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Dreizehntes Kapitel.
Herrn Flemyngs Dahlien

Es gibt Leute, die, sobald sie entdecken, daß sie in Gefahr sind, sich ernstlich zu verlieben, mit lobenswerter Klugheit nach den Konsequenzen fragen, und die, wenn sie den Traualtar und den häuslichen Herd am Ende der holden Brautzeit sehen, mit sich zu Rate gehen, ob sie sich weiter einlassen oder sich nicht lieber zurückziehen sollen, solange sie die Wahl noch in Händen haben. Solche Leute haben aber selten einen Tropfen südlichen Blutes in ihren Adern. Claud plagte sich nicht mit solchen nüchternen Berechnungen. Die Ehe war für ihn höchstens eine unklare Möglichkeit, ein seliger Traum, den mit so prosaischen Dingen, wie Ausstattungen, Möbeln, Mitgift u. s. w. zu verbinden ihm wie eine Entweihung erschienen wäre. Das Wesentliche an der Sache war, daß Nina ihm teurer geworden war als die ganze Welt, und daß also von ihr allein sein Glück oder Unglück abhängen konnte.

Selbstverständlich brachte er einen großen Teil seiner Zeit in dem »Hause mit dem Graben« zu, wo seine Aufnahme nach den jeweiligen Stimmungen seiner launenhaften jungen Herzensgebieterin abwechselte. Jedenfalls war er eines aufrichtigen Willkommens gewiß: Der alte Flemyng nämlich hatte sich innig an den jungen Mann angeschlossen, rote Familienväter es öfter bei jungen Leuten mit angenehmen Aussichten zu thun pflegen, und bat ihn oft, sich in jeder Beziehung als zur Familie gehörig anzusehen, wie denn auch jederzeit sein Platz an der Familientafel ihm reserviert sein sollte. Eine allgemeine Einladung ist nach gewöhnlicher Auffassung gar keine Einladung; Claud indessen hatte weder so eine engherzige Ansicht von Herrn Flemyngs Gastfreundlichkeit, noch ermangelte er, unter einem oder dem anderen Vorwand der an ihn ergangenen Einladung nachzukommen. In Wahrheit speiste er zu dieser Zeit beinahe ebensooft in Flemyngs Haus wie in seinem eigenen, woran ihn auch niemand hinderte, da Gervis es sich zur Regel gemacht hatte, die etwaige Abwesenheit eines Hausgenossen unter keinen Umständen zu bemerken.

Bei einem dieser Besuche (kurze Zeit nach Glymnos Besuch bei Gervis) fand Claud seinen alten Freund in einem Zustand ungewöhnlicher Erregung. Seine Wangen glühten, das weiße Haar hing ihm ungebürstet um den Kopf, mit großen Schritten und ärgerlichen Gesten durchmaß er das Zimmer.

»Ein verabscheuungswürdiges Verbrechen ist begangen worden,« rief er dem Eintretenden entgegen. »Fünfundzwanzig Jahre habe ich hier am Orte als Richter gewirkt, aber ich sage ohne Besinnen, daß ich in meiner ganzen Praxis einen Fall von so scheußlicher Brutalität und von so teuflischer Erfindungsgabe in Anlage und Ausführung noch niemals erlebt habe. Daß ich selbst das Opfer einer so schauerlichen Gottlosigkeit geworden bin, ist von untergeordneter Bedeutung – danach frage ich nicht. Aber das will ich sagen, daß eine Nachbarschaft, in der solche Unthaten vollführt werden können, unmoralisch ist und notwendigerweise durch den starken Arm des Gesetzes zu ihrer Pflicht zurückgeführt werden muß. Ich bedauere nur von Herzen, daß die uns übertragene Macht uns nicht autorisiert, dem Missethäter eine – eine körperliche Züchtigung zuzuteilen.«

»Wenn wir ihn haben,« fügte Nina ziemlich unempfindlich hinzu.

»Wenn wir ihn haben! Hätten wir nur eine ihren Namen verdienende Polizei, so würde er jetzt schon im Gefängnis sitzen. Wäre ich von dem Vorfalle unterrichtet gewesen, ehe ich heute morgen das Haus verließ, und nicht bis vor einer Stunde ungehörigerweise in Unkenntnis erhalten worden, so ist es mehr als wahrscheinlich, daß ich selbst ihm hätte auf die Spur kommen können. Aber natürlich – die Fußspuren, die zur Ueberführung unschätzbaren Wert hatten, werden sorgfältig weggeharkt, ehe man mich von der Sache in Kenntnis setzt. Menschen, die solcher Stupidität fähig sind, kann man nur als Teilnehmer an dem Verbrechen bezeichnen.«

»Was in der Welt ist denn geschehen?«

»Nun, ein Bösewicht hat sich in der Tiefe der Nacht in meinen Garten gestohlen und den schönsten Teil meiner Dahlien total zerstört.«

Claud war unklug genug, zu murmeln: »Weiter nichts?«

»Weiter nichts? Auf mein Wort – nun wirklich –«

Dies eine Mal waren Flemyngs Gefühle zu tief erregt, um sich in Deklamationen Luft verschaffen zu können. Er konnte nur sprachlos schnaufen und mit den Händen gestikulieren, wie um die höheren Mächte zu Zeugen menschlicher Unempfindlichkeit aufzurufen.

Nina gab Claud einen Wink, und dieser beeilte sich, um Entschuldigung zu bitten und zu versichern, er habe eine ernsthafte Vermögensschädigung für seinen würdigen Freund befürchtet. Flemyng war aber nicht so leicht zufriedenzustellen. Der eigentliche Wert der Blumen, gab er zu, sei nicht sehr groß gewesen, wenn man den gewöhnlichen Maßstab der Marktpreise anlege, obschon sie zu ihrer nunmehrigen Vollkommenheit nicht ohne bedeutende Geldauslagen gebracht worden waren. Aber ihr Wert als Zeugnisse seines Geschmackes und seiner Geschicklichkeit, ihr Wert als harmonische Kombination von Farben, wie sie Herz und Augen aller Beschauer entzückt hatten, kurz, ihr ästhetischer Wert war etwas über alle Schätzung Erhabenes. Nichtsdestoweniger sei es nicht sowohl der ihm zugefügte Schaden, als die Art und Weise, in der er ihm zugefügt sei, die sein Blut kochen lasse. Diebstahl, gab Mr. Flemyng zu hören, könne er verstehen. Der Diebstahl, wenn er auch notgedrungen von den Gesetzen, die die Gesellschaft zusammenhalten, bestraft werden müsse, sei doch ein Vergehen, wofür das philosophische Gemüt mancherlei Beweggründe auffinden könne. Aber hier handelte es sich nicht um einen Diebstahl. Die Blumen waren teils abgebrochen, teils ausgerissen worden, hatten sich jedoch in verschiedenen Teilen des Gartens zerstreut wiedergefunden. Es war nur eine Folgerung möglich: ein Feind mußte es gethan haben.

»Nun frage ich Sie,« schloß Flemyng, »was habe ich wohl einem einzigen Menschen in der ganzen Grafschaft gethan, daß er einen solchen Haß gegen mich fassen konnte? Wen habe ich beleidigt? Wem habe ich nicht, soweit es in meiner Macht lag, Wohlthaten erwiesen? Kann man mir auch nur eine einzige öffentliche oder private Härte oder Ungerechtigkeit nachsagen?«

Mit der Reizbarkeit eines eitlen Mannes fuhr Flemyng fort, die nächsten anderthalb Stunden hindurch diese Frage unter verschiedenen Formen zu behandeln. Es konnte offenbar nur eine Antwort darauf geben; aber ebenso offenbar war es, daß ein böser Mensch existierte, der diese eine wahre Antwort nicht geben würde, und darin lag der Stachel. Flemyngs ganze Denkkraft war von Selbstgefälligkeit so durchzogen, er hatte einen so festen und vollen Glauben an sich und seine Güte und Weisheit, daß irgend ein Beweis von einer entgegengesetzten Ansicht seiner Mitmenschen ihn ebensosehr ärgerte als überraschte. Die bloße Idee, daß eine solche Verderbtheit existieren konnte, war genug – nicht seinen Appetit zu vermindern, das war wohl mehr, als irgend ein Unfall ausrichten konnte – aber doch seine Freude daran zu stören, und so zankte und brummte er denn über das Mittagessen und machte dem aufwartenden Diener in den Pausen zwischen seinen endlosen Herzensergüssen das Leben schwer genug.

Es ist kaum nötig, zu sagen, daß Claud an Flemyngs Dahlien kein großes Interesse nahm. Aber er hatte nicht den mindesten Einwand gegen die hochtönenden Perioden des Philosophen, unter deren Schutz nach den Erfahrungen mancher früheren Abende zwei Menschen, die sich verstanden, sehr wohl Blicke und Worte miteinander wechseln konnten.

So saßen die drei in dem alten eichengetäfelten Speisezimmer, während das Zwielicht in Dunkelheit überging, und waren zufrieden nach ihrer verschiedenen Weise. Ohne Zweifel zog der aufwartende Diener, der das Ganze mit dem ruhigen Auge eines Unbeteiligten überblickte, nicht geringes Amusement aus der verschiedenartig ausgedrückten Thorheit seiner Brotherrschaft. »Kein Narr so groß wie ein alter Narr«, war seine oft angewandte Kritik über seinen Herrn, und was die Bemerkungen anbetrifft, die er über seine junge Herrin zu machen für gut befand, so waren sie so weit von dem schuldigen Respekt entfernt, daß wir sie hier nicht wiederholen wollen.

Wie nicht wenige andere gute Leute wurde Herr Flemyng nach Tische immer von einer unwiderstehlichen Schläfrigkeit geplagt. Claud und Nina ließen ihn also im Bibliothekzimmer sein Schläfchen machen und begaben sich nach jenem einsamen Fleckchen unter der Ceder, wo vor einigen Wochen ihre Freundschaft so schnell zur Vertraulichkeit gereift war. Es war ein stiller, mondheller Abend, und das die Dunkelheit begleitende Schweigen wurde nur durch ein gelegentlich aus der Gesindestube herüberdringendes Gelächter oder durch den scharfen Schrei der Nachtraben unterbrochen.

»Haben Sie je das heftige Verlangen empfunden, jemand anders zu sein?« fragte Nina plötzlich.

»O nein, ich glaube nicht. Sie?«

»Ja, beinahe immer. Augenblicklich zum Beispiel würde ich alles darum geben, wenn ich Sie sein könnte.«

»Da würden Sie einen armseligen Tausch machen. Warum wollten Sie so etwas wünschen?«

»Warum? Weil ich mir vorstelle, daß Sie sich von Herzen Ihres Lebens freuen. Weil ich annehme, daß Sie annähernd glücklich und zufrieden sind, indem Sie hier sitzen. Der Unterschied zwischen uns ist, daß ich es nicht bin.«

Claud sagte, daß ihm das sehr leid thäte, und ob er etwa gehen solle?

»Seien Sie doch nicht so komisch. Sie wissen sehr gut, daß ich mich gern mit Ihnen unterhalte, oder wenn Sie es bisher noch nicht gewußt haben, so hören Sie es jetzt. Sie erinnern sich, wie ich vor einiger Zeit Ihre Gefühle aufs höchste verletzte, indem ich Ihnen sagte, daß ich es liebe, mir die Cour machen zu lassen. Nun, wenn wir uns jetzt nicht die Cour machen, so thun wir jedenfalls, was alle Leute so nennen, und wie Sie sehen, ist das ein recht angenehmer Zeitvertreib. Nur bitte ich Sie, jetzt keine alltäglichen Redensarten zu machen; wie Sie sehen, stehe ich im Begriff, mich zu einem, wie Papa es nennen würde, ›erhabenen Gedankenfluge‹ aufzuschwingen. Ich betrachte das Leben als ein Ganzes, und aus diesem Grunde sage ich: Ich wünschte an Ihrer Stelle zu sein.«

»Ich sehe nicht ein, warum mein Leben als ein Ganzes lebenswerter sein sollte, als das Ihre,« sagte Claud.

»Müßige Frage. Was kann mein Leben, was kann das Leben irgend einer Frau sein? Selbst beim besten Glück (zum Beispiel wenn einen ein Herzog mit dreimalhunderttausend Pfund Renten heiratet) würde uns weiter nichts bevorstehen, als Jahr für Jahr die schrecklichste Monotonie. Ihr Leben dagegen ist Ihr eigen; Sie können damit anfangen, was Sie wollen. Bei Ihren Talenten werden Sie sich bald berühmt machen, und da Sie Geld und Schönheit und ein leidlich angenehmes Betragen dazu besitzen, so wird nichts Sie daran hindern, in London so viele Gesellschaften zu besuchen, wie sie wollen, und auf dem Lande in den besten Familien Aufnahme zu finden. Und wenn Sie eines Morgens aufwachen und die Entdeckung machen, daß Sie sich bei dem allen zu Tode langweilen – was mir wenigstens bald geschehen würde – so haben Sie immer die Möglichkeit, je nach Belieben nach Texas hinüberzufahren und Büffel zu schießen, oder nach Indien, um Wildschweine abzustechen, oder nach den arktischen Regionen, um den Nordpol aufzusuchen. Und sobald Sie der Barbarei überdrüssig sind, können Sie wieder in die Arme der Civilisation flüchten und vornehmen, was Ihnen zu der Zeit gerade behagt. O ja, der Vorteil ist überall und jederzeit auf seiten der Männer.«

»Vielleicht, ja. Aber das Faktum, daß man ein Mann ist, schließt noch nicht eine so absolute Freiheit ein, und was mich anbelangt, so mache ich mir überhaupt aus absoluter Freiheit herzlich wenig. Ich würde keinen Genuß darin finden, gar keine Fesseln zu haben, und ganz gewiß würde es mir leid thun, die zu brechen, die mich hier festhalten.«

»Ich weiß es. Ich fing damit an, daß ich sagte, ich beneidete Sie, weil Sie zufrieden sind. Die Verhältnisse, wie Sie jetzt liegen, befriedigen Sie. Sie verlangen nach nichts Besserem, als zu segeln, zu fischen, Cricket zu spielen, hier in aller Gemütlichkeit mit uns zu speisen und vielleicht vor dem Zubettgehen noch ein paar Verse zu kritzeln. Darin liegt kein Tadel für Sie! Im schönsten Sommerwetter ist das kein schlechtes Leben, und wenn Sie desselben müde werden, so können Sie Ihren Stab weitersetzen und es vergessen.«

»Ich denke, Sie wissen, daß ich die letzten Wochen schwerlich vergessen werde, und meines jetzigen Lebens satt zu werden, könnte mir nie einfallen.«

»Wie? Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie den Rest Ihrer Tage so edlen Beschäftigungen widmen wollen, wie segeln, fischen, Cricket spielen und dergleichen mehr?«

Das zu sagen, war jedenfalls nicht Clauds Absicht gewesen. Was er hatte ausdrücken wollen, war, daß er ihrer, Nina Flemyngs, niemals satt werden könne; aber die Zeit schien ihm noch nicht reif, solche Empfindungen in deutliche Worte zu kleiden. Auch stellte er sich die Wirkung dieser Worte stärker vor, als sie wohl gewesen wäre. Er argwöhnte nicht, daß seine Begleiterin sehr oft viel wärmere Beteuerungen gehört und sie nach ihrem wahren Werte zu schätzen gelernt hatte. Claud war noch sehr jung, und wenn er auch die Welt im geographischen Sinne kannte, so fing er doch erst eben jetzt an, sie in gesellschaftlicher Beziehung kennen zu lernen. So sagte er also weiter nichts als: »Ich wünsche natürlich nicht immer müßig zu gehen. Davon hätte ich bald genug. Aber ich kann mir nicht denken, daß Sie das ausdrücken wollten. Ihre Idee scheint mir zu sein, daß man früher oder später aller Dinge, auch seiner Freunde, überdrüssig wird.«

»So ist es. Das war meine Idee. Es gibt nur eins in der Welt, was niemals schal wird, das ist die Arbeit. Der Mann ist zur Arbeit geboren, und, mögen Sie sagen, was Sie wollen, die Männer lieben die Arbeit. Wenn sie ein Gewerbe, ein Amt haben, so denken sie weit mehr daran, als an irgend etwas anderes. Und haben sie keinen Beruf, so machen sie sich einen, und das ist ihr Leben. Alles übrige ist Nebensache und Zwischenspiel. Wir Frauen aber haben, neun unter zehn, keine Beschäftigung, – denn den Haushalt besorgen und ungezogene Bälge überwachen, nenne ich keine Beschäftigung. So müssen wir uns denn mit allerhand anderen Anregungen behelfen. Es liegt zum Beispiel eine milde Anregung darin, in einem Mann die Einbildung zu erwecken, er sei sterblich in uns verliebt, wenn es auch nicht lange anhält.«

»Haben Sie das schon oft gethan?« fragte Claud mit leiser, zitternder Stimme.

»O ja, sehr häufig,« erwiderte Nina kühl. »Entsetzlich! nicht wahr?«

»Das ist ein ziemlich grausamer Sport,« denke ich.

»Nicht im geringsten, versichere ich Ihnen. Gebrochene Herzen sind ein überwundener Standpunkt, wenn sie überhaupt je existiert haben, und ich zweifle nicht daran, daß, wenn man alle Männer mittleren Alters fragen könnte, je neunundvierzig sich dankbar bezeigen würden, daß sie zurückgewiesen sind, und nur einer es dankbar anerkennen würde, daß er angenommen ist.«

»Nun, sagen wir, auf fünfzig komme einer, der fähig ist, mit ganzer Seele nur einmal zu lieben. Wie aber, wenn Sie mit dem einen zu thun bekommen?«

»Ach, wenn das der Fall wäre! Aber wie könnte ich ihn erkennen? Es wird nicht auf seiner Stirn geschrieben stehen. Das Unglück ist ja eben, daß jeder, der sich verliebt, auf der Stelle denkt, es sei seine erste und einzige Liebe.«

»Daraufhin könnten Sie ihn auf tausenderlei Weise prüfen, was Sie jedenfalls besser verstehen, als ich es Ihnen vorschlagen könnte. Und wäre es nicht möglich, Fräulein Flemyng – vielleicht ist es etwas anmaßend von mir, das anzudeuten – aber wäre es nicht möglich, daß, indem Sie so mit fremden Herzen spielen, Sie einmal Ihr eigenes verlieren könnten?«

»O ja. Der Krug geht so lange zum Wasser –. Diese Chance ist dabei vorhanden, und das vergrößert die Anregung. Trotzdem kann ich mich in die Rolle eines liebekranken Mädchens nicht hineindenken. Ich liebe die Veränderung, das Vergnügen, schöne Toiletten, kurz, alles, was frivole Leute lieben; mit einem Wort – ich fürchte, ich werde niemals ein rechtes Pendant für den idealen jungen Mann abgeben. Und doch –«

Die letzten beiden Silben entschlüpften den Lippen der Sprecherin mit einer gewissen träumerischen und zärtlichen Betonung. Diese ganze Unterredung hindurch hatte überhaupt Ninas Stimme ihre Worte Lügen gestraft, wenigstens für Clauds Ohren.

»Ich wünschte,« hub Claud an. Welchen Wunsch er aber auszusprechen gedachte, wird nie mehr zu ergründen sein; denn Nina unterbrach ihn plötzlich, indem sie die Hand auf seinen Arm legte und ihm zuflüsterte: »Still! Hören Sie nichts?«

Claud horchte. Einen Augenblick war alles vollkommen lautlos. Dann glaubte er in ziemlicher Entfernung ein schwaches Rascheln zu hören. Darauf ließ sich plötzlich ein schnappender, reißender Ton vernehmen, und sofort wußte er, was vorging. »Beim Himmel!« rief er aus, »da ist wieder der Mensch bei den Dahlien!«

»O, das ist ein Hauptspaß!« rief Nina aufspringend. »Jetzt werden wir ihn fangen. Sie gehen diesen Weg, ich jenen. Er kann uns nicht entkommen.«

»Nein, nein!« flüsterte Claud. »Sie dürfen daran nicht denken. Wie könnten Sie einen Mann festhalten? Bleiben Sie, wo Sie sind, und verhalten Sie sich ganz still. Ich unternehme es, ihn zu fassen, und wenn ich rufe, können Sie das Haus alarmieren. Aber ich bitte sehr darum, daß Sie auf keinen Fall eher etwas thun, als bis Sie mich rufen hören. Wollen Sie mir das versprechen?«

»Wie Sie wünschen.« Nina setzte sich wieder. »Aber halten Sie sich nicht länger auf, als unumgänglich nötig ist.«

Ein natürliches Gefühl weiblicher Besorgnis trieb sie an, hinzuzufügen: »Kommen Sie nicht selbst dabei zu Schaden!«

Aber Claud war schon außer Hörweite und die Ermahnung ging ihm verloren. Geräuschlos schlich er sich über den Rasen nach den berühmten Dahliabeeten hin, wobei er die Vorsicht beobachtete, sich zwischen ihnen und der den Graben überdeckenden Brücke zu halten, um den Uebelthäter nicht nach dieser Richtung hin entschlüpfen zu lassen. Der Graben, der nach dem Park zu nicht mehr in seiner eigentlichen Gestalt zu erkennen war, markierte sich auf der Gartenseite noch durch eine alte Ausmauerung von Ziegelsteinen, die in zehn Fuß Höhe steil abfiel – in der Nacht eine gefährliche Lokalität für einen Ausreißer, wie Claud mit innerer Befriedigung dachte. Er schritt auf den Fußspitzen vorwärts, bis er deutlich eine dunkle Gestalt unterschied, die hastig Pflanze für Pflanze herausriß und beiseite warf. Mit einem lauten: »Nun, mein Mann, da habe ich dich ja!« sprang er auf den Delinquenten los.

Clauds erstes Gefühl, nachdem er sich auf den Feind gestürzt hatte, war, daß irgendwie seine Füße einen wuchtigen Stoß erhielten, der ihn auf den Rasen streckte, während der Schall eines schweren, in den Graben springenden Körpers und schnell davonlaufender Füße ihm die unbehagliche Ueberzeugung aufdrängte, daß er den kürzeren gezogen habe. Mit Gedankenschnelle jedoch war er wieder auf den Füßen und eilte durch den Park, da jetzt das Gefühl der allgemeinen Pflicht verstärkt wurde durch den Durst nach Rache. Einen großen Vorsprung hatte der Mensch nicht gewonnen, und nach dem Geräusch zu urteilen, welches seine fliehenden Füße auf dem Moosboden verursachten, war er ein massiv gebauter Mann mit schweren Stiefeln, den ein guter Läufer wohl bald einholen mußte. Da zu Clauds Verdruß kein Mondschein die Nacht erhellte, so, war er auf den Schall jener Füße als einzigen Wegweiser angewiesen. Schon aber war das Ende der Jagd nahe, denn man erblickte bereits die Einfriedigung des Parkes, bestehend aus einen: Drahtgitter und einer Hecke. Durch diese doppelte Einfriedigung stürzte sich jetzt der Mann kopfüber hindurch, durch sie folgte ihm einen Augenblick später Claud nach, aber nur, um sich mutterseelenallein auf der Landstraße zu finden, ohne daß weder für sein Gehör noch sein Gesicht ein weiterer Anhaltspunkt zur Verfolgung vorhanden war.

»Zum Henker!« murmelte Claud, »er kann doch nicht weit fort sein!«

Er sah sich scharf nach rechts und links um, und siehe da, mit den Ellbogen auf den Knieen saß da ganz ruhig auf einer Bank am Wege ein Mann, der sich weder rührte, noch Miene machte, zu entfliehen, als Claud sich ihm näherte. Dieser beugte sich zu ihm nieder und sah ihm ins Gesicht.

»Dachte ich mir's doch!« rief Claud aus. »Auf Ehre, Tom Burvill, Sie sollten sich schämen!«

»Guten Abend, Herr Gervis!« antwortete der andere, mühsam nach Luft schnappend. »Wüßte doch nicht … daß ich was gethan hätte … worüber man sich schämen müßte. Sitze nur hier so … ein bißchen frische Luft zu schnappen … was ich oft abends thue. Hier ist die offene Chaussee … steht jedermann zu Gebote.«

»Na, Tom, wissen Sie, damit fangen Sie mir nicht an. Es war schon schlecht genug, daß Sie Flemyngs Dahlien zerstört und mich zu Boden geworfen haben; aber zu thun, als hätte ich Sie nicht eingeholt und abgefaßt, das ist denn doch zu schlecht. Sie sind ja so außer Atem, daß Sie jetzt noch nicht sprechen können.«

»Herzbeklemmungen … habe schon als Knabe dran gelitten. Weiß von Ihren Dahlien nicht ein Sterbenswörtchen!«

»Nun,« lachte Claud, »wenn Sie diese Geschichte das Gericht glauben machen können, um so besser für Sie.«

»Das Gericht! Als wenn das glaubte, was ein ehrlicher Mann eidlich versichert. Hm! Der alte Flemyng da ist ja wohl auch einer davon, wie? Na, hören Sie mal, Herr Claud, Sie werden doch nach all dem Spaß, den wir miteinander gehabt haben, einen armen Kerl nicht in Ungelegenheiten bringen? Weiter fehlte nichts. Die Gerichte – du lieber Himmel!«

»Ich beabsichtige nicht, Sie in Ungelegenheiten zu bringen, Tom. Im Gegenteil, ich habe sogar vor, Sie diesmal noch laufen zu lassen, obgleich ich das eigentlich nicht thun sollte. Aber erst müssen Sie alles gestehen und müssen versprechen, es nicht wieder zu thun. Natürlich leuchtete mir's ein, daß das ein Racheakt war. Ich habe gehört, was Ihrem Vater neulich passiert ist. Aber Sie hätten doch einsehen müssen, daß Herr Flemyng nur seine Schuldigkeit gethan hat. Und unter allen Umständen war es doch eine ziemlich schuftige Rache, hinzugehen und ihm seine Blumen auszureißen.«

»Na, Herr Gervis, wenn ihm wirklich seine Blumen ausgerissen sind, und wenn ich sie ihm ausgerissen habe, was ich beileibe nicht zugebe, so kann ich nicht anders, als ich muß sagen: es geschieht dem alten Schurken schon recht.«

»Tom, ich kann das nicht mit anhören. Herr Flemyng ist ein respektabler und wohlwollender Gentleman und mein besonderer Freund, und wenn Sie sich über ihn aufhalten wollen, so dürfen Sie es nicht in meiner Gegenwart thun.«

»Na, Ihre Freunde sollen nicht schlecht gemacht werden, wenigstens nicht mehr, als recht und billig ist, denn wenn man von einem Hundeköter spricht, so macht's keinen großen Unterschied, ob man ihn Spitzchen oder Möpschen nennt, es bleibt doch ein Hundeköter. Nach dem aber, was Sie und Ihre Familie für uns gethan haben, wäre es schmutzig, wenn wir Ihre Wünsche nicht beachteten. Bitte also demütig um Verzeihung, daß ich Ihnen vorhin ein Bein gestellt habe, wenn ich's nämlich gewesen wäre, es gibt aber eben Zeiten, wo der Mensch zuerst an seine Sicherheit denken muß. Es war doch immer noch besser, daß ich Sie auf die Erde gelegt habe, als wenn ich Ihnen einen herzhaften Stoß versetzt hätte, wenn ich's nämlich gewesen wäre, was ich damit nicht etwa zugebe.«

»Schon gut, Tom, Sie haben mir keinen Schaden gethan, und ich trage es Ihnen nicht nach.«

»Danke Ihnen recht sehr, Herr Claud, und, wie ich schon sagte, Ihre Güte und was Herr Gervis für uns gethan hat, werde ich nie vergessen, mein Vater auch nicht. Und da der alte Flemyng drüben Ihr Freund ist – und es thut mir leid, es zu sagen, Herr, wenn Sie es mir nicht übelnehmen wollen – so soll er auch nicht mehr molestiert werden, – das heißt, wenn ich es –«

»Lassen Sie die Formel getrost fallen, Tom, wir verstehen uns.«

»Was hat mein Vater denn für Sie gethan? fragte Claud weiter. »Ich glaubte nicht, daß er Sie auch nur dem Namen nach kannte.«

»Himmel! Hat er Ihnen denn nichts davon gesagt? Ich weiß nicht mal, ob's recht ist, daß ich dann darüber spreche. Aber warum auch nicht! Sie werden's nicht weiter umhertragen, Herr. Es war neulich, als der Vater Unannehmlichkeiten hatte wegen des Rebhuhns – ein alter Vogel war's, Herr Claud, und ein so elendes, mageres Ding, daß es eigentlich keinem Menschen gehörte – Sie haben doch sicher die ganze Geschichte gehört. Na, Vater kommt gräßlich niedergeschlagen vom Gericht und macht sich tausend Sorgen, was Mutter und die Kinder in den schlechten Zeiten anfangen sollen, wenn er seine Strafe absitzen muß, als ganz ruhig Herr Gervis hinter ihm herkommt. ›Herr Burvill,‹ sagt er, ›ich kann mir denken, daß Sie sich nicht mit so vielem kleinen Gelde versehen haben, erlauben Sie,‹ sagte er – ganz genau so – und da drückt er ihm das Geld in die Hand. Vater wußte vor Ueberraschung und Verlegenheit nicht recht, was er im Augenblick sagen sollte. Nachher aber sieht er den Gentleman vor seinem Hause stehen und geht zu ihm und sagt ihm, was sich gehört. ›Schon gut, schon gut,‹ sagt Herr Gervis kurz, ›ich brauche keinen Dank. Ich bin hierher gekommen, um mich zu amüsieren, und ich habe einen sehr vergnügten Nachmittag gehabt, da ist's nicht mehr als billig, daß ich mir's auch etwas kosten lasse. Und nun hören Sie mal,‹ sagte er, ›es ist nicht Ihre Aufgabe, die Sache weiter zu erzählen, Sie verstehen mich.‹ – ›Wie Sie wünschen Herr,‹ sagt Vater, ›es bleibt zwischen uns. Wenn wir aber auch nicht davon sprechen dürfen, soll's doch nicht vergessen werden. Und heute abend werden wir Ihre Gesundheit trinken,‹ sagt mein Vater. Herr Gervis sieht meinen Vater so ganz besonders an und sagt: ›Sie sind ein übelberüchtigter Mensch, Burvill; ich fürchte, daß Sie noch einmal gehängt werden, wenn Sie lange genug leben,‹ sagt er. ›Aber bleiben Sie nur dabei, die Gesundheit Ihrer Freunde zu trinken; wer weiß, vielleicht retten Sie sich dadurch noch vom Galgen.‹ Das waren seine Worte: ›Bleiben Sie nur dabei, die Gesundheit Ihrer Freunde zu trinken; wer weiß, vielleicht retten Sie sich dadurch noch vom Galgen.‹ Hahaha! Sie sollten sich das von Vater erzählen lassen. Man möchte vor Lachen bersten.«

Claud fühlte, daß er den Witz, der die Burvills so sehr gekitzelt hatte, wohl anhören konnte, ohne von einer solchen Katastrophe bedroht zu werden. Dennoch lachte er, teils aus Gefälligkeit, teils, weil ihm die Geschichte wirklich Vergnügen machte. »Wie ähnlich sieht das dem Vater,« dachte er. »Immer hilft er dem Mangel anderer auf; aber er bekommt keinen Dank dafür, weil er nicht selbst seinen Ruhm in die Welt hinaustrompetet. Ich muß das doch Gen erzählen.«

Darauf fuhr Tom fort unter zeitweiliger Anwendung seiner Sicherheitsklausel zu erzählen, wie ein brennendes Verlangen, »mit dem alten Flemyng abzurechnen«, ihn getrieben habe, an den harmlosen Dahlien Rache zu nehmen. Er bequemte sich zu einer mäßigen Reue wegen seiner Vergehungen und verpflichtete sich, da er aller zukünftigen Ahndung derselben entgehen sollte, durch ein feierliches Versprechen, in Zukunft alle solche Gesetzwidrigkeiten zu unterlassen. Es ist beschämend, aber es muß hinzugefügt werden, daß der Missethäter schließlich noch ein Stück Geld bekam, um die Gesundheit seines Detectives zu trinken.«

So machten die beiden sich bereit, unter freundschaftlichen Gefühlen voneinander Abschied zu nehmen. Ehe er aber »gute Nacht« sagte, hielt Tom es für angebracht, seinem Wohlthäter einen wohlgemeinten Rat zu geben.

»Bitte um Verzeihung, Herr Claud, ich hoffe, es ist doch da nichts zwischen Ihnen und der jungen Lady?«

»Seien Sie nicht impertinent, Tom,« sagte Claud gutgelaunt.

»Das will ich nicht sein, Herr Claud. Aber nehmen Sie mein Wort darauf, Herr, an den Flemyngs ist kein gutes Haar. Wir Fischersleute wissen mehr, als Sie denken, und diese Nina, Herr, das ist eine freche Dirne, darauf können Sie sich verlassen. Sie ist zu sehr von den Männern im allgemeinen eingenommen, um es lange mit einem zu halten, sei er nun jung oder alt, verheiratet oder unverheiratet. Heute ist's der, morgen ist's jener. Voriges Jahr war es Sir Frederick, jetzt sind Sie es, Herr Claud. Bitte um Verzeihung. Ich wollte Sie nicht beleidigen, ich dachte nur, es wäre meine Schuldigkeit, Ihnen Vorsicht anzuempfehlen.«

Es ist selbstverständlich, daß Claud seinen übereifrigen Ratgeber zur Ordnung verwies. Dennoch hatte diese ungeschliffene Warnung in Verbindung mit Ninas eigenen Bekenntnissen die Wirkung, seine frohe Laune etwas zu dämpfen. In ziemlich nachdenklicher Stimmung wanderte er nach dem Hause zurück, um anzuzeigen, daß es ihm nicht gelungen sei, den Dieb zu ergreifen.

Nina, der die Zeit im dunklen Garten lang geworden war, hatte sich nach dem Bibliothekzimmer begeben, wo Claud sie mit ihrem Vater zusammen fand. Es war also unumgänglich, daß Flemyng auch etwas von den Ereignissen des Abends erfahren mußte, und dieser war aufs äußerste entrüstet, daß der Missethäter entschlüpft war.

»Ich werde weder Geld noch Mühe sparen, ihn der Gerechtigkeit zu überliefern,« rief er zornig. »Morgen abend werde ich zwei Polizisten im Garten aufstellen.«

Claud sagte, er halte dies für einen ausgezeichneten Plan, und verabschiedete sich dann, freilich mit dem klaren Bewußtsein, daß sein magerer Bericht Nina durchaus nicht befriedigt hatte, und daß er am folgenden Tage ihr würde die ganze Wahrheit gestehen müssen.



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