, kam wieder und immer wieder. Die Pausen wurden geringer, schließlich erschien er beinahe jeden Tag. Ab und zu einmal zeigte sich auch Robert, den der Baron, obgleich er ihn nur wenig gesehen hatte, doch ganz genau zu beurteilen schien und geschickt zu behandeln wußte.

Während er Denise von eleganten Dingen der Welt erzählte, die der jungen Frau Spaß machten und sie mit ihren Gedanken nach Paris zurückführten, tat er gegen Robert ganz anders. Wenn er mit ihm im Garten spazieren ging und sich die Kulturen zeigen ließ, gewann es den Anschein, als hätte er, der keinen Grashalm brechen durfte, nie ein anderes Interesse gehabt als für Landwirtschaft, Gemüsezucht und Blumenpflege. Er ließ sich lange Vorträge über die Düngemittel halten, er merkte sich alles sehr gut, und das nächstemal, wenn er Robert traf, tat er ein paar geschickte Fragen, die den Anschein erweckten, als redete aus ihm eigene Weisheit und nicht die, die ihm erst durch Herrn de la Caille zugeflossen war.

So kam es, daß Robert, ohne einen förmlichen Gegenbesuch gemacht zu haben, die Aufforderung annahm, einmal nach dem Gute des Barons hinüberzukommen. Herr d'Hautecourt schickte ihm dazu eigens sein Dogcart.

Robert tat bei dieser Gelegenheit mehr denn seit langer Zeit, um seinen äußern Menschen instand zu setzen. Er zog seinen besten Anzug an, rasierte sich eine Stunde lang, suchte Krawatten heraus, verlangte ein bestimmtes Hemd, das noch beim Plätten war, sofort fertiggestellt, und endlich bestieg er das Dogcart. Da er sich nicht wie ein Bauer, den der Diener etwa mitgenommen hätte, fahren lassen, sondern den Herrn zeigen wollte, setzte er sich rechts und nahm die Zügel in die Hand.

Seine alte Leidenschaft für Pferde, für Fahren, für Eleganz schien aufgewacht zu sein, und er sagte zu Denise, die den Veranstaltungen zusah, während er vor der Villa eine Volte fuhr:

»Das Pferd steht sehr gut am Zügel! Man sieht, daß der Gaul eine Hand gewöhnt ist, die fahren kann.« Dann ließ er antraben, und als wollte er seiner Frau, Louis und der dicken Köchin, der Amme und der kleinen Lucy, die neben Denise stand, zeigen, was der Herr, der Gatte und Vater eigentlich für ein Mann sei, machte er mehrmals auf dem Platz die Runde, bis er endlich geradeaus hinausfuhr auf die Chaussee und zwischen den nun dicht belaubten Frühjahrsbäumen verschwand.

Denise kehrte mit der kleinen Lucy ins Haus zurück. Das Kind fragte:

»Wo fährt denn Papa hin?«

Denise nahm das Kind auf den Schoß und antwortete, indem sie der Kleinen das schwarze Haar strich:

»Zum Onkel d'Hautecourt.«

Da meinte Lucy, sah ihre Mutter mit großen Augen ernst und dabei sehr komisch an:

»Das ist ein schöner Onkel.«

Denise sagte nur:

»Du kleines Närrchen.«

Aber unwillkürlich stand der Augenaufschlag, der sammetweiche, vor ihrem Gedächtnis. Sie fragte leise das Kind:

»Hast du denn den Onkel gern?«

Da der Baron der kleinen Lucy einmal Bonbons mitgebracht hatte, ganz gewöhnliche nur, wie man sie im Dorfe bekam, wobei er sich entschuldigte, über alles hielte der Notar seine Hand, antwortete die kleine Lucy:

»Ich habe den Onkel sehr lieb, so lieb wie dich!«

Denise war es ein Gefühl, als hätte sie das dazu zu setzen, was sie jetzt fragte:

»Und den Papa?«

Aber Lucy, um die sich Robert seit längerer Zeit gar nicht mehr kümmerte, schüttelte den Kopf:

»Nein, Papa ist nicht gut mit Lucy!«

Denise fand, eine solche Äußerung nicht dulden zu dürfen. Darum meinte sie:

»Der Papa hat dich doch lieb.«

Da antwortete die Kleine: »Papa hat Lucy nicht lieb, und die Mama hat er auch nicht lieb.«

Denise sah das Kind an:

»So darfst du nicht sprechen.«

Dann ging sie mit ihm in den Garten, um zu spielen.

Robert kam nicht wieder, Stunde auf Stunde verrann. Denise hatte die Kleine zu Bett gebracht, aber sie ließ mit dem Essen warten, obgleich sie nach ihren letzten Erfahrungen sonst keine Rücksicht mehr auf das Fehlen ihres Mannes genommen hatte. Sie ließ warten in dem Gedanken, den sie sich selbst nicht eingestand, sie wollte von ihm erfahren, wie es dort wäre in La Bergerie, wie das Gut hieß.

Endlich entschloß sie sich doch zu essen, denn es war spät geworden, und er war noch immer nicht heimgekehrt. Bald ging sie zu Bett, und wieder blieb sie wach, bis sie – schon brach das Tageslicht durch die geschlossenen weißen Läden – endlich den leisen Schritt ihres Mannes hörte, der heimkehrte. Da sagte sie sich: ›Er war drüben bei der andern.‹

Am nächsten Tage sagte Robert nur:

»Das war sehr amüsant, und wir haben furchtbar lange gesessen, furchtbar lange. Na, unser Freund – so nannte er ihn jetzt immer – weiß auch, was ein guter Tropfen ist.«

Damit schien die Sache erledigt. Denise aber wußte, daß ihr Mann log.

Baron d'Hautecourt kam an demselben Nachmittag, als Robert eben fortgegangen war. Sie fragte nach den ersten Begrüßungsworten:

»Wie lange ist denn mein Mann gestern bei Ihnen geblieben?«

»Ach, nicht lange, gnädige Frau, er wollte ja zum Essen zurück sein.«

Sie meinte nur:

»So.« Sie wagte nicht ihn anzublicken. Aber sie war angeregt, heiter, wie er sie noch nie gesehen hatte, war lustig, fast übermütig. Er erzählte nett und komisch allerlei Sachen, die ihm auf dem Gute zustießen, wie der Pächter, der Gärtner, kurz das ganze Personal sich im stillen über die Dummheit des Stadtmenschen unterhielten; wie er sich bemühte, in die Geheimnisse des Landlebens einzudringen und doch täglich erkannte, daß es für ihn ganz unmöglich sei. Schließlich meinte er:

»Denken Sie, was ich am liebsten möchte, und wenn ich es mir nicht geschworen hätte, vernünftig zu sein, ich täte es wirklich. Ich möchte so gern einmal, nur auf einen Tag, nach Paris.«

Ihre Augen leuchteten. Er sprach weiter wie einst Abraham, der dem Herrn die Zahl der Gerechten in Sodom abrang:

»Und wenn ich nur einen Abend dort wäre! Ach ich würde mich schon mit ein paar Stunden begnügen! Nein, gnädige Frau, mir wäre es wirklich genug, sagen wir eine Stunde! Und wenn mir das nicht erlaubt wäre, nur eine Viertelstunde mal irgendwo den Boulevard hinuntergehen! Ja, schließlich, wenn ich nur Paris sähe! Ich wollte mich verpflichten, den Bahnhof nicht zu verlassen! Wirklich, ich würde mit dem nächsten Zuge wieder zurückfahren, nicht einmal aussteigen. Nur daß ich Paris vor Augen hätte, Pariser Luft atmete. O Gott, o Gott, wäre ich dann glücklich!«

Denise seufzte.

Er blickte sie an:

»Können Sie das nicht verstehen?«

Da meinte sie, und noch nie hatte sie ihm so in die Augen gesehen:

»Ich denke genau wie Sie.«

Er wurde plötzlich aufmerksam: »Sie möchten nach Paris?«

Nun ließ sie sich gehen, und alles, was sich in ihr aufgespeichert hatte seit so langer Zeit, machte sich Luft:

»Ja, ich möchte nach Paris, nur einen Tag, nur eine Stunde, genau so wie Sie, nur auf den Bahnhof gehen, nur Pariser Luft atmen. Gott, wäre das schön!«

Er rückte ihr näher:

»Fahren Sie doch einmal hin.«

Da gestand sie ihm, was sie hinderte. Sie wäre zu stolz, betteln zu gehen bei ihren Eltern, die sie nicht einlüden.

Wieder ruhte sein Sammetblick auf ihr und schien sie zu erforschen bis in den letzten Winkel ihres Herzens:

»So fahren Sie doch allein!«

Sie wollte nicht sagen: ›Ich habe kein Geld!‹ Oder: ›Ich bekomme es nicht von meinem Mann.‹ So meinte sie nur:

»Das geht doch nicht!«

Nun fragte er, wie zum Scherz:

»Gnädige Frau, soll ich Sie begleiten?«

Es war, als wollte sie sofort ja sagen, aber dann meinte sie resigniert und wagte nicht seinen Augen zu begegnen:

»Aber, Herr d'Hautecourt, das geht doch nicht!«

Er rief:

»Ach was, immer; es geht nicht, es geht nicht! Wissen Sie, daß Sie schrecklich sind!«

Sie verteidigte sich:

»Ich kann doch nicht anders.«

»Warum nicht? Alles geht, was man nur will. Dieses Gebundensein, dieser Zwang, das ist ja fürchterlich! Man muß sich doch ausleben. Und doch haben Sie recht: so vieles geht nicht, denn man braucht Dinge dazu, die man nicht hat. Was wollte ich alles tun, wenn ich Geld hätte, und ich habe keins. Das ist wie jedes Gebundensein im Leben. Jeder von uns Menschen möchte Dinge, die er doch nicht darf. Ich habe so mancherlei Wünsche, die ... ach gnädige Frau, nein, nein, reden wir nicht davon!«

Er hatte sich immer näher zu ihr gebeugt, und sie fühlte, daß er jetzt etwas sagen könnte, was sie nicht hören durfte. Aber sie empfand das zwingende Bedürfnis, sie hatte die Sehnsucht, es zu hören, um jeden Preis. Sie fragte:

»Wie meinen Sie das?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Aber Sie haben doch gesagt, Sie können alles, Sie dürfen alles, Ihnen ist alles gleich. Also, wie meinen Sie das?«

Er fragte:

»Erlauben Sie mir zu sagen, was ich will?«

»Gewiß.«

»Und Sie werden nicht böse sein?«

Sie zögerte doch etwas, ehe sie antwortete:

»Nein.«

Nun wandte er sich ihr zu und blickte sie so lange an, daß sie, die zuerst versuchte, sein Auge auszuhalten, die Lider senken mußte. Es verging eine lange atemlose Pause. Sie wartete, er müßte irgend etwas erklären. Sie ahnte selbst nicht recht, was es sein konnte, sie fühlte nur irgendeinen Zusammenhang zwischen ihr und ihm. Sie zitterte vor dem Augenblick, wo er es sagen würde, und doch wünschte sie, er täte es.

Plötzlich sprang er auf, griff ungestüm nach ihrer Hand, zog sie an die Lippen, küßte sie dreimal und sprach:

»Gnädige Frau, ich muß mich retten vor mir selbst. Leben Sie wohl!«

Er war verschwunden. Sie starrte ihm nach. Sie ging langsam ans Fenster: der Wagen war längst davon. Sie blickte hinaus auf den Garten, der die Hälfte der Zeit ihres Mannes ausfüllt; sie blickte weiter hinüber über die Beete, wo in der Ferne das Gehölz sich abzeichnete, von dem Robert gesprochen hatte, hinter dem sie das Dorf ahnte, wohin er immer ging, das die andere Hälfte seines Lebens in Anspruch nahm. Und mit einemmal begann sie zu weinen.


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