Georg Freiherr von Ompteda
Denise de Montmidi
Georg Freiherr von Ompteda

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VIII.

Robert empfing sie ziemlich gleichgültig. Er war zwar auf den Bahnhof gekommen, aber er schien nicht gerade besonders glücklich über ihre Rückkehr zu sein. Sie wollte entschädigt sein für das, was sie verlassen hatte, für die Einsamkeit, der sie entgegenging; sie suchte in seinen Augen den Ausdruck des Glückes darüber, daß Frau und Kind wieder bei ihm waren.

Aber er erzählte nur, während er sie vom kleinen Bahnhof nach Montmidi geleitete, vom Stand der verschiedenen Felder und Rabatten, und daß er einen Tagelöhner angenommen hätte, da Louis und er die Arbeiten jetzt nicht mehr allein besorgen könnten. Er sprach von dem Verkauf der Garten- und Feldfrüchte. Er erzählte, hier könnte er drei Sous mehr bekommen als dort, anderseits müßte er den Transport bis zur Bahn selbst übernehmen. Er war so vertieft in seine, wie Denise fand, kleinlichen Angelegenheiten, in das Geld, das unglückliche Geld, das hier das ganze Leben beherrschte, daß sie stumm zu Boden blickte und neben ihm herschritt, als wäre sie auf den Mund geschlagen.

Sie hatte erwartet, er werde für die kleine Lucy ein Wort sorgender Teilnahme finden, werde fragen, was die Eltern machten, was René, wie es in Paris gewesen wäre. Nichts, nichts, er dachte nur an seine armseligen Ernten.

Und, obgleich er wenigstens rasiert war, wie sah er aus gegen die Herren in Paris! Immer wieder stieg vor ihren Augen das elegante Treiben der Boulevards auf. Sie hörte nicht mehr zu, was ihr Mann sprach; sie sah plötzlich abermals den Herrn vor sich stehen, der sie angeredet hatte, der ihr jetzt wie eine Verkörperung der eleganten Welt erschien.

Sie war nicht mehr böse darüber, sie hätte ihm wieder begegnen wollen, sie hätte ruhig mit ihm gesprochen. Sie verstieg sich zu Keckheiten, an die sie doch eigentlich nicht dachte. Sie wäre mit ihm die Avenue de l'Opéra hinuntergegangen, nur aus Trotz gegen diesen – diesen Bauer!

Als sie sich der kleinen Villa näherten, kam ihr das Haus, in dem sie doch glücklich gewesen war, das sie doch eigentlich sehr nett gefunden hatte, winzig und gedrückt vor! Sie sah, daß eine Schieferplatte am Dach fehlte, sah, daß die Läden im ersten Stock schief hingen. Sie bemerkte, wie die Wege schlecht gehalten waren; denn darauf gab man nichts, nur auf das, was Beete und Felder einbringen sollten. Alles Geringe, Häßliche, Armselige, Unordentliche fiel ihr auf, und in ihrer Seele regte sich ein Gefühl der Empörung. Warum fragte er nicht nach ihr? Er sollte sich mit ihr beschäftigen, er sollte, er mußte! Was war sie ihm denn sonst? Aber er kümmerte sich nicht um sie, er dachte nur an seine ›elenden Radieschen‹, wie ihr Vater es genannt hatte.

Sie ging mit der Kleinen hinauf über die ächzende, etwas nach außen hängende Treppe, blieb im Schlafzimmer stehen, während nebenan die Amme das Kind versorgte, und sah sich trostlos um in dem deckenniedern Raum, in dem sie den Luxus der väterlichen Wohnung in Paris vermißte. Sie hatte nicht den Mut, sich auszuziehen. Was stand ihr bevor? Ein unseliges Leben der Öde und Langeweile an der Seite dieses ungepflegten Mannes, der sich um seinen Salat mehr kümmerte als um seine Frau.

Sie lauschte in die Stille hinaus. Es schwieg alles; und diese Ruhe, die ihr früher so wohlgetan im Gegensatz zu dem aufgeregten Paris, die sie gemahnt hatte an das stille Leben bei den frommen Schwestern, erschien ihr jetzt unerträglich. Ihr klang noch Paris in den Ohren. Das Rattern auf der Straße, die unausgesetzten Rufe der Verkäufer, das Gehen der Menschen, das Rauschen seidener Kleider und Unterröcke, das Tuten der Automobile, das Rasseln der Omnibusse.

Sie warf sich in eine kleine Bergère neben ihrem Schreibtisch, ließ die Arme schlaff sinken, streckte die Beine von sich und starrte verzweifelt zu Boden. Allmählich tropften ihr die Tränen aus den Augen, immer stärker rann die Flut, und plötzlich stand sie auf, kniete auf der Bettvorlage nieder, warf sich mit dem Oberkörper in die Kissen und schluchzte, während durch den Schleier hindurch ihre Tränen die Bettdecke näßten.

Endlich erhob sie sich; sie fand die Kraft, die Nadeln aus dem Hut zu ziehen, den Schleier abzubinden. Aber sie setzte sich wieder hin, keiner Bewegung, keines Entschlusses fähig.

Sie hätte mit Freuden die Einsamkeit mit ihrem Manne geteilt, das bescheidene Dasein hier, sie hätte mit ihm gespart und wenn er es verlangt, selbst im Garten die Hacke geführt, aber nur gut mußte er gegen sie sein, sprechen mußte er mit ihr! So konnte sie es nicht ertragen. Wenn er ihr nur ein Wort gesagt hätte: ›Du bist recht lange ausgeblieben!‹ oder ›Gott sei Dank, daß du zurück bist!‹ Ein zärtliches Wort nur, daß sie merkte, sie hatte ihm gefehlt. Sie wäre ihm in die Arme geflogen, sie wäre nie, nie wieder nach Paris gegangen, nach dem sich doch ihre Seele sehnte.

Und ihr schien, sie hätte ebensogut noch ein paar Monate dort bleiben können, noch ein paar Jahre, er hätte es nicht bemerkt, er hätte weiter gepflanzt, gejätet und gegraben.

Da richtete sie sich auf und ging in das Kinderzimmer nebenan. Die kleine Lucy war das einzige, das ihr blieb. Denise hatte plötzlich abenteuerliche Gedanken. Sie wollte die Amme fortschicken, um sich ganz allein der Pflege des Kindes zu widmen. Sie suchte eine Art herber Befriedigung in dem Gedanken, sie säße dann Tag und Nacht bei ihrer Kleinen, sie riebe sich auf in der Pflege, sie würde krank, würde sterben – ja, sterben, wenn das Kind nur erst ein paar Jahre alt wäre, daß es der Mutter nicht mehr bedurfte.

Sterben wollte sie; denn was sollte sie auf dieser Erde, wo sie keinen Halt hatte, weder an den Eltern, noch am Bruder, noch auch an ihrem Mann, deren jeder seinen Weg selbstsüchtig ging. Was hatte sie vom Dasein? Sollte sie es vertrauern auf diesem elenden Erdenfleck?

Da nahm sie ihre kleine Lucy auf den Arm und ging mit dem Kinde auf und ab. Und das kleine Wesen lächelte sie an, sie nickte ihm zu, es lächelte wieder, und in einer überströmenden Wallung drückte sie es an die Brust und bedeckte es mit Küssen.

Abends beim Essen gab es nur Kohlsuppe, darauf kaltes Geflügel. Robert machte eine Bemerkung, so hätte er die ganze Zeit gelebt. Er sah sie dabei von der Seite an, als wollte er sagen: ›Ich habe gespart, und nur deinetwegen muß Geld ausgegeben werden.‹

Da platzte sie heraus, indem ihre ganze Nervosität sich entlud:

»Nun, mir liegt, weiß Gott, nichts daran, und wenn ich's zwar zu Hause anders gewöhnt gewesen bin, ich kann auch billig leben!«

Er sah sie groß an:

»Billiger ist es auch gewesen, als ihr nicht da waret.«

Ihre Lippen bebten:

»So, da wäre es ja besser gewesen, wir wären noch nicht wiedergekommen!«

»Wieso?«

»Da hättest du noch mehr sparen können!«

Er legte mit einem Ruck die Gabel hin, daß der Teller klirrte:

»Meinetwegen hättest du noch bleiben können!«

Sie blitzte ihn an:

»So, also ich hätte noch bleiben können? Ich habe dir wohl nicht gefehlt? Ja, weil es billiger war! Nun, essen muß ich allerdings, denn von der Luft kann ich nicht leben.«

Er redete während des ganzen weiteren Mahles keinen Ton, und nach Tisch an diesem ersten Abend, da sie zurückgekehrt war, setzte er sich in die Bibliothek und las die Zeitung.

Sie öffnete ein paarmal die Tür, ihr Herz war weich geworden, und sie wollte wieder mit ihm anknüpfen. Dann kam sie herein und ging ohne Zweck auf und ab. Wenn er nur aufgesehen und ihr einen Blick gegönnt hätte, wäre sie ihm um den Hals gefallen. Aber er tat gar nicht, als ob sie da wäre. So stieg sie schließlich zum Schlafzimmer hinauf, setzte sich an ihren kleinen Schreibtisch und begann zu weinen. – –

Nun wußte sie es: er hatte sie und das Kind nicht vermißt – aus Geiz! Es gab ein paar Esser weniger im Haus, das hatte den Ausschlag gegeben. Und jedesmal, wenn ihr diese Überlegung kam, ward sie bitter und verstockt, keine Träne trat ihr mehr in die Augen. Da Robert blieb wie er gewesen war, stumm und ernst, so sprach auch sie nun kein Wort mehr.

Die Tage strichen hin, die Wochen vergingen. Sie war von ihrem Plane abgekommen, die Amme fortzuschicken. Sie war müde, lässig, ihr fehlte jede Tatkraft; sie hätte die Kleine nicht pflegen können. Eines Tages fragte sie sich im stillen: ›Bin ich eigentlich krank?‹

Sie war gänzlich verändert, hatte keine Schmerzen, kein Leiden, aber stumpf und dumpf war es ihr in Seele und Hirn. Ihr Herz war wie eingeschlafen, es regte sich nicht für ihren Mann, es sehnte sich nicht nach den Eltern, nur immer wie ein phantastisches Bild stand Paris vor ihr.

Sie sah das Menschengewühl vor sich, sah lachende, frohe Leute, sah ihre Mutter lässig im Wagen zurückgelehnt, ein kleines seidenes Kissen im Rücken, sah ihren Vater gehen, den Zylinder in die Stirn gerückt, den Stock mit der goldenen Krücke nach unten, in seinen tadellosen Lackstiefeln, mit den weißen Handschuhen, die er nie abzulegen schien. Und immer dazwischen tauchte gleich einem wilden, ungepflegten Bären ihr Mann auf, mit seinen verbrannten Arbeitshänden, dem schmutzigen Rock, den Stiefeln, an denen die Erdklumpen klebten.

Dann kam von neuem eine unendliche Sehnsucht über sie nach Paris. Sie hörte die Seine rauschen, auf deren Flut die kleinen Dampfer wie Spinnen hin und her schossen. Sie sah in ihrer Phantasie bei der untergehenden Sonne den Strom mit seinem buntbewegten Leben und der unendlichen Menge von Brücken, die sich in ihrer Phantasie in der Perspektive fortsetzten, als würfen zwei gegenüberliegende Spiegel die Bilder zurück, ihre Zahl ins Ungemessene vermehrend.

Manchmal nachts, wenn Robert nach dem täglichen angestrengten körperlichen Arbeiten im tiefen Schlafe lag und sie nur ab und zu sein schnarchendes Atmen hörte, konnte sie keine Ruhe finden, stand auf und warf ihren seidenen Schlafrock aus der Ausstattung über, der jetzt unmodern geworden war. Dann öffnete sie das Fenster, und hinter den weißen Läden starrte sie in den Garten hinaus, auf dem in der milden Nacht die Mondstrahlen lagen.

Weich zeichneten sich die Umrisse ab. Drüben auf der Wiese, die man durch einen Durchblick sah, schien es wie Wattedunst zu schweben. Es war ihr, als gingen dort Gestalten. Sie sah schärfer hin – nichts war zu erblicken. Dann war es ihr plötzlich, als hörte sie Geräusche. Sie lauschte – alles still.

Während sie in dieser Einsamkeit keinen Schlaf fand, packte sie die Verzweiflung so, daß sie die Hände ineinander schlang, sich die Nägel ins Fleisch trieb und die Arme anstrengte, bis sie dann auffuhr in dem Gedanken: ›Lärm, Lärm! Geräusch! Leben! Bewegung! Ich ersticke hier, ich komme um!‹

Sie trat an das Bett und sah ihren Mann an. Sie wollte ihn schütteln und rütteln, daß er aufwachte, sie wollte ihm ins Ohr schreien: ›Erzähle mir etwas, sprich mit mir! Warum hast du mich in diese Einsamkeit gebracht? Das habe ich nicht gewußt, als du mich nahmst! Wenn du mir das gesagt hattest, hätte ich dich von mir gewiesen!‹

Aber er lag unbeweglich da.

In einer Nacht hielt es sie nicht mehr: sie weckte ihn. Er sah sie mit halb verschlafenen Augen groß an, und sie schrie:

»Wach auf, Robert, sprich mit mir, erzähle mir etwas!«

Er brummte:

»So 'ne Dummheit!«

Dann legte er sich auf die andere Seite.

Da packte sie ihn und rüttelte ihn mit aller Kraft. Er drehte sich herum und stammelte:

»Laß mich schlafen!«

Sie schrie:

»Ich kann nicht schlafen!«

Er richtete sich auf:

»Bist du denn verrückt geworden? Wenn du nicht schlafen kannst, ist das doch noch kein Grund, daß ich nicht schlafe!«

Dann warf sich der trotz seiner anstrengenden Arbeit allmählich dick und rund werdende Körper schwer herum, daß die Matratze ächzte.

Sie ballte beide Fäuste, riß die Augen groß auf, drohte ihm und rief:

»Du bist daran schuld, daß wir nichts haben, und ich muß mit dir leben. Sprich mit mir, sprich wenigstens mit mir!«

Er war wütend, daß er im Schlaf gestört worden war, sprang mit einem Satz aus dem Bett, lief auf und ab, daß die nackten Fußsohlen auf dem Boden klatschten und sagte einmal über das andere:

»Zum Donnerwetter, man muß doch wenigstens schlafen können.«

Da schrie sie:

»Kümmere dich um mich!«

Er blieb stehen: »Wie meinst du das?«

Und mit einemmal entlud sich ihm ihr ganzes Herz in stürmischen Worten. Die Sätze kaum beendend, rief sie, er habe sie hierhergeführt, er ließe sie hier in der Einsamkeit, sie hätten keinen Verkehr, sie sähen keinen Menschen, dazu wäre sie nicht erzogen worden. Er solle ihr anderes schaffen.

Plötzlich schlug ihre Stimmung um, sie begann zu weinen und klagte:

»Wenn meine Eltern wüßten, wie es mir hier geht, wenn das nur meine arme, arme Mutter wüßte, da solltest du mal sehen!«

Und merkwürdig! Er suchte sie zu beruhigen. Er schien doch ein schlechtes Gewissen zu haben. Er wurde allmählich weich, weicher als sonst. Er setzte sich zu ihr auf den Bettrand und streichelte sie, wie er es lange nicht getan hatte. Er sagte, sie hätte ihm doch ein treues Weib sein wollen und alles mit ihm tragen, er könnte es nicht ändern, er müßte arbeiten und arbeiten, und sie sollte es ihm nicht noch schwerer machen, einmal würden bessere Tage kommen.

Er sprach flüsternd, daß man es in der Stille der Nacht nebenan nicht hören sollte, denn man vernahm leises Weinen des Kindes und den Schritt der Amme.

Er meinte, sie würden erben; man müßte sich nur gedulden, ihre Eltern lebten doch nicht ewig.

Als er dies sagte, empörte sich alles in ihr, die doch selbst einmal zu ihm von dem Tode ihrer Eltern gesprochen hatte. Sie dachte: ›Er hat nichts, aber er will, daß meine Eltern für ihn sterben sollen, für ihn, der mich nicht liebt, der mich verkommen läßt, der mich unglücklich macht.‹

Da verbat sie sich, daß er so redete.

Er blickte sie an:

»Du hast es doch selbst gesagt!«

»Ja, aber ich will so etwas von meinen Eltern nicht hören! Meine armen, armen, armen Eltern, wenn sie das wüßten!«

Es schien, als ob ihre Eltern weiche Menschen wären, die innigen Anteil an dem Schicksal der Tochter nähmen.

Da zuckte er zusammen:

»Na, das ist doch zu toll!«

Sie aber packte ihn und sah ihm in die Augen:

»Robert, liebst du mich eigentlich noch?«

Er meinte grob:

»So nicht.«

»Du liebst mich nicht?«

»So nicht, wenn du in solcher Stimmung bist. Überhaupt, was ist das für eine Manier, es ist, es ist« – er sah nach der Uhr – »es ist bald drei, was soll denn das? Bist du verrückt geworden, was fehlt dir denn eigentlich?«

Sie schrie, und ihre Stimme überschlug sich:

»Was mir fehlt? Alles fehlt mir, Menschen und Leben. Und ... und du, dein Benehmen ... mir fehlt deine Liebe, denn du liebst mich nicht.«

Er sagte nicht nein und nicht ja. Sie sah ihn in dem vom Mondschein dämmerhellen Zimmer lange forschend an.

Ihm aber wurde die Sache langweilig, plötzlich begann er zu lachen und brummte:

»Das ist ja zu dumm!«

Sie begriff nicht, daß nicht in ihm ein Echo von dem wach ward, was in ihrer Seele zitterte. Es war ihr, als könnte dieser Mensch hier nicht ihr Mann sein, als käme er aus einer andern Welt, wäre von einem andern Fleisch und Blut, als hätte sie nichts mit ihm gemein. Während ihr die Tränen in die Augen traten, nicht Tränen des Kummers und Leidens, sondern der Wut und Erbitterung, stieß sie hervor:

»Also soweit sind wir gekommen!« Er aber war müde; auf dem nackten Boden wurden ihm die nackten Füße kalt, darum meinte er:

»Zum Deubel noch mal, man erkältet sich ja hier.«

Mit einem mächtigen Satz war er im Bett, zog die Decke halb über den Kopf und rührte sich nicht mehr.

Denise sah seinem Beginnen zu, wie einem unerklärlichen Schauspiel; es war ihr, als müsse mit diesem Augenblick alles zu Ende sein, was zwischen ihnen bestand. Sie wich langsam bis an den Schreibtisch zurück. Dort setzte sie sich auf einen Stuhl und starrte, ohne einen Gedanken zu fassen, eine Weile vor sich hin.

Dann fuhr sie auf, glitt in ihre Morgenschuhe, öffnete langsam die Tür, ging hinaus, und wartete am Zimmer der Kleinen. Man hörte nichts mehr, das Kind schien zu schlafen. Da hob sie den Morgenrock mit beiden Händen und stieg langsam die Treppe hinab, die unter ihren Schritten knarrte. Sie ging den Gang hinunter, schloß auf und trat in den Garten.

Sie wußte selbst nicht, was sie tat. Sie wollte nur fort, wollte mit diesem Mann das Zimmer nicht mehr teilen.

Unten lief sie auf und ab zwischen den Beeten, in ihrem gelben Schlafrock, der weiß aussah im Licht des Mondes.

Es war trotz des Sommers eine kühle Nacht. Ein paarmal, als sie stehengeblieben war, fröstelte sie zusammen. Aber sie mochte das Haus nicht betreten und irrte weiter, geistesabwesend, mit weit aufgerissenen Augen. Sie starrte auf die Pflanzungen, die ihr, wie sie meinte, Herz und Seele ihres Mannes entrissen. Sie ging hinaus über die kleine Einfriedigung auf das Feld.

Keinen Augenblick dachte sie daran, daß sie ja über dem Hemd nur die leichte, nicht einmal richtig geschlossene Seidenhülle des Schlafrocks trug. Und in dem zur Nacht in zwei Zöpfen geflochtenen Haar ging sie weiter und weiter, atmete tief, blieb ab und zu stehen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als wollte sie die Gedanken wegwischen.

Sie sah nichts von der milden Schönheit des Sommermorgens; sie merkte nicht, wie der Mond allmählich verblaßte, um dem Tagesgestirn Platz zu machen. Sie verlor einmal einen Schuh, der harte Kies traf ihren zarten Fuß, aber sie machte sich nichts daraus. Sie hatte nur den einen Gedanken: Fort, fort von hier, und nie wieder zurück! Sie dachte nicht an ihr Kind, sie hatte alles vergessen; es war, als verwirrte sich ihr Verstand.

Der Tau begann zu fallen, es wurde feucht; die fahle Morgenstimmung zwischen Nacht und Tag trat ein, und mit ihr die größere Frische. Denise schauerte zusammen.

Drüben auf der Straße, durch einen Einschnitt ein Stück sichtbar, fuhr ein Wagen. Jetzt sah man ihn auftauchen, ein zweirädriges Bauerngefährt mit einem Maulesel, der langsam im Schritt dahinging, den Kopf müde gesenkt, daß man nur die langen Ohren bei jeder Bewegung hin- und herschlappen sah. Auf dem Karren saßen zwei Menschen in Mäntel gehüllt, schläfrig. Sie schienen nicht herzusehen, aber ihre Anwesenheit allein reichte hin, Denise zur Wirklichkeit zurückzuführen. Ihr kam plötzlich der Gedanke: ›Wenn man dich hier sähe!‹

Sie schämte sich, zog den Schlafrock über der Brust zusammen und eilte fröstelnd ins Haus. Langsam stieg sie hinauf, vorsichtig öffnete sie das Schlafzimmer, dann glitt sie unter die Decke. Sie zuckte vor Kälte zusammen, bis sie endlich in tiefen Schlaf verfiel.

Sie erwachte erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Sie rieb sich die Augen; die Vorgänge dieser Nacht waren ihr nur dumpf bewußt, wie etwas Schreckliches, das sie betroffen hatte. Sie sah sich um, der Platz an ihrer Seite war leer.


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