Georg Freiherr von Ompteda
Denise de Montmidi
Georg Freiherr von Ompteda

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XVI.

Die Zeitungen hatten sich beruhigt, es schien Gras über die Sache gewachsen zu sein. Denise hatte ihren Aufenthalt im Hotel aufgegeben und ein Zimmer in einer Pension bezogen, wo sie still und unbeachtet lebte. Sie zählte ihr Geld, sie sah es geringer werden, aber sie meinte, bis dahin müßte sich doch ihr Los entschieden haben, und sie hatte keine Angst.

Es entschied sich. Nun, wo man ihre Adresse wußte, suchte der Anwalt ihres Mannes sie auf, um über die Scheidung zu sprechen. Sie wehrte sich keinen Augenblick, sie war nicht zum Kämpfen geeignet, sie befand sich in einer solchen seelischen Bedrücktheit, daß sie nur einen Gedanken hatte: ein Ende machen!

Sie war bereit, die Schuld auf sich zu nehmen; sie war mit ihrer Familie fertig, sie hatte keine Beziehungen, sie meinte, ihr könnte nicht mehr geraubt werden, als schon geschehen war. Aber als sie doch empört war, daß Robert als Heiliger, nur als Rächer seiner Ehre aus dem Handel hervorgehen sollte, und sie dessen Verfehlungen berührte, sagte der Mann, ein aalglatter Advokat, der allen Zornesausbrüchen und Nervositäten standhielt, der immer das gleiche Lächeln zeigte:

»Es würde an der Sache nichts ändern, gnädige Frau, Sie würden nur eins zum andern tun. Ihr Fall allein genügt vollkommen; warum die Geschichte noch mehr aufwühlen?«

Dann redete er ihr zu, indem er in liebenswürdiger Weise auf ihren Gesundheitszustand bedacht schien, sie bedürfe doch nur eins: Frieden! Und bei diesem Kampf würde sie den niemals finden. Er zog Fälle heran, wo sich Frauen und Männer in ähnlicher Lage befunden, er sagte ihr ganz offen, ihre soziale Stellung wäre nun doch einmal dahin; es fiele ihrem Manne auch gar nicht ein, sich etwa rächen zu wollen; er bedauere sogar sein eigenes Verfehlen, nur könne doch davon nicht die Rede sein, daß sie wieder beide zusammen lebten.

Da schrie Denise auf, sprang empor, streckte die Hände abwehrend von sich und rief:

»Nein, nein, ich will ihn nie wiedersehen!«

Und langsam fügte sie hinzu:

»An seinen Händen klebt Blut!«

Sie starrte erschrocken vor sich hin, als sähe sie Henri, Roberts Opfer, mit zerschossener Brust liegen, wie er seine letzte Kraft aufwandte, um ihr den Abschiedsbrief zu schreiben.

Der Advokat redete zwei Stunden lang in seiner flüssigen, liebenswürdigen Weise, mit einer einschläfernden, monotonen Stimme, daß sie wieder das Gefühl hatte: nur ein Ende machen!

Denise konnte es nicht mehr aushalten, über die ganze Angelegenheit auch nur zu sprechen. So gab sie alles zu, gab alles preis, nur ihr Kind wollte sie haben. Aber da stieß sie auf Widerstand. Das wäre ausgeschlossen, hieß es, kein Gericht Frankreichs würde ihr das Recht zusprechen, die Kindererziehung zu übernehmen. Im übrigen möchte sie sich zufrieden geben, es wäre für die Kleine gesorgt, denn sie befände sich bereits bei frommen Schwestern, fern in der Provinz in einer Erziehungsanstalt.

Denise wollte wissen, wo. Sie hatte einen Augenblick die Idee, ihr Kind aufzusuchen; nicht, um es fortzureißen von dort, sondern nur, um es einmal zu küssen, sich zu überzeugen, daß es gesund und gut aufgehoben wäre.

Doch wieder war der Advokat dagegen; er setzte ihr die Folgen auseinander, sprach vom Seelenfrieden der Kleinen, rief das Muttergefühl Denisens an und fragte sie, ob sie die kleine Lucy nicht liebe, und als er die Bestätigung in ihren Augen las, setzte er ihr auseinander, daß das Kind dadurch nur in eine schiefe Stellung im Kloster geraten, daß man seinen Frieden und sein Fortkommen für später aufs äußerste gefährden würde. Er meinte, es wäre das beste, die Kleine lernte die unglücklichen Verhältnisse ihrer Eltern nicht kennen. Sie sollte später in die Welt treten, ohne zu wissen, welcher Sturm sie aus dem Vaterhause fortgeweht hatte. Der Advokat versetzte sich förmlich in die Seele dieses kleinen Mädchens, sprach von ihrer Zukunft, redete von Entsagung und aller Liebe der Mutter und quälte Denise noch eine Stunde.

Als es den ersten Tag nicht glückte, kam er wieder, immer mit seiner Ledermappe, worin er Akten hatte, Akten, von denen Denise nichts verstand, und die sie nicht las, bis sie mehr und mehr ihren Widerstand aufgab. Aber gänzlich beugte sie sich noch nicht, nur wurde sie müde, denn sie hatte keinen Rückhalt, sie wußte sich an niemand zu wenden, und da sie fürchtete, selbst einen Anwalt bezahlen zu müssen, von dessen Kosten sie sich eine ganz phantastische Vorstellung machte, so besprach sie ihre Angelegenheit mit keiner anderen Menschenseele. Sie mußte alles ganz allein in ihrem Innern abtun. Schließlich, um den Menschen nur los zu sein, um sich nicht täglich neu aufzuregen, um nicht ewig dieses stundenlange Flüstern, dieses Bestürmen mit Grundsätzen der Moral und des Rechtes zu hören, erklärte sie ihm, er möge tun, was er wolle.

Von diesem Augenblick ab war Maître Perret völlig verändert. Er öffnete die geheimnisvolle Mappe, er hatte Formulare und Papiere, Stempel und Siegel und Feder und setzte alles auf, ohne Widerrede, geschäftsmäßig, indem er den ganzen Tisch des gemieteten Zimmers mit Papieren überdeckte, von denen Denise nichts verstand.

Er machte sie darauf aufmerksam, daß sie noch vor Gericht geladen würde, er schrieb und schrieb und las ihr endlich vor, was er aufgesetzt hatte. Es war immer noch derselbe Ton seiner gleichmäßigen, eintönigen Stimme, aber es war, als hielte er es nicht mehr der Mühe wert, liebenswürdig zu sein; er war kalt, gemessen, Bureaukrat, Jurist.

Von dem Augenblick ab, wo Denise einmal mürbe geworden war, schien es kein Zurück mehr zu geben. Er nahm alles als selbstverständlich an, er bedachte, er ordnete die Sache für sie, wahrend er doch alles im Auftrage ihres Mannes tat. Früher hatte er erklärt, er sei nur der Vermittler, er stände über den Parteien oder beiden gleich nahe. Jetzt zwang er ihr die Feder in die Hand. Es gab keinen Widerspruch. Er halte in rasendem Tempo vorgelesen, was er aufgeschrieben hatte, und was sie unterzeichnen sollte. Sie war müde und matt, ihr Widerstand gebrochen, und sie setzte ihren Namen darunter, nur in dem Bestreben, endlich zu haben, was ihren erschütterten Nerven bis zum äußersten nottat: Frieden!– –

Darüber waren Monate hingegangen, darüber kam der Frühling nach Paris. Die Gärten dufteten und blühten, überall ward es grün auf den Boulevards und Plätzen und Straßen. Die Sprunabrunnen plätscherten und glitzerten im Sonnenlicht.

Es ward Sommer und heiß. Die Seine, über die Denise jeden Tag bei ihren Spaziergängen schritt, begann üble Gerüche auszuhauchen, Paris wurde leer, die vornehme Welt verschwand. Wer es irgendwie konnte, ging auf die Landschlösser, in die Sommervillen, in die Seebäder.

Denise blieb, und täglich machte sie denselben Spazierweg: nach dem Luxemburggarten. Dort saß sie auf den Bänken und Stühlen mit Damen und Kindern, die im Sande spielten, Reifen trieben, Kreisel peitschten und Bälle schlugen. Sie saß unter alten bresthaften Leuten, die irgendwo in einer Mansarde wohnten und ihren Rheumatismus, ihre Gicht, ihre Altersbeschwerden täglich zweimal hinaustrugen in diesen Garten, der, von dem Häusermeer umgeben, doch wenigstens den Anschein erweckte, als sei ringsum freie Natur.

Dort ließ sie sich von der Sonne bescheinen, richtete ihre gedrückte Seele auf, indem sie das Treiben all der Menschen um sich sah, und ab und zu kam ihr dann die Erinnerung wieder an ihr Kind, dessen sie sich begeben hatte. Dann sagte sie sich jedesmal: ›Ich werde es wiedersehen!‹ Und dazu: ›Es soll sich nicht seiner Mutter schämen!‹

Und sie las alle Gründe zusammen, die ihren Entschluß richtig erscheinen ließen. Es war ihr ein bittersüßes Gefühl, sich geopfert zu haben für ihr Kind. Die Kleine sollte nicht ahnen, welch schlimmes Ende das Weltleben ihrer Mutter genommen hatte, und nur in der einen Überlegung, daß Lucy vielleicht nie erführe, wer ihre Mutter gewesen sei, tat ihr das Herz weh, und ab und zu in ihrer Einsamkeit fand sie Tränen.

Der Sommer verging, und der Herbst kam. Im Luxemburggarten wurde die Riesenpracht der Beete geringer, die Blumen dufteten nicht mehr, die Blätter wurden welk, eines Tages brauste ein Sturm daher, der den Sand vom Boden aufhob und die kleinen Quarzkörner ins Gesicht fegte wie ein Hagelwetter. Er riß das letzte Grün von den Bäumen; wieder standen sie kahl da, kahl wie damals, als vor nun bald einem Jahre Denise nach Paris geflüchtet war. Sie konnte es nicht glauben, daß ein Jahr schon vorüber sei. Sie hatte niemals jemand von ihren Verwandten gesehen, hatte nie das Bois besucht, war nie in die Nähe der Champs- Elysées gekommen, war den Boulevards ferngeblieben und den eleganten Straßen. Sie wollte nicht ihr Auge auf den Kostbarkeiten der Läden ruhen lassen, sie hatte ja doch kein Geld, davon zu kaufen.

Vor Not war sie freilich geschützt. In ihrer ›Abdankungsurkunde‹, wie sie der Notar mit leisem Scherz genannt hatte, war ihr von ihren Eltern, die sich mit Robert zusammengetan hatten, eine kleine Summe ausgesetzt worden, um zu leben. Sie hatte nicht gefragt, ob sie mehr beanspruchen durfte, sie war zufrieden mit dem, was sie erhielt, denn es deckte ihre armseligen Bedürfnisse in dem einen Zimmer, mit dem geringen Essen, mit der einfachen Kleidung.

Wie die Zeit voranschritt und sie immer mehr alles, was in ihrem Leben bisher geschehen war, als etwas Fernes und Fremdes empfand, begannen ihre Gedanken aufzuwachen, die, wie es schien, geschlafen hatten, die betäubt gewesen waren. Sie sagte sich, sie sei zu etwas da auf der Welt, sie konnte doch bei ihren jungen Jahren nicht ewig dieses traurige Pflanzendasein führen. Sie fing an, sich zu langweilen. Bisher hatten Kummer und der Gedanke an ihr Elend ihre Zeit in Anspruch genommen, aber je mehr das schwand, desto mehr suchte sie nach einer Beschäftigung, ihre Tage auszufüllen.

Da begann sie etwas, das nichts kostete und doch eine Beschäftigung war; sie ging in das Luxemburg-Museum, das ihrer Wohnung nahe lag. Sie benutzte das Museum, wenn es draußen kühl war, als eine Wärmhalle, als einen Zeitvertreib, gleich all den Leuten, die zwischen den Kunstschätzen mit ähnlichen Gedanken herumbummelten: die Arbeiter, um sich zu wärmen, die Fremden, um die Kunstwerke überhaupt gesehen zu haben. Denise lief hin und her mit Augen, die sahen und doch nichts sahen. Sie fühlte nicht den Gehalt der Bilder, sie empfand nichts von der Schönheit der Linien all dieser Skulpturen.

Aber allmählich, wie sie ihre Gänge weiter ausdehnte in das Cluny-Museum und in den Louvre, fing sie an, sich förmlich heimisch zu fühlen in den Museen. Vor diesem wunderbaren, tausend Jahre alten Schrein, vor jenem köstlichen Möbel aus der Zeit des Sonnenkönigs hatte sie oft gestanden, bis sie ihr alte Bekannte geworden waren.

Nun kaufte sie sich Kataloge, begann zu lesen, prüfend zu schauen, zu vergleichen. Vor allem zog sie der Schmuck an, die Möbel, die Silber- und Goldarbeiten, das Kunstgewerbe der ein Jahrtausend alten französischen Kultur. Sie las die Einleitungen, sie erstand ab und zu in großen Pausen, denn sie war vorsichtig mit ihrem Gelde, Bücher, die sie in die verschiedenen Kunstepochen einführten, und es gelang ihr allmählich, ihre Zeit auszufüllen und dabei ihren Geist zu bereichern.

Wie es immer geschieht, daß man bei notwendig langdauernder Beschäftigung mit einem Gegenstand ihn allmählich erfaßt und lieb gewinnt, begann sie, in der Kunst Rettung und Erhebung zu finden. Die steten Gänge wurden ihr ein Bedürfnis, bald Lebensinhalt, der sie all den Jammer ihres Daseins vergessen ließ. Sie eignete sich keine geregelten Kunstkenntnisse an, dazu fehlte ihr Erziehung und Anleitung, aber sie konnte bald die Stile unterscheiden. Sie begeisterte sich für einzelne Stücke, sie brachte Stunden vor gewissen Meisterwerken zu. Es war warm und bequem, es war still, und sie konnte sich ihren Gedanken überlassen.

Sie fühlte sich unter Kostbarkeiten in einem schönen Raum, der anders war als ihr kleines Pensionszimmer, der sie hineinträumen ließ in die Zeiten der großen Könige und ihrer galanten Freundinnen, in Prunk und Pracht verflossener Epochen, in denen auch einmal ihre Väter eine Rolle gespielt hatten, eine Wirklichkeitsrolle, während das Enkelkind hier saß, eine verlassene, schuldig gewordene Frau, die sich nur zurückdenken durfte in einstige Herrlichkeit. Das bildete ihren Geschmack, das zog sie empor, das machte sie vergessen, das richtete ihren Charakter auf. Zeit und Kunst begannen die Wunden vernarben zu lassen, die ihr das Leben geschlagen hatte.

Aber wenn sie nachdachte über ihr Dasein, kamen wieder dunkle Stunden, und sie haderte mit dem Schicksal, sie begriff nicht, wie das alles Schlag auf Schlag gekommen war. Sie fragte sich immer wieder, warum mußte sie es gerade sein, warum keine andere? Sie war sich schmerzlich bewußt, daß wir alle nur ein Leben zu leben haben; wenn das verspielt ist, ist es ewig aus.

Manchmal dachte sie daran, wie sie ihr Dasein hätte ändern können. Sie hätte ja und amen sagen sollen zum Treiben ihres Mannes, dann wäre sie immer noch eine Frau gewesen, die die Achtung der Welt genoß. Sie hätte ihre Lucy erziehen sollen und sich ganz dem Gedanken widmen, daß, wenn auch sie unglücklich geworden war, sie doch ihre Hände darüber halten konnte, daß Lucy einst glücklicher wurde. Sie hätte für ihr Kind einen Mann suchen sollen mit ihren Augen, die das Leben geschärft hatte, und Musterung halten unter den Leuten, die sich der Kleinen genähert hätten.

Die Zeit ihrer Liebe zu Henri erschien ihr jetzt wie ein Traum. Sie wunderte sich über ihr eigenes Herz, daß es den Toten nicht heißer beweinte. Er wurde ihr fern und fremd. Es lag hinter ihr wie eine halbvergessene Episode, nur ein Bild war noch lebhaft in der Erinnerung geblieben: der Gedanke, wie er ihr mit der durchschossenen Lunge auf dem letzten Lager den Brief geschrieben hatte, ließ sie nicht los. Sie sah immer sein bleiches Gesicht hintenüber gelehnt in den Kissen. Er war tot, sein weiches Auge öffnete sich nicht mehr, ließ die Lider nicht mehr ruhen, bezauberte nie wieder eine Frau. Der Winter ging hin. Trüb, gleichmäßig verflossen ihr die Tage. Ihre Seele hatte stille Freude an den Lieblingssälen in den Museen, aber das Feuer in ihrer Brust schien erloschen; mit keiner heißen Sehnsucht dachte sie an das Leben, das ihr, die noch jung war, so viele, viele Jahre noch, ein ganzes Menschenalter schenken konnte.

Wenn dieser Gedanke sie einmal anflog, so schauerte sie zusammen. Sollte es ewig so fortgehen, sollte sie immer mit ihrer kleinen Pension in diesem elenden Zimmer sitzen und keinen Menschen sehen und niemand kennen!

Dann kam ihr das Bedürfnis, sich auszusprechen irgendeinem ihre Seele auszuschütten. Nein, nicht einmal das, nur reden wollte sie mit einem andern Menschen, um doch ihr eigenes Wort wieder zu hören, um nur den Ton ihrer Stimme zu vernehmen. Denn mit ihrer Wirtin sprach sie nicht. Die war neugierig und wollte in ihre Verhältnisse dringen. Sie fühlte, sobald sie mit ihr begann, nahm die Person statt des kleinen Fingers die Hand, und dann wäre sie nicht mehr allein geblieben, und allein wollte sie noch immer sein, nicht mit Menschen vereint, die ihr wehe taten, die neugierig eindringen würden in ihre Seele. Aber reden, reden, nur einmal reden, und wäre es über das Wetter.

Eines Tages, als sie im Louvre vor der Venus von Milo saß, in einer Ecke, ohne sich zu rühren, den Blick nicht auf die Göttin gerichtet, die in der Mitte in stiller Hoheit stand, sondern zur Kuppel empor, und nachdachte über den krausen Gang ihres Lebens, da fiel ihr Auge unwillkürlich auf ein Gesicht. Ein großer, noch stattlicher Herr lehnte am Türpfosten und sah sie an. Er mochte stark über fünfzig Jahre zählen, hatte eine scharfe Nase, unter dem Schnurrbart die Fliege am Kinn, und ein paar braune Augen. Graue Fäden zogen sich durch das Haar. Er trug den Zylinder ein wenig im Nacken, einen tadellosen leichten Gehpelz halboffen, so daß man im Überrockknopfloch das rotflammende Band der Ehrenlegion sah.

Denise fühlte das Auge des Fremden auf sich ruhen. Es war ihr unangenehm, sie stand auf und ging weiter. Sie merkte, daß er ihr folgte. Sie begann langsam die Säle zu durchschreiten, an den hohen, über und über mit Gemälden bedeckten Wänden vorbei. Und jedesmal, wenn sie durch eine Tür in einen neuen Saal trat, blickte sie sich vorsichtig um, und jedesmal sah sie, daß der Herr ihr folgte. Als sie vor einem Rousseau stehen blieb, merkte sie, daß der Herr auf sie zukam. Unwillig machte sie kehrt. Sie ging eilig den ganzen Weg wieder zurück, die Treppe hinunter, dann trat sie ins Freie und bog am Flügel des Louvre links ab, ihrer Wohnung zu.

Sie beeilte den Schritt, sie fühlte sich ängstlich, sie ahnte, daß er sie verfolgte. Schnell trat sie in ihr Haus, und erst als sie in ihrem Zimmer den Riegel vorgeschoben hatte, atmete sie auf. Sie fragte sich: ›Wer war dieser Herr, und was wollte er von mir?‹

Da fiel ihr ein, wie ihr doch früher schon all die Männer, die ihr begegnet waren, ins Gesicht geschaut hatten. Die Szene stand ihr wieder vor Augen, als sie damals angeredet worden war in der Avenue de l'Opéra, und wie sie naiv geglaubt hatte, einem Bekannten gegenüber zu stehen. Da wußte sie im Augenblick, obgleich Jahre dazwischen lagen: es war derselbe Mann!

Und sie dachte bei sich: ›Ist der alt geworden! Ist er's wirklich?‹

Tage vergingen, und sie sah den Fremden nicht wieder. Sie hätte eigentlich gewünscht, ihm zu begegnen, nur um sicher zu sein, es wäre der gleiche.

Eine Woche strich hin, der Gedanke an die Begegnung drohte schon in die Vergessenheit der täglichen Erscheinungen des Daseins zu versinken. Da plötzlich, als sie ziel- und zwecklos den Quai d'Orsay langsam hinunterschritt, stand er vor ihr, der große Herr, lüftete den Hut, und sie erkannte ihn wieder.

Sie sah an dem kahlen Kopf, wie die Jahre gearbeitet hatten, den Schädel seines Schmuckes zu entkleiden, wie sie das Haar gebleicht hatten: er war alt geworden. Als er den Hut wieder aufgesetzt hatte und sie lächelnd ansprach, erschien er wieder ein Jahrzehnt jünger:

»Gnädige Frau, sind Sie nicht neulich im Louvre gewesen?«

Denise wollte es sich verbitten, aber sie blieb stehen, und er fuhr fort:

»Gnädige Frau, seien Sie nicht böse! Ich sehe Ihren Schreck, ich glaube, es ist Ihnen nicht recht, daß ich Sie anspreche; aber denken Sie, es war neulich nicht das erstemal, daß ich Sie sah. Ich habe Sie vor Jahren einmal in der Rue de la Paix getroffen. Ganz bestimmt, ich täusche mich nicht, und Sie werden daraus sehen, welchen Eindruck Sie auf mich gemacht haben.«

Seine Stimme klang ruhig, tief, und sie hatte ein Gefühl: ›Ach, der alte Kerl, was schadet mir das?‹ Sie hatte keine Angst mehr, sein graues Haar gab ihr etwas Überlegenes, denn sie war jung, und er war alt. Sie gewann die Unbefangenheit derart wieder, daß sich ihr spöttisch die Lippen kräuselten, sie konnte nicht anders, sie mußte ihm sagen, daß er sich geirrt hätte. Und sie antwortete, sie begriff sich selbst nicht, wie es kam, fast schnippisch:

»Bitte sehr, es war nicht in der Rue de la Paix, es war in der Avenue de l'Opéra.

Er blieb dabei. Sie stritten sich. Er lachte:

»Es ist ja ganz gleich! Aber Sie sehen doch, daß ich Sie wiedererkannt habe.«

Die Eitelkeit des Mannes machte sich geltend, indem er sagte:

»Was mögen Sie nur von mir gedacht haben, es war furchtbar ungeschickt.« Sie antwortete ruhig:

»Ja, es war ungeschickt, und es war ungezogen.«

Er fragte, während sie sich langsam in Bewegung gesetzt hatten:

»Sind Sie mir deshalb böse gewesen?«

Sie meinte nur:

»Ich habe gelacht.«

Die Koketterie des Weibes, die so lange in ihr geschlafen hatte, wachte auf; sie hatte unwillkürlich den peinlichen Gedanken: ›Ich bin so einfach angezogen und trage gerade meinen alten Hut!‹

Er fuhr fort zu erzählen, war sehr liebenswürdig, sehr zurückhaltend und bat um Entschuldigung, daß er damals an die Falsche gekommen wäre. Ja, es gewann den Anschein, als hätte er sie jetzt nur angesprochen, um sein Unrecht von früher wieder gutzumachen. Er redete davon, wie die Jahre vergingen, man bliebe nicht ewig jung, und er wäre nun ein alter Mann. Er sprach es resigniert aus. Dabei richtete er sich doch auf und drehte den Schnurrbart, als wollte er seine eignen Worte Lügen strafen.

Es schien wie ein System zu sein, daß er sich alt und ungefährlich machte. Er trat nicht als der kecke Mann auf, der die Dame damals angesprochen hatte, sondern wie ein guter, braver Vater, der sein Unrecht einsieht, der nur noch über das Wetter sprechen will und über Tagesneuigkeiten. Er begann von Politik, redete vom Louvre, lobte die Sammlung in etwas allgemeinen Worten; er schien nicht zu merken, daß sein Lob fast lächerlich klang.

So waren sie eine ganze Strecke zusammen gegangen. Schließlich fragte er, ob er sie bis an ihre Tür begleiten dürfe. Aber sie dankte ihm, neigte den Kopf, er zog den Hut, und dann waren sie auseinander. Denise wunderte sich über sich selbst, wie sie den Mut gefunden hatte, sich mit einem Fremden zu unterhalten. Sie sagte sich wegwerfend, als sie die Stufen zu ihrer Wohnung hinaufschritt: ›Es ist ja alles gleich für mich, ich habe ja niemand auf der Welt, dem ich Rechenschaft schuldig wäre. Ich werde mit ihm reden, wenn ich ihn wieder treffe. Keinen Menschen geht es etwas an.‹

Sie traf ihn wieder, den nächsten Tag schon. Er grüßte höflich, und diesmal stellte er sich vor. Er hieß Léon Béranger. Sie fragte in der ersten Verlegenheit, ob er mit dem Dichter verwandt wäre. Er lächelte; nein, leider nicht! Es war ja auch nur eine Art zu reden, Béranger lebten genug in Paris. Aber es gab den Anstoß, daß er seine Familienverhältnisse auseinandersetzte. Er war Abgeordneter, und jetzt achtete sie erst darauf, daß er im Knopfloch das rote Band der Ehrenlegion trug.

Sie ging mit ihm spazieren, sie fühlte sich angenehm und sicher. Es war ein älterer, gesetzter Mann, Abgeordneter – eine Ehrenperson des souveränen Volkes –, er hatte sich vorgestellt. Es war ihr nicht anders, als spräche sie mit irgendeinem der Leute, die einst im Hause ihres Vaters verkehrt hatten. Und sie war glücklich, mit jemand reden zu können.

So trafen sie sich jeden Nachmittag im Luxemburggarten, und da er teilnehmend war und ihr mehr und mehr gefiel, so begann sie ihm ihre ganze Vergangenheit zu eröffnen.

Er bedauerte sie, und je länger sie sprach, desto mehr schüttete auch er ihr sein Herz aus. Er erzählte, er wäre Witwer und entwarf ein Bild seiner verstorbenen Frau, die die große Welt mit ihrem falschen Prunk und Schein nicht gemocht hätte, die ein rechtes Hausmütterchen gewesen war, ein Engel im Hause, in seinem Hause, wo man tadellos aß, wo man ruhige Stunden verbrachte. Sein Haus, das er nun schon seit Jahren mied, da er in den öden Junggesellenräumen nicht bleiben mochte. Eines Tages, als sie wieder im Luxemburggarten langsam auf und nieder schritten, sagte er:

»Ich glaube, auch Sie könnten einen Mann in seinem Heim glücklich machen.«

Sie fragte:

»Ist das Ihr Ernst?«

»Gewiß.«

»Ich glaube nicht.«

Er wurde lebhaft:

»Warum denn nicht? Meinen Sie, Sie haben keine Anlage dazu?«

Sie schüttelte den Kopf, sie dachte an ihre Vergangenheit und sagte:

»Eine geschiedene Frau wie ich?«

Er antwortete:

»Nun, das bedeutet doch nichts!«

Sie nickte nur traurig:

»Doch! Doch!«

Er wurde einsilbig. Während sie nun immer weiter um den Springbrunnen am Schloß gingen, umgeben von all den spielenden Kindern und Bonnen und Müttern und alten Frauen und Männern, die sich bei dem schönen Wetter wärmten, sagte sie nachdenklich:

»Und doch habe ich vielleicht nur Unglück gehabt.«

Er ging, den Stock mit der goldenen Krücke in den gefalteten Händen auf dem Rücken, neben ihr her; er hörte ruhig zu, und ab und zu lief sein Auge über ihre Gestalt. Da entwickelte sie ihm etwas wie ihre Lebensanschauung. Ihr Dasein sei nun doch einmal geknickt und gebrochen, sie wäre heraus aus allem, was sie früher angegangen, sie stände ganz allein in der Welt, sie brauchte keine Rücksicht zu nehmen. Es wäre doch sonderbar, wie das alles binnen kurzer Zeit eingetreten sei, wie sich ein ganzes Dasein im Handumdrehen verändern könnte.

Er hörte mit ernster Miene zu, doch er sagte nichts. Sie aber schüttelte ihm weiter ihr Herz aus, glücklich, einen Menschen zu haben, dem sie vertrauen konnte, und plötzlich fragte sie ihn:

»Was denken Sie eigentlich von mir?«

Er blieb stehen, musterte sie und meinte, indem seine Augen blitzten und er ihr eine leichte Verbeugung machte, immer noch die Hände auf dem Rücken:

»Daß Sie die reizendste Frau sind, die ich je kennengelernt habe!«

Sie lächelte:

»Ach, das ist eine Schmeichelei.«

»Nein, nein, es ist die Wahrheit!«

»Sagen Sie das oft?«

Er legte die Hand aufs Herz:

»Weiß Gott, das sage ich nie! Wie sollte ich auch dazu kommen?«

Aber sie meinte, plötzlich ernst werdend:

»Sie sollten sagen, ich bin die unglücklichste Frau.«

»Warum?«

Sie machte eine Handbewegung:

»Ach, sprechen wir nicht darüber.«

Trotz seines Zuredens war sie nicht zu bewegen, ein Wort weiter zu sagen.

Aber sie begann sich immer mehr zu verändern. Jedesmal, wenn sie sich zu dem jetzt regelmäßigen Spaziergang fertig machte, stand sie eine halbe Stunde vor dem Spiegel, ordnete ihre Toilette, setzte den Hut zurecht, band sorgsam den Schleier. Sie kaufte sich dieses und jenes Neue, und sie war dankbar, wenn er etwas hübsch an ihr fand.

Sie schämte sich, daß sie immer die gleiche Jacke anziehen mußte, daß er nie ein anderes Kleid an ihr sah. Sie machte einmal eine Bemerkung darüber. Da sah er sie forschend an und fragte nach ihren finanziellen Verhältnissen, vorsichtig und taktvoll. Er sagte mehrmals, es ginge ihn ja nichts an, aber sie täte ihm so leid, so unendlich leid, daß er es nicht sagen könnte.

Nun setzte sie ihm offen auseinander, wie es mit ihren Geldverhältnissen stand. Er schnalzte, während sie sprach, immerfort bedauernd mit der Zunge, schüttelte den Kopf, wandte den Oberkörper hin und her und sagte:

»Arme Frau! Arme Frau!«

Einen Tag darauf kam er ihr mit einem Veilchenstrauß entgegen, als sie ihn dankend nahm, meinte er:

»Lassen Sie mich einmal etwas mit Ihnen besprechen. Seien sie ganz vernünftig. Wollen wir dazu irgendwo hingehen? Wissen Sie was, setzen wir uns in ein Café. Ist Ihnen das recht?«

Ihr erstes Gefühl sprach, es sei nicht richtig, aber da kam ihr wieder das zwingende Bewußtsein: welche Rücksicht hatte sie zu nehmen, was hatte sie in der Welt zu verlieren? Wem war sie Rechenschaft schuldig? Sie kannte keinen Menschen, sie war von allen verstoßen, so wollte sie auch nur so leben, wie es ihr Freude machte. Und da sagte sie entschlossen, einfach:

»Bitte sehr, es ist nichts dabei, wenn Sie mir etwas zu sagen haben. Sie haben mir über Wochen der Öde in meinem traurigen Dasein so freundlich hinweggeholfen und, mein Gott, Sie werden nicht schlechter von mir denken, wenn wir eine Tasse Tee trinken.«

Sie verließen den Luxemburggarten, aber er war mit sich nicht im reinen, wo sie hingehen sollten. Er klagte:

»Es ist alles so weit, und hier bin ich eigentlich nicht bekannt. Wissen Sie, in ein gemeines, gewöhnliches Café setzen wir uns nicht. Kommen Sie, wir fahren zu Menier.«

Dabei hatte er schon einen Wagen angerufen. Bald darauf hielten sie vor einer Konditorei, wo in einem Nebensaal einzelne Tische standen. Damen, die nachmittags ihre Besorgungen machten, gingen dorthin zum afternoon tea, trafen sich und schwatzten, während draußen die Equipagen warteten.

Dort setzten sie sich in eine Ecke. Denise sah Pelze und Jacken, die Tausende kosteten, und unwillkürlich blickte sie vergleichend auf ihr einfaches, dunkles Jackett.

Herr Léon Béranger begann, nachdem der Tee vor ihnen stand, seine Auseinandersetzung. Immer blieb er in artigen Grenzen; er sah ihr in die Augen, während er sprach, er redete wie ein guter Vater und stellte ihr vor, wie es nicht nötig wäre, daß ihre Verhältnisse so schlecht blieben, denn sie hätte doch Freunde, die ihr helfen könnten. Als sie erstaunt aufblickte, meinte er:

»Einen Freund, denn ich darf mich wohl so nennen, einen wirklichen, treuen Freund!«

Dann erzählte er von seinem Reichtum und Überfluß, sprach von den Kohlengruben, die er bei Carmeaux besaß, und schilderte die Unmöglichkeit, seine Reichtümer allein zu verzehren. Er gehöre zwar einem Cercle an, aber dort gehe er nur zu Tisch hin, und was solle er sonst ausgeben? Er spiele nicht, sei ohne noble Passionen und habe nur den einzigen Gedanken, eine Häuslichkeit zu besitzen. Nach dieser Einleitung schloß er, indem er ihr immer näher rückte:

»Ich würde Ihnen gern einen Vorschlag machen. Nehmen Sie etwas von mir an, von einem guten Freunde. Gestatten Sie mir, Ihnen ein anderes Leben zu verschaffen, als Sie es haben. Fassen Sie es richtig auf, ich will nichts, nichts von Ihnen als Ihre Freundschaft. In dieser kleinen Pension, in diesem Zimmer, das ich nie betreten habe, das Sie mir aber so oft schilderten mit seinen ärmlichen Allerweltsmöbeln, können Sie doch nicht bleiben. Wollen Sie dort Ihr ganzes Leben verbringen? Erlauben Sie einem treuen Freunde, daß er Ihnen ganz still und heimlich eine andere Wohnung gibt. Fassen Sie es ja richtig auf, mir nehmen Sie nichts, ich weiß nicht, was ich mit meinem Gelde machen soll. Ohne mich zu rühmen, ich gebe den Armen, ich verteile mit vollen Händen. Seien Sie nicht böse! Ihr Herzeleid tut mir weh, darf ich Ihnen helfen?«

Als er es sagte, war es wie ein Stich, den Denise empfing, und wieder kam ihr das Gefühl: ›Das geht nicht, das darfst du nicht!‹ Die Erziehung des Fräuleins Denise de Verneuil, die Lebensanschauungen der einstigen Frau de la Caille wollten sich geltend machen, und es drängte sie, zu sagen: ›Bitte, das kann ich von Ihnen nicht annehmen!‹ Sie war fast bereit, aufzustehen und ihn sitzen zu lassen, aber dann hätte sie ihn nie wieder sehen dürfen, dann hätte sie den einzigen Freund verloren, den sie besaß, dann war sie wieder allein, allein, immer allein.

Wieder durchschoß sie der Gedanke: ›Du bist niemand Rechenschaft schuldig! Keiner rettet dich, reiner streckt eine Hand nach dir aus, kein Mensch kümmert sich um dich! Was gehen dich die andern Menschen an? Bist du nicht ausgestoßen von ihnen? Bist du nicht frei?‹ Ja, sie war ausgestoßen aus der Gemeinschaft, in der sie gelebt hatte. Die Gesetze, die ihr gegolten, galten ihr nicht mehr.

Sie sagte nicht nein. Sie senkte die Augen und schlürfte ihren Tee.

Wieder sprach Herr Béranger; er setzte ihr auseinander, er könne es nicht mehr mit ansehen, und wenn sie ihm nicht gestatte, etwas für sie zu tun, so wäre das das größte Mißtrauenszeichen, das es gäbe, und dann allerdings, dann müßte er ihr sagen:

»Leben Sie wohl! Denn zwischen uns würde immer diese Ablehnung stehen wie ein Frost, wie ein Schauer, der uns hinderte, unsere Gedanken zu tauschen.«

Die Teestunde war vorbei, das Lokal war fast leer geworden. Denise hatte immer noch keine Antwort gegeben. Er schien auch keine zu verlangen, es war nur, als habe er ihr den Gedanken eingehaucht. Wie sie gekommen waren, gingen sie wieder davon.

Längst brannten die Laternen. Unter den Arkaden der Rue de Rivoli schritten sie hin. Er erzählte von Reisen, die er einst gemacht hatte.

»Ich bin nicht wie die meisten unserer Landsleute, ich habe das Reisen sehr gern.«

Bei diesen Worten hatte Denise eine seltsame Vision: als senkten sich leise um sie herum wie bei einer Bühnenverwandlung Wolken und Vorhang, als verschleierten sie die Straßen der Stadt. Dann hoben sie sich wieder, und hinter ihr stiegen aus den Nebeln exotische Landschaften auf, der Orient mit flimmernden Wüsten und goldglänzenden Minarets. Und nun erschien ihr das Meer, in langen weißen Brandungsstreifen, endlos gelb der Horizont, von dem ein ferner Dampfer oder ein Segelschiff sich abzeichnete.

Da überkam sie eine große Sehnsucht. Einmal hinaus, hinaus, fort! Eine Sehnsucht – sie wußte nicht, wollte sie ihren jammervollen engen Verhältnissen entfliehen, oder wollte sie die Welt sehen, die da weit in der Ferne lag. Und unwillkürlich kam ihr dabei die Idee: ›Dort kannst du erst recht machen, was du willst, dort kennt dich niemand!‹

Als er am Schluß, wie er sie beinahe an ihre Wohnung gebracht hatte, sagte:

»Ich würde gern noch einmal reisen!«

Wie zum Scherz fügte er hinzu:

»Fahren Sie mit?« Da sagte Sie kurz, mit einem koketten Lächeln: »Wer weiß!«

Dann stieg sie, von ihren Gedanken wie von einem Schwarm von summenden Insekten bedrängt, die Treppe hinauf.


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