Georg Freiherr von Ompteda
Denise de Montmidi
Georg Freiherr von Ompteda

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VII.

Denise verzögerte die Stunde ihrer Abreise von Tag zu Tag, sie konnte sich nicht trennen von Paris, von ihren Eltern, von der ganzen Umgebung. Alles, was sie früher nicht beachtet hatte, erschien ihr jetzt köstlich, was sie einst gelangweilt, erregte jetzt ihr größtes Interesse.

Sie hatte als Mädchen nichts auf das Essen gegeben, es für etwas Selbstverständliches gehalten und war der Überzeugung gewesen, sie könnte mit einem Glase Wasser und einem Stück Brot wochenlang leben. Nun, wo sie wieder all die guten Speisen eines wohlgepflegten französischen Tisches aß, Saisonsachen, über die hier kein Wort verloren ward, die sie aber in Montmidi niemals zu Gesicht bekommen hatte, fand sie Freude an jeder Kleinigkeit. Sie dachte mit Entsetzen daran, daß ihr das alles binnen kurzem wieder fehlen würde.

An der Lebensweise im elterlichen Hause hatte sich nichts geändert. Immer noch fuhr die Mutter zu Besuchen oder zur Schneiderin; immer noch ging es zur gewohnten Stunde in das Bois de Boulogne. Es war die Fahrt, die das Mädchen so entsetzlich gefunden hatte, daß sie am liebsten sich jedesmal eingeschlossen hätte, wenn es fortgehen sollte. Aber diesmal genoß es die junge Frau, wie der Verschmachtende einen Tropfen Wasser. Sie wollte niemand sehen, sie lehnte es sogar ab, mit ihrer Mutter die Bekannten zu besuchen, sie wollte nur das große, herrliche Paris um sich fühlen. Sie wollte ihr Auge ergötzen an der Flut brandenden Lebens in den Straßen, an den Toiletten, an den Wagen. Ihr Auge fiel auf die Jacken und Umhänge der Damen, auf den blitzenden Schmuck, den sie trugen, auf die kecken Hüte, und leise verglich sie dabei immer ihren eigenen Anzug. Wenn sie zu Hause saß, änderte sie unaufhörlich daran, steckte ein Band um, riß von ihrem Hut die Garnierung herunter, nähte drauf los mit fabelhafter Geschwindigkeit. Oft war sie noch mitten dabei, als schon der Wagen zum Ausfahren gemeldet wurde.

Sie fand sich nicht schön genug, sie fürchtete, man sähe ihr die Provinz an; ein entsetzliches Gefühl für eine Frau unter ihren modischen Großstadtschwestern. Da sie selbst nichts ausgeben wollte, erbettelte sie von ihrer Mutter, was die nicht mehr brauchte. Sie sah mit Frau de Verneuil die Schränke durch. Hier fiel ein Gürtel, ein Hut für sie ab, dort Handschuhe, denn beide hatten die gleiche Nummer, sogar eine Breitschwanzjacke, ein wertvolles Stück, über das Denise im stillen jubelte. Die Mama hätte das Pelzstück ändern lassen können, aber sie mochte nur neues anziehen. Die Jacke kniff sie in den Armen, sie meinte, sie hätte keinen Schick und Sitz. Dann durchstöberten sie einen ganzen Schrank voll Unterröcke, die Frau de Verneuil einmal hübsch gefunden und eigentlich nie getragen hatte.

Wenn die Jungfer dazu kam, sah sie mißgünstig dem Treiben zu, denn sie gönnte Denise die Sachen nicht, auf die sie selbst ein Recht zu haben meinte. Denise fühlte die stille Feindschaft des Mädchens, und da sie deren Einfluß auf die Mutter fürchtete und hörte, wie sie ein paarmal sagte: ›Aber gnädige Frau, das ist ja noch so schön, das sollten Sie nicht fortgeben!‹, wollte sie die Zofe gut stimmen, und mit schwerem Herzen riß sie sich von einer seidenen Bluse los und schenkte sie ihr. Die nahm sie an, kaum dankend, wie etwas, das ihr gebührte.

Manchmal begleitete Frau de Berneuil ihre Tochter nicht im Wagen. Sie erwartete Besuch, oder sie hatte etwas anderes vor; Denise fragte danach nicht. Sie nahm die Amme mit der kleinen Lucy, setzte sie neben sich, und nun fuhr sie spazieren, nicht immer in das Bois, sondern auch in die Stadt, durch die Straßen mit ihrem Gedränge und Geschiebe. Denise kam sich ganz stolz vor, denn die Viktoria war wirklich elegant. Sie machte ein gutes Bild, auch in der verwöhnten Riesenstadt. Wenn dann ein paar Leute sie anblickten, so überlief es sie, und sie sagte sich geschmeichelt: ›Jetzt wird man denken, das ist mein Wagen! Das ist doch nett.‹

Dann ließ sie am Vendômeplatz halten, stieg aus und machte einen Rundgang, um die Läden anzusehen. Dort hielten Dutzende von Equipagen, der Kutscher auf dem Bock, der Groom am Wagenschlag, in tadelloser englischer Livree; sie warteten auf die Besitzerin, die oben bei einem der großen Schneider weilte, die diesen, einem gewaltigen Modemagazin gleichenden Platz gepachtet zu haben schienen.

Die Amme blieb dann mit dem Kind im Wagen sitzen. Sie blickte sich um mit ihren großen, törichten Bauernaugen, lachte verlegen, dummdreist, die Menschen an, die vorüberkamen, und gefiel sich in ihrer Rolle, während die kleine Lucy schlief.

Denise ging währenddessen an den Läden hin, blieb hier und da stehen, schaute in eine Auslage, wo sie alle diese wunderbaren Sachen betrachtete, die nur für elegante Damen gemacht zu sein schienen: Jardinièren, Vasen, Bonbonnièren, Rähmchen, kleine Bücher, Kalender, Figuren, Bronzen, Porzellansachen, Lesezeichen, silberne Dosen, Riechfläschchen, tausend und tausend Nichtse für die Umgebung, die Hände, die Salons und Boudoirs der eleganten Frauen. Sie stieß einen Seufzer aus, daß sie das alles nicht haben konnte, denn sie hatte kein Geld. Ihr Sinn für derartige Dinge schien zu erwachen. Früher hatte sie alles das bei der Mutter gesehen, aber nicht begriffen, hatte es wohl gar unnütz gefunden. Jetzt kam ihr eine Sehnsucht danach, auch sie hätte es gern auf ihrem Tisch gehabt. Wozu? – sie wußte es nicht. In Montmidi hätte es kein Mensch gesehen, es kam ja niemand hin, es freute sich keiner daran.

Und sie dachte plötzlich an Robert. An Robert, der nicht rasiert war, an Robert mit den schmutzigen Stiefeln, an denen noch Erde klebte, mit der abgetragenen Hose, der verwahrlosten Krawatte, mit dem Hemdkragen, der tagelang nicht gewechselt worden war. Dann verglich sie ihn mit den aufs äußerste peinlichen Herren, die vorübergingen, an deren Röcken kein Stäubchen saß, Röcken die der Schneider ein dutzendmal anprobiert hatte, die nicht eine Falte schlugen, wo sie es nicht sollten, und nirgends sich anschmiegten, wo sie frei hängen mußten. Sie schielte unwillkürlich im Vorübergehen zu den Herren mit den tadellosen Zylindern, mit den hohen Kragen, mit den geschmack-volleigenartigen Krawatten, in denen die schönsten Nadeln blitzen. Sie sah manchen, der einen gekräuselten, seidenglänzenden Schnurrbart trug, von der Seite an, als wollte sie sich sagen: ›Wie machst du das eigentlich? Ach, wenn Robert das doch auch könnte!‹

Richteten sich die durchdringenden Blicke der Herren auf sie, dann schaute sie zur Seite, als hätte sie nicht hingesehen. Sie wunderte sich über die Frechheit, mit der man sie anstarrte. Ein paarmal folgte ihr jemand. An einem Schaufenster, das sie betrachtete, blieb wohl einer stehen, und sie fühlte, wie sein Auge auf ihr ruhte, ihre Gestalt hinablief und forschend auf ihrem Gesicht haften blieb.

Einmal, in der Avenue de l'Opéra, redete sie ein großer, stattlicher, nicht mehr junger Herr an, mit scharfer Nase, Schnurrbart und Fliege am Kinn, an dessen tadellosem schwarzen Gehrock das rote Band der Ehrenlegion flammte. Er lüftete artig den Hut, und sie sah, daß er nur wenig Haar auf dem Kopf hatte. Aber als der Zylinder ihm wieder in der Stirn saß, sah er jünger aus. Denise war naiv, zerstreut, erschrocken, wohl auch verlegen. Sie blieb stehen und hörte ihn an. Sie dachte wirklich, es wäre ein Bekannter und ließ ihn reden, während sie in ihrem Gedächtnis suchte, um ihn unterzubringen. Er hatte etwas gesagt, ob er nicht die Ehre gehabt hätte, sie im Cirque d'Hiver vor sechs Wochen gesehen zu haben. Dabei schwebte ein seltsames Lächeln um seine Lippen, und Denise wußte nicht, was sie tun sollte. Sie sagte, sie erinnere sich nicht, und statt ihn zu bitten, sie von seiner Gegenwart zu befreien, fuhr sie in ihrer Verlegenheit fort:

»Ich habe Sie wohl bei meinen Eltern gesehen? Ich bin, seitdem ich verheiratet bin, auf dem Land auf unserm Gut ...« Der Herr machte ein erstauntes Gesicht, er lächelte etwas überlegen, ein wenig frech und sagte:

»Vielleicht haben Sie denselben Weg?«

Und er machte Miene, sie zu begleiten.

Da kam ihr plötzlich die Erleuchtung, wie töricht sie sich benommen hatte, und eine Ahnung der Wahrheit. Sie rief:

»Lassen Sie mich, sonst rufe ich um Hilfe!«

»Das wäre schade!« antwortete er nur, lüftete den Hut und war in demselben Augenblick weitergegangen.

Sie aber stürzte davon. Sie war dunkelrot geworden; sie hätte am liebsten die erste beste Droschke angerufen, um sich hineinzuwerfen und ihre Scham zu verbergen. Endlich rettete sie sich zur Equipage, nahm neben der Amme Platz, und als sollte sie durch ihre Mutterwürde die unreinen Blicke auslöschen, beugte sie sich zu der kleinen Lucy nieder, die unter dem Mantel schlief, und begann mit ihr zu spielen.

Aber bei diesen Spazierfahrten machte es ihr, wenn sie es sich nachher überlegte, doch Spaß, daß man sie überhaupt beachtete. Sie war also doch nicht so ganz Provinz, wie sie befürchtet hatte.

Ab und zu schrieb Denise ihrem Mann, aber nicht aus dem Bedürfnis heraus, sich mit ihm zu unterhalten, denn auch in Montmidi sprachen sie ja wenig miteinander. Von all den Dingen, die sie jetzt hier sah und die ihr Herz bewegten, konnte sie ihm eigentlich nichts mitteilen. Er wollte von der Großstadt nichts mehr wissen, und sie mochte in ihm auch nicht den Gedanken an seine elegante Zeit wieder aufwecken. Er hätte nur Geld ausgegeben, und sie hatten ja keins.

Das lastete immer auf ihr. Auch hier hatte sie nichts in der Tasche. Sie wäre gern einmal in einen Laden getreten, wenn sie etwas Hübsches gesehen hatte, um es zu kaufen, aber sie konnte es nicht mit den wenigen Franken, die sie besaß. Sie schämte sich aber, diesen Zustand ihren Eltern zu offenbaren. Als sie einmal der Mutter gegenüber eine Andeutung machte, wurde Frau de Verneuil nervös, sie befand sich selbst augenblicklich in größter Verlegenheit, ihr Schneider hatte dringend die Begleichung der Rechnung verlangt, und sie hatte alles für ihre Nichtigkeiten vertan, ihren Mann mochte sie aber nicht bitten.

Einmal aber kam doch die Rede auf Geldsachen, als Denise mit ihrem Vater sprach. Er war anders gegen sie, viel herzlicher als früher. Er schien sich über sie zu freuen. Er ging mit ihr früh spazieren, denn nachmittags hatte er keine Zeit. Und er wählte dazu Wege, die sie nie gemacht hatte: an den Seine-Staden hinunter zur Notre-Dame. Er hatte nämlich eine neue Leidenschaft, er suchte bei den Antiquaren erste Ausgaben von allerlei verstaubten alten Büchern. Er verstand nicht gerade viel davon, es war nur eine Art Zeitvertreib.

Wie sie so mit ihm dahinschritt, und er die langen Reihen von Büchern musterte, die auf den Staden lagen, schüttete er sein Herz aus. Er klopfte auf die alten Scharteken und meinte:

»Mein Kind, das ist schließlich alles, was uns noch Freude machen kann. Zu sammeln, was aus alter Zeit übrig blieb, so wie wir einmal für andere gearbeitet haben werden ...«

Sie begriff nicht, was er, der nie gearbeitet hatte, darunter verstand, und während sein Auge über die Bände lief und er hier und da einmal einen herausgriff, nach dem Titelblatt sah und ihn durchblätterte, fuhr er in seiner Auseinandersetzung fort:

»Das Leben ist so entsetzlich mittelmäßig. Was bleibt uns nun übrig am Schluß, mein Kind: das Studium der Kunst, das Interesse für Altertümer, eine Kupferstichsammlung, eine Gemäldegalerie, Skulpturen, Porzellane, eine fein ausgewählte Bibliothek.«

Denise schwieg, sie wollte sagen: ›Und die Kinder, die Freude an ihrem Wachsen und Gedeihen!‹ Sie dachte an ihre kleine Lucy, um die der Großvater sich eigentlich nie kümmerte, die er einmal angesehen hatte und dann nicht wieder.

Aber er fuhr in seinen Auseinandersetzungen fort, während sie an den Staden weiter hinabschritten. Er setzte sich den blanken Zylinder tief in die Stirn, stäubte seine weißen Handschuhe einen am anderen ab, an denen vielleicht etwas hängengeblieben war von den alten Büchern, dann sagte er ein wenig theatralisch, indem er sich den grauwerdenden Bart strich:

»Mein Kind, das wirst du alles noch einsehen. Du wirst es wohl selbst noch erleben. Die Liebe ist für die Jugend, und die Weisheit ist für das Alter! Die Liebe, mein Gott! Du bist ja jetzt vernünftig, du bist Frau, du bist Mutter, da kann dein Papa wohl darüber mit dir sprechen ..., weißt du, alles währt seine Zeit, und mal muß es ein Ende haben. Und wenn man alt wird, nun, ich will mich ja nicht alt nennen ...«

Und er reckte sich gerade auf und schritt ein wenig stärker aus:

»... aber immerhin, allmählich kommt man zu Erkenntnissen, die man früher nicht geahnt hat. Ich gebe dir einen Rat, mein Kind, interessiere dich beizeiten für etwas, hänge dein Herz an irgend etwas, das bleibt, und nicht bloß an Kleider und Hüte und Toiletten und ein paar Brillanten oder ein paar Perlen. Weißt du, mit der Mama ist es manchmal schlimm! Mache es nicht so wie sie, die hat es verpaßt, und ich habe es vielleicht auch verpaßt!«

Damit schloß er, und für heute redete er nicht mehr davon. Es schien ihm Spaß zu machen, mit der hübschen jungen Frau spazieren zu gehen. Ein paarmal sah er Herren an, die seine Tochter anblickten, und ein Lächeln ging über seine Lippen, während er sagte: »Mein Kind, es ist eigentlich schade, daß du dein Dasein in der Provinz versitzt!«

Es schien ihr, als wäre das der Augenblick, einmal mit ihrem Vater über ihre Verhältnisse zu sprechen. Sie wußte immer noch nicht, ahnte er eigentlich, was geschehen war? Es wäre doch gut gewesen, es ihm einmal zu sagen. Und ganz im stillen kam ihr bei diesem Gedanken die Idee, vielleicht würde er, der so gut jetzt gegen sie war, ihr ein paar Franken zustecken, ein Goldstück oder gar einen Kassenschein. Sie hätte es brauchen können. Da begann sie Andeutungen zu machen:

»Wir können euch leider nicht einladen, wir haben keinen Platz, es ist alles so eingeschränkt. Und dann – und dann – ich glaube, Papa, das weißt du wohl nicht, die Ausgabe!«

Er schien nicht darauf eingehen zu wollen:

»Ja, ja, das verdammte Geld!«

Doch sie ließ ihn nicht los. Er sagte ab und zu, während sie ihm von ihren bedrängten Verhältnissen berichtet:

»Mir ahnte so etwas!«

Das machte ihr noch mehr Mut, und endlich erzählte sie ihm alles, wie Robert sein ganzes Vermögen verspielt hätte und sie nun nur noch von dem lebten, was sie selbst besaß.

Da runzelte er die Stirn und wurde böse:

»So, so, also er läßt sich von dir ernähren!«

Sie verteidigte ihren Mann:

»Nein, Papa, er tut ja, was er kann, er ist von früh bis zum Abend beschäftigt, denn er arbeitet im Garten, er pflanzt und gräbt, um die Erträgnisse zu erhöhen!«

Herr de Verneuil meinte, überlegen lächelnd:

»Er pflanzt also Radieschen, und davon wollt ihr leben!«

Sie waren noch am Kai, aber unwillkürlich bogen sie ab, gingen über die Seine, beim Reiterstandbild Heinrich IV. vorüber und tauchten in die alten Straßen ein, die nach dem Boulevard St. Germain hinüberführen. In diesen Gassen war es weniger elegant: an schmutzigen Cafés mit niedrigen Decken und weit geöffneten Fenstern kamen sie vorüber. Bis hinaus auf den Bürgersteig standen Stühle und Tische. Dann erschienen Antiquare, Fleischer, bescheidene Modewarengeschäfte, Möbelhändler, ein Fischladen, es roch nach Seewasser, nach Vorkosthandlung, – das große Paris war vorbei, man hätte sich in einer kleinen Stadt gewähnt. Es waren andere Menschen. Die internationalen Erscheinungen, die eleganten Herren, die schicken Damen, alles fehlte, nur ein paar zweiräderige Lastwagen klapperten schwer dahin. Und je weiter sie gingen, desto gewöhnlicher wurde ihre Umgebung, desto schmutziger schien es zu sein, desto einfacher die Läden, die Häuser.

Hier war es undenkbar, einen Bekannten zu treffen, und als gäbe ihr das Mut, berichtete Denise ihrem Vater peinlich jede Kleinigkeit ihres armseligen Lebens. Sie entzündete sich an ihrem Stoff, sie wurde eifriger und eifriger, sie entwarf ihm ein genaues Bild. Wie der Vater ihren Arm nahm und teilnehmend nun seinerseits nach allen Einzelheiten fragte, beklagte sie sich endlich auch über Robert, seinen Geiz, sein Sichgehenlassen.

Da blieb Herr de Verneuil stehen und rief, indem sein Stock gellend das Pflaster traf:

»Aber, mein Kind, wir haben dich doch nicht mit einem Bauern verheiraten wollen!«

Nun lenkte sie ein und meinte, Roberts Bestreben wäre nur, kein Geld auszugeben. Herr de Verneuil schüttelte immer den Kopf:

»Dazu habe ich dich nicht verheiratet!«

Schließlich begann er so auf seinen Schwiegersohn zu schimpfen, daß Denise ganz ängstlich zumute ward. Aber es waren nur Worte, und nachdem sein Zorn sich gelegt hatte, rief er eine Droschke an und sagte: »Kind, es ist Zeit, wir kommen sonst zu spät zum Frühstück.«

Dann brummte er vor sich hin:

»Das sind ja unglaubliche Zustände! Ganz unglaubliche Zustände!«

Denise meinte, in seinem Innern würde das fortarbeiten, und sie hoffte von Tag zu Tag, irgendeine Änderung möchte eintreten; der Vater überlegte wahrscheinlich nur Mittel und Wege. Aber er redete kein Wort, und als sie sich endlich entschloß, nach Montmidi heimzukehren, hatte er noch immer nicht gesprochen.

Am liebsten wäre Denise in Paris geblieben, aber sie fühlte, sie war jetzt lange genug hier gewesen. Ihre Mutter hatte andere Gedanken, sie ging zu Garden-Parties, hatte sich mit Bekannten für ein Konzert verabredet, mußte zu einem Polo-Match, hatte mit Freunden einen Ausflug nach Versailles vor.

Ein paarmal fragte wohl Frau de Verneuil etwas lau, ob Denise sie begleiten wollte, aber diese wußte, der Mutter lag nichts daran, sich mit der erwachsenen Tochter sehen zu lassen. Und wie sie ihren Bekannten die kleine Lucy nie gezeigt hatte, besaß sie gar keinen Ehrgeiz, als Großmutter angeredet zu werden.

Dann war Denise noch ein Gedanke gekommen, ein Gedanke, den ihr René eingeblasen hatte.

Sie bekam ihren Bruder fast nie zu Gesicht. – Er hatte ihr am ersten Tage anvertraut:

»Schwesterchen, sei mir nicht bös: man muß die Gelegenheit beim Schopf ergreifen. Ich will mich verloben. Wenn mir das gelingt, dann sollst du sehen! Ich weiß ja, wie eure Finanzverhältnisse sind; denke nur nicht, daß man das nicht erfährt, ich weiß alles, meine kleine Denise, wenn du es mir auch nicht geschrieben hast. Aber paß mal auf, wenn ich das Mädchen kriege, dann will ich dir auch helfen, denn dann kommt es mir auf ein paar tausend Franken nicht an.«

Dabei schnalzte er und zog ein Gesicht, wie jemand, der die Aussicht hat, ein wunderbares Geschäft zu machen.

Was er ihr aber zugeflüstert hatte, war:

»Laß deinen Mann nicht allein, das tut nicht gut, du kannst nicht wissen, auf was für Gedanken er kommt!«

Das bohrte in ihr, das quälte sie, das arbeitete fort und fort. Sie hatte Augenblicke, wo sie mit Grauen an den ungepflegten Mann dachte, der doch einst einer der Snobs auf diesem glänzenden Pflaster von Paris gewesen war; aber es war doch ihr Gatte, und weiter gingen ihre Gedanken nicht. Immer wieder schob sie die Schuld nur auf das Geld. Mit dem Gelde, das sie gewiß einst wieder besäßen, würde er wieder der elegante Robert de la Caille werden, der er zuvor gewesen war.

Aber die Worte, die ihr der Bruder in die Seele gehaucht hatte, trieben sie zu dem Entschluß, heimzukehren. Sie zerbrach sich den Kopf, warum hatte ihr Robert nicht geschrieben, sie sollte kommen? Und einen Augenblick dachte sie schon: ›Er will nicht, daß ich komme!‹

Sie war kein Kind mehr, sie hatte gelernt, die Augen aufzutun, und in der Pariser Umgebung, bei den Freundinnen ihrer Mutter, den Freunden ihres Vaters und den Freunden ihres Bruders hatte sie erfahren, wie das Leben wirklich ist. Sie hatte gehört: der Mann war geschieden worden, jener lebte mit einer anderen; dieser Frau sagte man Beziehungen nach, dort hatte einer sich mit dem Freunde seiner Frau geschlagen. Nein, sie wollte heim, heim so schnell als möglich.

Als sie es ihren Eltern beim Frühstück mitteilte, waren sie sofort einverstanden. Auch René war ausnahmsweise gekommen. Frau de Verneuil sagte, indem sie die anderen ansah: »Ich finde es sehr vernünftig, wenn Denise ihren Mann nicht so lange allein lassen will.«

Herr de Verneuil fügte hinzu:

»Nun, mein Kind, du wirst uns bald wieder besuchen!«

René aber machte verschmitzte Augen:

»Wer weiß, Schwesterchen, zu welcher Gelegenheit! Ich sage nichts, aber wer weiß!«

Damit schien die Sache abgetan. Keine Aufforderung, länger zu bleiben, kein Bedauern, daß die schöne Zeit so schnell vorüber sei. Das wurmte Denise, und sie sagte sich in einem gewissen Trotz: ›Nun, mich seht ihr nicht sobald wieder! Ich gehe zurück nach Montmidi, ich will euch schon nicht zur Last fallen, aber ihr sollt einmal sehen, wenn ihr mich dann nach Jahren ruft, daß ihr die Bauersfrau euren Bekannten zu zeigen euch schämt. Und schuld seid nur ihr daran, ihr allein!‹

Doch als nun die Abreise nahte, war sie weich. Der ganze Schmerz kam über sie, Paris, das herrliche Paris wieder verlassen zu müssen. Sie dachte mit Schrecken an Montmidi und die einsamen Abende mit ihrem Mann, an denen kaum ein Wort gesprochen wurde. Sie dachte an die Unterhaltung über den üblichen Gang durchs Revier, über das Gedeihen der Gemüse, der Artischocken und Tomaten. Sie dachte an des Dieners schmutzigen Rock und sein verwahrlostes Äußeres. Und wie so auch das Bild Roberts vor ihren Augen stand, sah sie mit einem Male das Gesicht des Herrn in der Avenue de l'Opéra, des großen, so wundervoll gekleideten Mannes, mit dem Bande der Ehrenlegion, der scharfen Nase, dem Schnurrbart, der Fliege am Kinn, wie er den Hut gezogen und sie frech angeredet hatte. Und es war ihr, als versinnbildlichten diese Keckheiten Paris, aber als wäre es trotz alledem besser als das stumpfe Hinbrüten und das Daseinversielen in dieser einsamen, traurigen kleinen Villa.

Als es an den Abschied ging, hatte sie Tränen in den Augen. Nicht Tränen darüber, daß sie die Mutter verlassen mußte, die ihr noch zuletzt beiläufig mitteilte, daß sie in den nächsten Tagen ein Diner geben würden. Warum hatte man das nicht gegeben, während die Tochter im Hause war?

Sie war nicht traurig, ihren Vater zu verlassen, der, trotz der vertrauensvollen Stunde – Gott weiß, wie sie ihm gekommen war – nie wieder über ihre Armut gesprochen hatte. Nur für ihren Bruder hatte sie beim Fortgehen ein Wort:

»René, ich wünsche dir viel Glück für deine Pläne!«

Aber es klang etwas wie Bitterkeit, fast Neid daraus.

Er war so mit sich selbst und seinem kommenden Millionenglück beschäftigt, daß er nur antwortete:

»Danke, danke, Schwesterchen, wir werden die Sache schon machen!«

Dann stieg sie mit der Amme und ihrem Kinde in den Wagen, und diesmal brachte sie der Vater an die Bahn, denn Frau de Verneuil hatte dringend zu tun – dringend zu tun, sie, die immer über Langeweile klagte.

Noch einmal auf der Fahrt sah sie das ganze Leben von Paris. Es war am Morgen. Die Geschäftsleute gingen ihrem Berufe eilig nach, Omnibusse standen vor den Bureaus, luden ihre Last ab oder nahmen neue Menschen auf. Geschäftswagen mit Riesenreklameschildern fuhren hin, hübsche kleine Modistinnen, einfach und doch so voller Anmut, trippelten des Wegs. Laut ertönten die Stimmen der Händler und der bunten Schar der Straßengewerbetreibenden, die eigentümlichen Rufe von Paris. Das gesungene »Vitrier« des Glasers, das monotone Aufmerksammachen der Strohstuhlflechter, der Scherenschleifer, das Ausrufen der Obsthändler. Von einem kleinen Handwagen voller Veilchen, den anpreisend der Verkäufer durch die Straßen zog, schlug ihr der Frühlingsduft entgegen, und in diesem Augenblick war es ihr, obgleich draußen in Montmidi die Natur zu dieser Stunde genußreicher duftete und blühte, als gäbe es Veilchen nur in Paris, als gäbe es Glück nur in der Riesenstadt, als gäbe es Frühling, Lenzesfreude, Leben und Daseinsgenuß nur hier, und als führe sie hinaus in die Verbannung.

Ihr Vater war im letzten Augenblick herzlich. Es schien, als erwache er, und er drückte ihr noch einen Kassenschein in die Hand und sagte verlegen:

»Mein Kind, sei mir nicht bös, daß es nicht mehr ist, aber ich habe für deine Mutter wieder einige Rechnungen zahlen müssen, und dann, weißt du, müssen Renés Verhältnisse doch jetzt geordnet werden, daß ihm die Sache nicht entgeht. Er hat dir's wohl angedeutet. Und, meine kleine Denise, das ist vorderhand das Wichtigste. Dein Papa denkt auch noch einmal an dich, aber weißt du, in diesem Augenblick ... – Na, kurz, also lebe wohl, grüße deinen Mann und schreibe mir mal. Zu euch jetzt kommen, geschieht wohl am Ende besser nicht. Du kommst lieber mal bald wieder, kannst mir ruhig schreiben, du weißt, daß ich dir das Reisegeld schicke, das geht schließlich noch!«

Dann küßte er seine Tochter auf beide Wangen, kniff die kleine Lucy mit einer väterlichen Bewegung mit zwei Fingern in die Backe, daß sie sofort leise zu weinen begann, winkte mit der weißbehandschuhten Rechten, deren Finger er starr und steif ausstreckte, nahm den Stock in die Hand, die goldene Krücke nach unten, und ging schlank, elegant in seinem wiegenden Boulevardiergang davon.

Denise aber lehnte sich in die Coupé-Ecke, und still und heimlich, denn es saßen noch zwei Damen mit in demselben Abteil, tupfte sie sich mit dem Taschentuch die Augen, während sie in die weite grüne, von weißen Häusern besäte Ebene hinaussah, in der Paris lag, das Paris, das einzige Paris, das jetzt immer weiter hinter ihr verschwand.


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