Georg Freiherr von Ompteda
Denise de Montmidi
Georg Freiherr von Ompteda

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XV.

Der Skandal, vor dem sich Herr de Verneuil gefürchtet hatte, blieb aber doch nicht aus. Vielleicht wäre Denisens Flucht nicht bekannt geworden, am Ende hätte sie niemand gesehen, und was die Bauern in Montmidi und Charenton dachten und beobachteten, drang wohl nicht bis nach Paris, aber Robert hatte den Baron d'Hautecourt gefordert.

Und er hatte es nicht bei jenen Duellen bewenden lassen, wie sie täglich in Paris die Zeitungen füllen, wo unter Zeugen, sogar unter Zuhilfenahme des photographischen Apparates für die illustrierten Blätter ein paar Tagesberühmtheiten die Degen kreuzen, sondern er hatte Henri auf Pistolen gefordert unter schärfsten Bedingungen. Zwischen Montmidi und La Bergerie, in eben dem Walde, den Denise von ihren Fenstern aus hatte sehen können, durch den täglich Herr de la Caille geschritten war, hinter dem die Dicke wohnte, hatte der Zweikampf stattgefunden. Niemand wußte, hatte Robert seinem Gegner wirklich ans Leben gewollt, oder war es nur ein unglücklicher Zufall gewesen, aber Henri erhielt beim ersten Schuß eine Kugel durch die Lunge und lag hoffnungslos in La Bergerie darnieder.

Die Nachricht stand in den Zeitungen, sie kam nach Paris. Ein Blatt nannte die Verwandten unter heuchlerischem Bedauern, daß eine so angesehene Pariser Familie, deren Empfänge sehr gesucht wären, deren Haupt ein bekanntes Mitglied eines noch bekanntem Klubs sei, in eine solche Sache verwickelt worden sei.

Ein paar Tage darauf erzählte es aber in einem zweiten Artikel die genauern Umstände. Der Aufsatz begann:

»Unsere Leser werden sich des traurigen Vorfalls erinnern, den wir in einer der letzten Nummern besprachen, und worin wir den Mitgliedern einer bekannten Pariser Familie unser Mitgefühl ausgesprochen haben. Die Tragödie hat nun ihren Abschluß gefunden, der Baron d'Hautecourt ist, wie ein Telegramm uns soeben mitteilt, seinen Leiden erlegen. Man weiß nicht, wo die schuldige Frau sich aufhält. Eine Anfrage im Hotel ihrer hochgeachteten Eltern hatte keinen Erfolg, auch dort ahnt man es nicht, und wie wir erfahren, steht kein Mitglied der schwer heimgesuchten Familie auf der Seite der bloßgestellten jungen Frau. Es trifft sie um so schmerzlicher, als, wie wir aus bestimmter Quelle wissen, der Bruder der jungen Frau im Begriff stand, sich mit der Tochter einer der in erster Reihe genannten Familien unserer Finanzaristokratie zu verbinden. Eine Partie, die unter solchen traurigen Umständen für den Augenblick natürlich hat zurückgestellt werden müssen.«

In einem andern Blatt stand eine halb ernst, halb amüsant gehaltene Plauderei, überschrieben: Où est la femme? Diese Chronik zeigte einen großen Aufwand von Geist und Witz. Kein Mensch wüßte, hieß es darin, wo die junge Frau sich aufhielte. Alle wären hinterher. Die verschiedensten Nachrichten liefen schon ein. Einer behauptete, man hätte sie in Marseille gesehen, ein Telegramm spräche von der Schweiz, jemand anders wüßte mit Bestimmtheit zu versichern, sie habe sich in Le Havre eingeschifft.

All diese Gerüchte wurden ins Lächerliche übertrieben. Der Artikelschreiber preßte seinen ganzen Witz aus, um die Boulevards zu unterhalten. Er behauptete, die Direktion eines großen Berliner Varietétheaters hätte bereits telegraphisch angefragt, ob die junge Frau im Lande des Sauerkohls und des Bieres, der Brillen und Uniformen allabendlich gegen eine fabelhafte Summe auftreten wollte. Und er schlug vor, da sie doch wohl keine besondern Fähigkeiten hätte, weder tanzen könnte noch singen, vielleicht nicht einmal deklamieren, so sollte sie in lebenden Bildern gezeigt werden. Er empfahl der Dame, zweimal aufzutreten. Zuerst als büßende Magdalena, dann aber in einem religiösen Gemälde als Ehebrecherin vor Christus, dem Jugendbilde Munkaczys: ›Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein!‹

Andere Nachrichten kamen, es wurde von der berückenden Schönheit der Sünderin gesprochen, und es fehlte bloß noch, daß in den illustrierten Zeitungen das Bild erschien.

Währenddessen saß Denise ruhig in einem Hotelzimmer in der Rue de l'Université. Sie las keine Zeitung, ging nicht aus, verbrachte einsam ihre Tage, sie wartete darauf, daß Henri kommen sollte, sie zu erlösen.

Und sie wartete sehnsüchtig Tag um Tag auf den Brief, der nicht erschien. Sie sagte sich nicht: ›Wie soll er meine Adresse wissen?‹ Und sie wollte sich nicht rühren, sie wollte aus ihrer Abgeschiedenheit nicht ans Licht treten. Sie fühlte sich wie ein verwundetes Tier, das sich erst einmal scheu verbirgt und nur eins bedarf: Ruhe.

Aber da sie nicht ausging und den ganzen Tag in ihrem Zimmer saß, vor sich hinstarrend, als wäre ihr Verstand gestört, kam auch keine Nachricht von der Außenwelt zu ihr. Außer dem Kellner, der das Essen brachte, erschien niemand. Man legte ihr keine Zeitung auf den Tisch, es war, als ob sie nicht in Paris wohnte, sondern auf einer verlassenen Insel mitten im Ozean.

Sie merkte den seltsamen Blick nicht, mit dem der Kellner sie beobachtete; sie ging nicht ein auf die Unterhaltung, die das Stubenmädchen beim Bettmachen mit ihr begann; sie fühlte nicht, daß das Personal, das ihren Namen kannte, den sie ja richtig eingeschrieben hatte, und das die Soublätter las, genau wußte, wer sie war.

Sie überlegte ihre Zukunft, sie schmiedete Pläne, und alle mündeten bei Henri, dessen Benehmen in jener letzten Nacht in Montmidi ihr immer natürlicher schien, immer entschuldbarer. Wenn sie ihn nicht besaß, wenn sie ihm nicht vertrauen durfte, was sollte sie dann noch auf der Welt? Wäre er nicht gewesen, sie wäre geradeswegs hinuntergegangen an die Seine und hätte sich hinabgestürzt in das kalte, schmutzige Wasser. Ein Gurgeln, ein Aufspritzen der Flut, und all der Kampf und all das Elend dieses Daseins war vorüber.

Aber sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Sie malte sich Henri in einem phantastischen Bilde aus, ganz anders als er war; so wie in ihrer Liebe zu ihm dreiviertel Haß gewesen war gegen ihren Mann und Empörung über sein Benehmen, das Gefühl, Rache zu nehmen an dem, der sie Tag um Tag betrog.

Doch allmählich erwachte in Denise die Sehnsucht nach ihrem Kinde. Sie sah nach der Uhr: jetzt stand Lucy auf, jetzt wurde sie angezogen, jetzt ging sie spielen – bei dem Gedanken traten der Mutter die Tränen in die Augen. Die Angst quälte sie, Lucy möchte etwa krank sein, und sie konnte sie nicht pflegen! Nachts war es ihr immer, als ob die Kleine schrie, sie wollte aufstehen und an das Bett gehen; und wenn sie dann Licht gemacht hatte, mußte sie sich erst über ihre Lage klar werden, daß sie eine einsame, verlassene Frau war, von ihren Eltern vor die Tür gesetzt, von ihrem Manne von der Schwelle getrieben, daß sie niemanden hatte, dem sie sich anvertrauen, niemanden, dem sie schreiben konnte.

Auch Henri nicht? Sie kam von ihrem Entschluß ab, nein, sie mußte ihm schreiben, und wenn es nur eine Zeile war. Da setzte sie sich hin und versuchte es. Sie zerriß zehnmal den Bogen, sie begann immer einen andern Wortlaut, und sie brauchte einen ganzen Tag, bis sie endlich einen Brief abschickte, der nur die paar Worte enthielt: »In der Befürchtung, Briefe möchten mich in meiner Verborgenheit nicht erreichen, am Kopf dieses Briefbogens meine Adresse.« Darunter nur »Denise«. Sie hatte ein paar Worte der Liebe, des Vertrauens hinzufügen wollen, aber immer wieder meinte sie: ›Nein, nein, ich dränge mich nicht auf.‹

Nachdem Denise den Brief abgeschickt hatte, wartete sie ängstlich. Ein Tag verging, noch ein zweiter, und sie ward unruhig. Aus ihrer dumpfen Betäubung begann sie zu erwachen, sie suchte eine Beschäftigung. Aber sie hatte sich vorgenommen, sich nicht zu rühren, bis ein Brief käme.

Da lief er endlich ein, aber von einer Schreiberhand und mit einer Geschäftsadresse in der Ecke. Sie drehte ihn erstaunt in den Fingern herum, sie las den Namen eines Notars, sie öffnete. Es waren nur wenige Zeilen, die ihr mit nüchternen Worten mitteilten, da Baron d'Hautecourt gestorben sei, wäre er, der Notar, der schon bei Lebzeiten die Verwaltung von La Bergerie besorgt hätte, mit der Ordnung des Nachlasses beauftragt worden. Er habe das Recht, alle Briefe zu öffnen, und er erlaube sich, da er hierdurch ihre Adresse erfahren, ihr diesen bisher unbestellbaren Brief zu übermitteln.

Denise starrte auf die Zeilen wie auf ein Todesurteil. Sie besaß nicht die Kraft, den beigeschlossenen Brief Henris zu öffnen. Sie blieb wie erschlagen sitzen, nur die Zeilen des Notars vor Augen. Sie las sie ein dutzendmal, und jedesmal, wenn sie an die Mitteilung des Todes kam, schnürte sich ihr die Kehle zusammen, aber sie fand keine Tränen.

Sie stand auf, ging im Zimmer hin und her, und immer lag vor ihr auf der Kaminecke der uneröffnete Brief Henris, den sie nicht zu berühren wagte. Sie blickte zum Fenster hinaus, sie sah nichts von der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie merkte nicht, daß der Fensterflügel nicht recht schloß und der Zug kalt durch die Fugen blies. Sie setzte sich an den Kamin, und ihr Auge blieb starr auf dem Brief dort oben auf der hellen Marmorplatte hängen.

Sie stand mehrmals auf und wollte danach greifen, aber immer sank sie in den Sessel wieder zurück. Sie wußte nur eins: jetzt war ihr Leben hin, jetzt war alles zu Ende. Sie war nicht fähig, einen Gedanken zu fassen oder einen Entschluß. Sie hatte nicht die Kraft, die Hand nach dem Briefe auszustrecken. Ihre Adern schienen kein lebendiges Blut mehr zu führen, es waren Kalkstränge, in denen ein toter Saft läuft. Ihr Herz schien nicht zu schlagen. Ihr Herz? Ein Herz hatte sie ja nicht mehr! Ihr Verstand schien nicht zu arbeiten. Die Idee, nachdenken zu müssen, tat ihr weh, sie sah das Nichts, das gähnende Nichts vor sich.

Der Zimmerkellner brachte das Essen. Er breitete die Serviette über den Tisch und stellte Thunfisch hin.

Als er gegangen war, aß Denise ganz mechanisch, sie wußte nicht was, brach ein Stück Brot ab, trank einen Tropfen Wasser und Wein. Der Kellner kam wieder, er brachte das Weitere. Sie nahm von allem, aber es war eine mechanische Tätigkeit der Backenknochen, sie wußte nicht, was sie aß, es hätte Stroh sein können.

Und immer lag auf dem Kamin der Brief, den sie nicht zu berühren wagte. Der Kellner kam abermals, er räumte ab, er verschwand mit der Platte. Denise setzte sich wieder an den Kamin, sie starrte vor sich hin, sie schien den Brief ganz vergessen zu haben.

Aber plötzlich geschah etwas wie ein Wunder. Sie fühlte den unabweisbaren Drang, sich zu bewegen, auszugehen, an die Luft zu kommen. Sie zog sich an und setzte den Hut auf, dann steckte sie den Brief zu sich und eilte die Treppe hinunter. Sie war schwach auf den Beinen, da sie so lange das Zimmer nicht verlassen hatte, sie taumelte wie eine Kranke, die den ersten Ausgang macht. Die Leute im Hotel sahen ihr erstaunt nach. Der Portier erschien, grüßte und ging ein paar Schritte mit ihr bis zur Tür, als wollte er einen Auftrag entgegennehmen, aber sie kümmerte sich nicht um ihn.

Als ihr das Wagenrasseln entgegenschlug, als sie wieder auf dem Trottoir stand und die Menschen eilig hin und her gingen, ihren Geschäften nach, da erwachte sie, in der Notwendigkeit, rechts und links auszuweichen, um nicht angestoßen zu werden. Sie beschleunigte ihre Schritte, und die frische Luft tat ihr wohl. Es war nicht kalt, es war ein schöner Wintermittag; blau spannte sich über dem großen Paris der Himmel, an dem die Sonne wärmend stand, und alles um sie herum war Leben und Bewegung, alles schien freundliche Gesichter zu machen. Die Menschen sprachen miteinander, lachende Gruppen kamen vorbei, ernste Leute, die von Geschäften redeten, gestikulierten, sich gegenseitig Vorschläge machend. Ganze Schwärme von einzelnen Mädchen kamen daher, Fabrikarbeiterinnen, Putzmacherinnen, Ladenmädchen, die alle die Frühstückspause hinausgeführt hatte.

Es war die Mittagsstunde, wo genau wie abends nach Geschäfts- und Ladenschluß das Leben der Riesenstadt verdoppelt scheint, kein Mensch Zeit hat, alles läuft und sich drängt. Und dieses Treiben wirkte auf Denise wie eine Erfrischung, als eine Lebensbejahung. Sie ging hin mit den Menschen, eilig, im gleichen Schritt wie sie. Sie dachte an ihren Anzug. Die paar Sachen, die sie sich hatte ins Hotel kommen lassen, genügten nicht. Sie wollte sich etwas kaufen. Sie trat in den nächsten Laden, wo es Jacken, Umhänge und Capes gab; sie wählte sich etwas aus, vorsichtig, denn sie fürchtete zuviel auszugeben, vorsichtig, wie sie es in Montmidi auch getan hatte, wenn sie ihre kleinen Einkäufe im Dorf besorgte. Sie fand eine warme Jacke, fertig gearbeitet, aber doch ganz schick. Sie bestellte sich die Schneiderin wegen eines Kleides ins Hotel, und als man nach dem Namen fragte, gab sie nur die Zimmernummer an.

Dann ging sie, im Muff immer noch die beiden Briefe dieses Morgens, weiter über die Seinebrücke. Sie sah das Wasser unter sich blinken und spiegeln. Ein kleines Dampfboot schoß hastig unter dem Bogen durch, und sie erblickte in der Verkürzung die Menschen auf dem Verdeck.

Sie eilte weiter auf die Place de la Concorde, sie wußte nicht wohin, und es war ihr, als hätte sie immer mehr alles vergessen, was ihr geschehen und was sie gewesen war. Bei dem Jagen der Wagen, bei dem Riesenverkehr auf dem gewaltigen Platz wartete sie ängstlich, bis sie ungefährdet über den Straßendamm hinüberkam, um sich auf eine Insel zu retten. Sie querte den Platz, wandte sich rechts ab zum Tuileriengarten.

Sie lief und lief. Die Müdigkeit verschwand in ihren Füßen, sie wäre gerannt bis ans Ende der Welt. Sie blickte niemanden an und achtete nicht darauf, daß die Herren alle einen Blick auf die hübsche junge Frau warfen, die Herren, die jedes Mädchen und jede Frau bespähten und sie vielleicht doppelt angesehen hätten, hätten sie gewußt, daß sie die Frau war, über welche Artikel geschrieben worden waren, die man in ganz Paris suchte, in Frankreich, in den Häfen, wie eine verlorene Stecknadel, und die ruhig hier im Herzen des Landes geblieben war und jetzt einsam ihres Weges ging. Nicht als Heldin einer Ehebruchstragödie, sondern als ein verstörter, aus dem Gleichgewicht gebrachter Mensch, den seine Muskeln und Sehnen planlos durch die Straßen der Stadt trugen, der im nächsten Augenblick unter den schweren Rädern eines Omnibusses enden konnte, unter der gewaltigen Last eines Automobils, denn er wußte nicht, wo er ging und was er tat.

Von selbst bog Denise in den Tuileriengarten ein. Da saßen auf den Bänken und Stühlen allerlei dunkel gekleidete, jugendliche Gestalten: die Mädchen aus den großen Modegeschäften, die hier unter freiem Himmel Mittagsstunde hielten, Näherinnen und Konfektioneusen, ein lustiges, lachendes Völkchen, das sich über nichts den Kopf zerbrach, sich ruhig anreden ließ, ruhig antwortete, das das Leben nicht tragisch nahm. Leichtsinnige Mädchen, die abends von ihrem Schatz abgeholt wurden und in die Theater gingen, in die Varietés, in die kleinen Restaurants, die Leben und Liebe nahmen, wie es gerade kam, und nur alle einen Gedanken hatten, ihre Jugend zu genießen. Denn die Jugend gab es nur einmal in jedem Menschenleben, und nie, nie kehrte sie wieder, und mit der Jugend verblaßte Frische und Reiz, mit der Jugend verging die Freude am Dasein und die Fähigkeit, zu genießen. Diese Mädchen dachten nicht an den Ring am Finger, sie träumten vielleicht für später einmal davon, wenn sie sich selbständig gemacht hätten. Dann mochte ein kleiner Beamter kommen und sie heimführen, oder ein Geschäftsmann, dessen Unternehmen sie stützen und vergrößern helfen würden.

Denise ging unter dem lachenden, frohen Völkchen hin, das aus Zeitungspapier sein Essen auspackte, miteinander tauschte und teilte, einen Schluck Wein trank oder sich gar auf einem kleinen Kocher etwas Warmes bereitete.

Denise hatte, wie sie unter dem lustigen Schwarm, der sich gleich Vögeln in dem sonnenbeschienenen Tuileriengarten niedergelassen hatte, ein Gefühl, das sie zur Wirklichkeit zurückfühlte. All diese mußten auch leben, und sie hatten es vielleicht auch schlecht gehabt und hatten ihre Erfahrungen und alle wohl ihre getäuschte Liebe. Sie beobachtete einzelne; sie hätte sich am liebsten zu ihnen gesetzt, denn sie empfand einen Drang nach Menschen; die Tage des Brütens im einsamen Hotelzimmer lasteten jetzt wie etwas Furchtbares auf ihr.

Aber immer kam ihr der Gedanke: ›Er ist tot! Er ist tot!‹ Sie meinte, es müßte sie noch furchtbarer packen. Sie begriff sich nicht, daß der Abschied von den Eltern ihr nicht wie etwas Ungeheures, etwas Entsetzliches erschienen war. Da überlegte sie sich's erst: hatte sie zu Hause überhaupt eine Heimat gehabt? Hatte sie zu Eltern und Bruder in wirklichen Beziehungen gestanden? Nein, nein und tausendmal nein! Sie waren ihr doch eigentlich fremd, so fremd, wie in diesem Augenblick alle Menschen.

Denise verlangsamte ihren Schritt, sie dachte an Montmidi, an ihren Mann, und das Blut stieg ihr ins Gesicht vor Erbitterung. Wie hatte sie es mit diesem Menschen jahrelang aushalten können? Ach, es war ja ganz gleich, alles ganz gleich, sie mochte nicht mehr daran denken. Sie wischte sich über die Stirn, als könnte sie dadurch ihre ganze Vergangenheit bannen.

Da fiel ihr der Brief wieder ein, und sie sagte sich: ›Wie ist es nur möglich, daß ich so bin? Ist es denkbar, daß ich ihn nicht gelesen habe? Es wird doch sein Abschied sein!‹ Aber als stünden die letzten Worte des letzten einsamen Ganges von La Bergerie bis zum Bahnhof zwischen ihr und dem Toten, gestand sie sich in Bitterkeit: ›Er ist doch wie alle andern!‹

Da sah sie eine leere Bank mitten in den Anlagen stehen unter einem kahlen Baum, sonnenbeschienen, warm und einladend, und weil niemand in der Nähe war, ging sie hin. Sie setzte sich, und ganz von selbst, als hätte sie des Ganges bedurft und der Gedankenreihe ihrer Überlegungen, fand sie nun den Mut, den Brief zu öffnen.

Sie las die Adresse, sie zog eine Haarnadel aus dem dichten, schönen, schwarzen Haar und schnitt damit den Umschlag auf. Es waren viele Seiten, schräg beschrieben, manche kaum leserlich, Seiten, naß geworden, als ob Tränen darauf gefallen wären, scheu und ängstlich wieder fortgetupft.

Wie sie diese seltsam verräterischen Spuren entdeckte, wandelte sich wieder ihr Herz: die Härte von vorhin begann der Weichheit Platz zu machen. Ihr Blick umflorte sich, während sie das Papier in den zitternden Händen hielt, denn sie sagte sich: ›Es ist der Abschied eines Toten; vielleicht doch des einzigen Menschen, der mich lieb gehabt hat.‹

Endlich wischte sie sich die Augen, und nachdem der Tränenschleier gesunken war, vermochte sie die zitternde, feine Schrift zu entziffern, die Schrift, die sie nur einmal in ihrem Leben erblickt hatte, und die sie doch meinte, heute nicht wiederzuerkennen, so auseinandergezogen waren die Buchstaben, so verändert die Lage, die Größe, die Zwischenräume. Und sie las:

Meine arme Denise!

Ich werde sehr bald vor einem höhern Richter stehen, das fühle ich, und der Arzt hat es mir gesagt. Ich bedaure es nicht. Ich habe meinen Teil Glück, wie ich es eben verstand, auf diesem Planeten gehabt. Wie ich es eben verstand, sage ich, denn jetzt, wo ich darüber nachdenke, was ich nun eigentlich vom Dasein gehabt, was ich geleistet habe, was ich hinterlasse, sage ich mir: nichts, nichts, es war alles nichts!

Diese Erkenntnis müßte mich zu Tode traurig machen, aber ich bin so leichtsinnig, so entsetzlich leichtsinnig! Ich habe nur den einen Wunsch, ich möchte noch ein wenig auf dieser Erde bleiben. Nicht aus Selbstsucht, sondern um wieder gutzumachen, was ich angerichtet habe.

Mein Gott, ich hätte viel gutzumachen, aber das liegt alles Jahre zurück und ist doch nicht mehr zu ändern.

Ich habe vielen Frauen in die Augen geblickt, viel Glück durch sie genossen. Wo ist das alles hin? Was blieb? Was hat es genützt? Nichts! nichts! Gar nichts! Und sie alle werden sich mit Bitterkeit meiner erinnern, einer Bitterkeit, die oberflächlich genug ist, sich bald zu trösten. Aber eine gibt es, die kann nicht so denken, und das bist Du, meine arme Denise.

Jetzt, wo es doch zu spät ist, möchte ich Dir ein Geständnis ablegen, ein Geständnis, fürchterlich für Dich wie für mich, aber soll ich lügen in dieser letzten Stunde? Ich will es Dir nur gestehen, fasse es ruhig auf und lege diesen Brief nicht gleich fort – am Ende dieser Zeilen wirst Du milder über mich denken: ich bin nicht zu Dir gekommen aus Liebe.

Hier steht es! Das einer Frau zu sagen, ich weiß es, ist eine Beleidigung, denn jede glaubt, sie hätte eine Leidenschaft eingeflößt wie keine andere. Aber ich bin nicht aus Liebe zu dir gekommen, ich kam zu Dir aus bodenloser Langeweile dieses entsetzlichen Landaufenthaltes, für den meine Nerven, meine Sinne, meine Pariser Jugend und Erziehung nicht gemacht waren. Und wenn Du es nicht gewesen wärst, wäre es eine andere gewesen, eine mußte es sein! Ich kam zu Dir in tändelndem Spiel, ich wollte mich unterhalten, und ich dachte: ›Sieh mal, die kleine Frau! Und sieh mal, wie sie nett ist! Und wie sie hübsch ist und wie sie die Augen niederschlägt, wenn du sie so anblickst!‹

Glaubst Du nicht, daß mir andere das schon gesagt haben, daß ich eine Frau ansehen kann, wie kein Mann eine ansieht? Ich habe Dich angesehen, und Du fingst Feuer, Du armer kleiner Schmetterling. Ich merkte es, und das ermunterte mich noch, es brachte Abwechslung in die Öde dieser Bergerie, wo ich Dir nicht einmal eine Blume brechen konnte, wo ich ein Sklave war in meinem eigenen Hause. Ich dachte, die kleine Frau wird mir zum Zeitvertreib dienen, und dieser Mann wird mich nicht stören, dieser Bauer, der nichts merkt, und der selbst krumme Wege geht.

Da bin ich mit diesem Rüpel durch den Garten gelaufen und habe ihm gesagt, daß seine Tomaten rot sind und seine Artischocken grün und röter und grüner als alle Tomaten und Artischocken dieser Erde. Und ich habe mir gesagt, die dümmsten Bauern bauen die größten Kartoffeln. Und ich habe ihn ausgelacht und im stillen gesagt: ›Das einzige Gute an dir ist deine kleine Frau!‹ Dann habe ich Trost bei Dir gesucht, und allmählich fing mein armes, abgebrühtes Herz ein wenig Feuer.

Feuer? Mein Gott, Feuer vielleicht nicht, aber es ward warm, es ward herzlich warm. Du warst eine Heldin, Dein Schicksal auf Dich zu nehmen, die besten Jahre Deiner Schönheit und Jugend – denn Denise, Du bist schön, weißt Du das auch? – zu versitzen in diesem Montmidi. Ich habe mir sogar in der letzten Zeit gesagt – ich stehe vor dem Tode, ich lüge nicht, Denise – das wäre vielleicht eine Frau für dich! Ich habe mir überlegt: Soll ich es tun?

Aber da kam Feigheit und Schlappheit, und ich sagte mir: ›Du mußt dich mit dem Manne auseinandersetzen, und das gibt Skandal. Deine Familie, deine Kreise werden dir die Tür vor der Nase zuschlagen, und sie, die tausendmal sündigen, werden sagen: diese geschiedene Frau nehmen wir nicht auf.‹

Siehst Du, das alles stand mir genau vor der Seele. Dann kam noch etwas dazu: Geld, Geld, dieses elende Geld, das Dreck ist, wenn man es hat, und das die Welt bedeutet, wenn man es nicht hat! Und ich hatte es nicht, und ich hätte es zwei Jahre lang nicht gehabt. So lange hätte ich noch warten müssen.

Da kam dann die alte Lässigkeit über mich, und ich sprach zu mir: ›Warum etwas ändern, du kannst nicht gegen dein Schicksal; zwei Jahre mußt du noch hier warten, und wenn du zwei Jahre zu ihr nach Montmidi gehst und immer den Nachmittag dort sitzt, das wird vielleicht langweilig!‹

Ach Gott, tausend Überlegungen eines egoistischen Männerherzens! Und was geschah? Alles das, ob so oder so, ward abgeschnitten, als Du an jenem Abend erschienst.

Gestehe es selbst, war es nicht eine Verrücktheit? Ihr Frauen seid doch immer gleich. Wenn Euer Herz spricht, schläft Euer Verstand. Habt Ihr den überhaupt? Seid Ihr nicht bloß Nerv und Herz? Du bist es, meine kleine Denise, und das ist es, was mir jetzt den Abschied bitter macht: ich habe Angst um Dich.

Doch höre weiter. Es war eine Dummheit, als Du kamst, und ich war in meinem Recht, als ich erschrocken und erstaunt war. Die Folge trat ein, die oft in meinem Leben in Paris an mir vorübergegangen war, und die mich jetzt in diesem elenden Nest in dieser jammervollen Provinz erreichte. In dem Bauer erwachte der Aristokrat, in dem Gärtnergehilfen regte sich der Mann von Welt, der dieser Kerl einst gewesen war. Nun, und das Schicksal entschied gegen mich, er schoß mich an.

Du hast ja alles in den Zeitungen gelesen, Du hast es gehört von Deinen Eltern. Ich habe die Quittung erhalten, ich trete von meinem Platze ab, an mir ist nichts zu bessern und zu retten! Ach was, einmal müssen wir doch sterben!

Aber Denise, das Sterben wird mir nicht leicht, um Deinetwillen! Denn was soll aus Dir werden? Dein Leben ist aus, und das schmerzt mich! Ich bereue selbst nichts, mag es kommen, wie es kommt, ich glaube an eine Vorherbestimmung, aber daß ich eines andern Menschen Dasein in mein Ende hineinziehe, das tut mir weh.

Und jetzt, wo ich die letzten Zeilen schreibe – ich habe so oft abgesetzt, Du wirst es bemerkt haben – empfinde ich erst die Bedeutung dessen, was Du für mich getan hast. Wenn Dein Bild mir jetzt erscheint auf meinem letzten Lager, ist es mir, als müßte ich weinen.

Ich habe die Tränen nie nahe gehabt, ich habe das Leben gepackt, wie es kam, ich habe immer gesagt: ›Lachend sollen wir das Dasein genießen!‹ Jetzt bin ich rührselig und heule wie ein altes Weib. Du siehst es an meinem Briefe, mir rinnen nur so die Tränen.

Jetzt weiß ich erst, was ich angerichtet habe. Für mich selbst war ich allein verantwortlich, aber ich habe ein anderes Menschenleben mit hineingezogen in das meine.

Denise, ich habe Dich sehr lieb und bitte Dich um Verzeihung, daß es nicht gleich so war. Ich habe Dich so lieb, daß ich es Dir nicht erklären kann, und daß Du, wenn Du in mein Herz sehen könntest, mir alles verzeihen müßtest, was ich an Dir getan habe.

Lebe wohl, suche das Leben auszuhalten, zürne nicht dem, der es zerbrochen hat, der nur durch einen blöden Zufall verhindert ist, gutzumachen, was er getan hat...

Es folgten noch ein paar Zeilen, aber sie waren so verwischt, daß Denise sie nicht lesen konnte.

Sie blieb auf ihrer Bank im warmen Sonnenschein sitzen, faltete den Brief langsam zusammen und steckte ihn wieder ein. Sie dachte nach, ruhig, keine Träne war ihr in die Augen gekommen. Sie dachte nach über alles, was ihr widerfahren war, über den Sinn des Lebens. Und sie fand keine Lösung. Sie fragte sich: ›Warum mußte das geschehen? Warum mußte es gerade mir geschehen? Es gibt Millionen leichtsinniger Frauen. Warum widerfährt ihnen das nicht?‹

Sie überlegte, was aus ihrem Dasein werden sollte. Sie wußte, es war gebrochen, sie konnte nicht mehr in die Höhe, sie war ausgestoßen aus der Gesellschaft, aus dem Kreise ihrer Eltern, ihrer Freunde, ihrer Verwandten. Sie fragte sich: ›Warum kann man ein Dasein nicht wieder beginnen?‹ Sie sah die Ungerechtigkeit, die darin liegt, daß einer, der einmal einen falschen Weg gewandelt ist, nie wieder zurückkehren kann.

Es war ihr, als müßte sie von Gott und dem Schicksal verlangen, daß man sie wieder an den Anfangspunkt setzte, von dem sie ausgegangen war, daß man sie wieder Mädchen werden ließ, wie damals, da sie in kindischer Laune um einen Mann gebeten hatte, wie um eine Puppe.

Sie hatte nur ein Dasein zu vergeben, und das war hin. Sie konnte nie wieder aus den Niederungen zu den Höhen steigen.

Da klagte sie ihren Schöpfer an, der seine Kreaturen schuldig werden ließ, ohne sie wieder zum Licht emporzuheben; denn in der Zerschlagenheit ihrer Seele, in der Verzweiflung, wie sie dem Dasein gegenüberstand, in all ihrer Enge und Dumpfheit sah sie keinen Ausweg und keine Rettung.

Sie stand auf und ging lange auf dem Mittelwege zwischen den kahlen Bäumen hin und her. Drüben war längst der frohe Schwarm der Mädchen davon. Sie war beinahe allein, denn dort, wo sie schritt, war kein Durchgang durch den Garten.

Sie überlegte jetzt mit ruhigem Verstand: es war aus, sie war fertig mit den Menschen. Sie fühlte ihr ganzes verflossenes Dasein wie einen Zeitabschnitt hinter sich, der abgeschlossen war. Sie wußte alle ihre Beziehungen zur Vergangenheit gebrochen, sie fühlte sich entwertet und entwürdigt, deklassiert, herabgezogen, sie empfand etwas wie einen Ekel vor sich selbst. Und plötzlich kam ihr der Gedanke, sie mußte dem ein Ende bereiten: ein Sprung heute abend, wenn es Nacht geworden, kein Rettungsboot, kein Mensch in der Nähe, ein Sprung in den dunklen Strom hinab, und dann war der Schmutzfleck ihres verfehlten Daseins ausgelöscht.

Aber sie hatte nicht die Kraft dazu. Sie schauerte bei dem Gedanken. Die Sonne schien zu schön, es war zu hell und herrlich heute in diesem wunderbaren Paris. Sie blickte hinüber, wo die Champs-Elysées sich hinaufzogen nach dem Triumphbogen mit der erdrückenden Fülle von auf und nieder rollenden Wagen. Mußte es denn sein? Was hatte sie getan? Und wenn sie nun neu begann, wenn sie ein anderes Dasein versuchte? Wenn die, die in der früheren Sphäre ihr gleichgültig gegenüberstanden, die sie unbewußt zu dem getrieben hatten, was sie getan, wenn die sie nun nicht mehr grüßten, was war dabei?

Da dachte sie an das Geld, und sie zählte in Gedanken nüchtern und praktisch und vernünftig, was sie noch besaß. Sie konnte monatelang davon leben.

Und während sie auf und nieder schritt, machte sie sich Vorwürfe. Sie war erstaunt über sich selbst, sie faßte ihr eigenes Herz nicht. Dieser Abschiedsbrief, den sie noch in der Hand hielt, wozu hatte er sie geführt? Zu nichts als zu vernünftigen, nüchternen Gedanken. Hatte sie kein Herz, kein Ehrgefühl, keine Weichheit? Sie hätte weinen müssen und verzweifelt sein, und sie wurde verstockt und fing an, ihr Geld zu zählen.

Es war die Stunde, wo nachmittags die Bonnen mit den Kindern kamen. Allmählich begann der Garten sich zu füllen. All die Ammen und Mädchen erschienen und gingen auf und ab mit den langen Mänteln und den langen Bändern und der Haube. Denise dachte daran, wie ihr erster, sehnlichster Wunsch in der Ehe gewesen war: ein solches Band, eine solche Haube.

Da kehrten ihre Gedanken zurück zur kleinen Lucy, zu dem einzigen, das ihr noch blieb. Sie dachte nach, und eine Angst überkam sie. Das Kind würde sie doch bekommen? Sie kannte das Gesetz nicht. Sie wußte es nicht. Eine Sehnsucht packte sie, das kleine Stimmchen wieder zu hören, es war ihr, als vernähme sie die Worte: ›Mama, du mußt nicht weinen!‹

Da schluckte sie schwer, ihr kamen die Tränen, die jener Brief nicht hervorgerufen hatte, und sie dachte: ›Wenn ich mein Kind nicht bekomme – dann allerdings, was ist mir dann das Dasein?!‹


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