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Erstes Kapitel.
Zwei junge Männer

Es war an einem sonnigen Julinachmittage, als ich wieder einmal zu einem Besuche bei meiner Großmutter in Beachborough anlangte. Viele Leute verschreien Beachborough als ein klatschsüchtiges, langweiliges Nest an der Seeküste; ich aber kann es nicht ganz in diesem Lichte ansehen, fühle mich vielmehr besonders von dem Orte angezogen und statte ihm und meiner ihn bewohnenden Großmutter, so oft ich kann, einen Besuch ab. Beachborough, mit seiner frischen Seeluft, seinen angenehmen Spaziergängen und seiner eigentümlichen Gesellschaft ist mir ans Herz gewachsen. Und wenn auch diese Gesellschaft mich zumeist durch eine nicht gerade maßvolle Klatschsucht unterhält, so muß ich als Beobachter der menschlichen Natur, doch im voraus betonen, daß ich nie ein Wort von dem glaube, was von männlichen oder weiblichen Lippen mir über einen anderen gesagt wird.

Sobald ich mich also von meiner Großmutter, der vortrefflichen Frau Knowles, losmachen konnte, begab ich mich nach dem Billardzimmer des Klubhauses und setzte mich dort in aller Gemütlichkeit auf eine der lederbezogenen Bänke. In weniger als fünf Minuten hörte ich dann, daß Lord Lynchester einen Ausflug aufs Land gemacht habe mit einer gelbhaarigen Dame (die ganz sicher nicht Lady Lynchester gewesen sei), daß Pilkington von Somerley seit drei Jahren keine Rechnungen mehr bezahlt habe, daß Lushington nicht zwei Stunden des Tages mehr nüchtern sei und daß der junge Sir Frederick Croft das Herz seiner Mutter gebrochen habe, indem er sich mit einem Fräulein Lambert verlobte, einem »ordinären Mädchen ohne Familie«, das ihm nach Beachborough gefolgt war und schlechterdings darauf bestand, daß er sie heiraten sollte.

Soeben hatte ich diese letzte Neuigkeit vernommen, als der junge Mann in das Zimmer trat. Da der Leser im Laufe dieser Erzählung noch oft von ihm hören wird, so ist eine kurze Beschreibung seiner Persönlichkeit vielleicht nicht unangebracht. Ob je Freddy Croft als »hübsch« bezeichnet worden ist, weiß ich nicht, aber das weiß ich, daß kein Fremder ihn je anders als »anziehend« gefunden hat. Das Wort »anziehend« scheint auf ihn besser zu passen als jedes andere. Wer sollte auch nicht angezogen werden von einer kräftigen, wohlgebauten Gestalt, lachenden, blauen Augen, kurzgeschnittenem und dennoch lockigem blondem Haar, und einem halb unschuldigen, halb mutwilligen Ausdruck im Gesicht eines Jünglings, der einem wie die Verkörperung der Jugend erscheinen mußte? Freddy schritt in das Zimmer, mit einem Zahnstocher beschäftigt, stand mit weitgespreizten Beinen einen Augenblick da und sah den Billardspielern zu, wurde dann aber meiner Person ansichtig und rief sogleich: »Beim Himmel! da ist unser alter Knowles. Wie geht es Ihnen denn, alter Knowles? Es wäre ja auch gar nicht Beachborough, wenn Sie nicht irgendwo zum Vorschein kämen!«

Ich erzählte ihm, daß ich erst heute von London herübergekommen sei, und erkundigte mich nach dem Befinden der Lady Croft.

»O, meine Mutter ist ganz wohl,« antwortete der junge Mann, dessen Stirn aber trotz dieser Versicherung von einer Wolke getrübt wurde. »Sie ist hier und meine Schwester Florry auch. Aber wissen Sie was, wir könnten ein wenig auf der Esplanade umherwandeln. Es kann Ihnen keinen Spaß machen, an einem schönen Sommernachmittage in der dumpfen Stube zu sitzen.«

Allerdings war es draußen angenehmer als drinnen. Eine frische Brise jagte weiße Wellen über die Bucht; die bewaldeten Hügel westlich von der Stadt lagen halb im Schatten, halb im Sonnenschein; das Musikcorps spielte auserlesene Melodieen aus dem »Glöckchen des Eremiten« und Einheimische und Fremde gingen langsam auf und nieder. Wir schlossen uns der Menge an. Dabei vergnügte sich denn mein Begleiter damit, auf Kosten der Vorübergehenden boshafte Witze loszulassen, die er selbst so herzlich belachte, daß es von einem Ende der Esplanade bis zum anderen zu hören war. Die Vorübergehenden lächelten ihm gutmütig zu, wenn schon der jeweilige Gegenstand seiner Heiterkeit schwer zu verkennen war, da mein junger Freund mir sehr ungeniert Winke mit dem Ellbogen gab oder wohl mit der Stockspitze auf die eben durchgehechelte Persönlichkeit wies. Beachborough gibt freilich sehr viel auf das »Dekorum«; aber ein Baron mit ausgedehnten Besitzungen ist eine bevorzugte Person und kann sich schon mehr erlauben als andere Staubgeborene, denen man das Unschickliche ihres Betragens wohl zu verstehen gegeben hätte.

Mir machte es großen Spaß, den offenherzigen Bemerkungen meines Gefährten über die vorübergehenden Herren und Damen zuzuhören. Erst als zwei völlig fremde Damen in Sicht kamen, wurde ich auch meinerseits zu einiger Kritik angeregt.

»Wer in aller Welt kann denn das herausstaffierte alte Weib sein?« fragte ich nicht sehr vorsichtig; »die junge Dame mit dem merkwürdigen Teint und der schön geformten Büste ist ohne Zweifel ihre Tochter. Ob die wohl Absichten haben auf die einheimische oder die zugezogene Bevölkerung?«

Freddys Gesicht verfärbte sich ein wenig.

»O, das sind die Lamberts!« sagte er. »Schrecklich liebenswürdige Menschen. Ich werde Sie vorstellen, wenn Sie wollen.«

So war also dies das »ordinäre Mädchen ohne Herkunft« und ihre Mama! Ich erhielt eine Verbeugung oder besser ein Kopfnicken von jeder der Damen, als ich ihnen vorgestellt wurde, weiter aber beachteten sie mich nicht, drängten sich vielmehr sofort um meinen Begleiter und legten in etwas auffälliger Weise Beschlag auf ihn.

»Wir haben Sie überall gesucht, Sir Frederick!« sagte die ältere vorwurfsvoll. »Ich fürchte, Sie vergessen Ihre Versprechungen sehr leicht.«

»Niemals, Frau Lambert, ich schwöre es Ihnen. Aber ich konnte doch nicht gut überall sein. Hätten Sie sich auf der Esplanade nach mir umgesehen, wo wir uns treffen wollten, so hätten Sie gesehen, wie ich durch Herrn Knowles' Brille Sie vergeblich am ganzen Horizont suchte. Nicht wahr, Knowles? Ich stehe und suche hier schon volle drei Viertelstunden.«

»O, Sir Frederick, Sir Frederick! Wir verabredeten, uns am Ende des Hafendammes zu treffen, wie Sie sehr gut wissen. Aber vielleicht haben Sie sich noch mit jemand anderm verabredet, und wir sind Ihnen dabei im Wege? Sollen wir nach Hause gehen, Kate, und ihn allein lassen?«

»Unsinn, Mama!« erwiderte Fräulein Lambert munter. Sie war entschieden eine hübsche junge Dame, wenn sie auch augenscheinlich auf künstliche Weise den Reizen nachgeholfen hatte, die die Natur ihr gütigst verliehen. »Wohin sollen wir gehen?« wandte sie sich an meinen jungen Freund, der sie bewundernd anblickte. »Sollen wir nach dem Hafen gehen und die Jacht besichtigen, die heute nachmittag eingelaufen ist? Ich wünschte sehr, sie näher zu sehen, und von der ewigen Musik habe ich mehr als genug.«

»Mir Recht,« antwortete Freddy lakonisch.

So schritt das junge Paar kaltblütig voran und überließ es mir, mit der Duenna hinterher zu kommen. Mir lag durchaus nichts daran, mit Frau Lambert zu gehen, noch schien ihr daran zu liegen, mit mir zu gehen. Indessen kann man in dieser Welt nicht immer seinen Umgang wählen, und es schien mir doch ungezogen, wenn ich hätte wollen kehrt machen und die Frau allein gehen lassen. Außerdem bin ich nicht leicht zu langweilen und kann mich ebensogut damit unterhalten, alte Frauen zu beobachten wie junge Mädchen. Diese hier gehörte zu der Art, wie sie in Badeörtern aus der Erde schießen. Sie trug eine Unzahl Armbänder, eine breite goldene Halskette, viel zu enge blaßgelbe Handschuhe, die auf den Knöcheln nicht ganz sauber waren; sie bewegte sich langsam und majestätisch und ließ ihr Kleid im Staube nachschleppen. Mich behandelte sie ziemlich von oben herunter und gab ihren Worten häufig Gewicht durch Beziehungen auf den hohen Adel. Ich jedoch, der ich es mir zur Regel gemacht habe, mich in meiner Unterhaltung nach meiner Gesellschaft zu richten, hörte nicht so bald ihre teure Freundin, Lady So und So, erwähnen, als ich von meiner Tante, der Gräfin Dingsda sprach, und als sie den Lord X. nannte, da trumpfte ich sie mit dem Herzog Y. ab. Sie schaute mich mit offenbarem Mißtrauen an und ich gab ihr ihren bösen Blick mit Zinsen zurück. In dieser angenehmen und freundschaftlichen Art kamen wir langsam vorwärts und erreichten endlich den Quai, neben dem die schöne »Sirene« lag.

Freddy, der vom Schiffbau ungefähr so viel versteht wie vom Sanskrit, bog sich mit unnatürlich weiser Miene hinüber, um die Jacht in Augenschein zu nehmen. Fräulein Lambert rief mit lauter Stimme: »Was für ein allerliebstes weißes Deck! Und was für eine reizende breite Treppe! Ich muß wissen, wem das Fahrzeug gehört. Den Mann möchte ich kennen lernen. Rufen Sie den Menschen dort, Sir Frederick, und fragen Sie ihn, wer sein Herr ist!«

»Nehmen Sie sich in acht!« sagte Freddy in ziemlich unbehaglicher Stimmung. »Man wird Sie an Bord hören.«

»Nun, und wenn man mich hört? Man wird doch nicht gleich herauskommen und mich beißen? Ich werde selbst fragen, wenn Sie zu schüchtern sind. Heda, Sie, wie heißt denn Ihr Herr eigentlich?«

Der wettererprobte, gutmütig aussehende Matrose, den sie so ohne Umstände anrief, besah sich seine hübsche Fragestellerin mit humoristischer Bewunderung, legte den Finger an seine goldbesetzte Mütze und antwortete: »Herr Gervis, Fräulein!«

»Jervis, Jervis,« rief Frau Lambert mit noch lauterer und tieferer Stimme als ihre Tochter. »Ich kenne Lord Castlecourts ganze Familie, aber die nennen sich doch Jarvis. Dann sind da die Jervoises von –«

Weiter kam Frau Lambert nicht; denn während sie sprach, erschien ein junger Mann auf der breiten Treppe, der – es war nicht zu verkennen – ihre lauten Betrachtungen gehört hatte.

»Wir schreiben unsern Namen mit einem G,« sagte Gervis, gelassen. »Vielleicht hilft Ihnen das auf die richtige Fährte.«

Ich hoffe, daß Frau Lambert sich nach dieser Eröffnung nicht weniger verlegen fühlte, als ich. Der unangenehmen Lage wurde aber ein schnelles Ende gemacht durch Freddys lebhaften Ausruf: »Beim Himmel! Das ist er selbst! Ich war schon neugierig, ob du es nicht am Ende wärest! Gervis! alter Junge, kennst du mich nicht?«

»Ei, ich glaube gar, das ist der kleine Croft!« rief der andere nach kurzem Zögern.

»Natürlich ist er's. Wo in aller Welt hast du dich denn die langen Jahre hindurch umhergetrieben? Kein Mensch scheint einen Laut von dir gehört zu haben, solange du von Eton weg bist. Ich glaubte, du müßtest tot sein – wirklich, das dachte ich.«

»O, ich bin im Ausland gewesen,« antwortete der Besitzer der Jacht, der jetzt an das Ufer gekommen war, und während er und sein früherer Schulkamerad sich die Hand reichten und ihre Erlebnisse besprachen, hatte ich Zeit, seine »Identität festzustellen.«

Es hatte bis vor kurzem in Beachborough ein alter Oberst Gervis gelebt. Außer meiner Großmutter aber, glaube ich, war niemand im Orte bekannt genug mit ihm gewesen, um auch nur je ein Wort mit ihm zu wechseln. Er war eine schreckeneinflößende und etwas geheimnisvolle Persönlichkeit. Alles, was Beachborough von ihm wußte, war, daß er ein sauertöpfischer, übellauniger alter Herr war, der sich mit allen seinen Freunden gezankt hatte und nunmehr in vollständiger Einsamkeit auf Southlands, seiner Besitzung hinter der Stadt, wohnte, deren Parkgitter er äußerst selten durchschritt und noch seltener einem anderen Menschen öffnete. Alle möglichen Geschichten waren im Umlauf über seine excentrischen Gewohnheiten, seinen, wie man annahm, unendlichen Reichtum und dergleichen mehr; was die Leute aber am meisten interessierte, das war die Frage, wer einmal sein Erbe sein würde. Es verlautete, daß der alte Herr noch einen Halbbruder am Leben habe, und auch über diesen mutmaßlichen Erben waren allerlei merkwürdige Gerüchte im Umlauf. Einige behaupteten, er sei nichts Schlimmeres als ein »Kosmopolit«, der aus Gesundheitsrücksichten seinen Wohnsitz außerhalb Englands aufgeschlagen habe. Die Mehrheit jedoch neigte zu der Ansicht, daß, wenn er nicht gerade wegen schwerer Verbrechen Landes verwiesen sei, doch seine Schuldenlast ihn zur Flucht gezwungen hätte.

Zur Zeit, wo diese Geschichte anfängt sich abzuspielen, war Oberst Gervis schon einige Monate begraben. Ich war während dieser Monate nicht in Beachborough gewesen; dennoch brachte die Trauerkleidung des jungen Besitzers der Jacht mich auf den Gedanken, daß in ihm wohl endlich ein Verwandter des alten Gervis auf der Bühne erscheine. Dieser Gedanke wurde sogleich über allen Zweifel erhoben durch folgende Bemerkung Freddy Crofts, die ich deutlich verstehen konnte: »So bist du also hergekommen, um die Erbschaft von Southlands anzutreten?« worauf der Gefragte erwiderte: »Nun, wenigstens will ich versuchen, die Dinge dort einigermaßen in Ordnung zu bringen.«

Frau Lambert, die das Gespräch der beiden Freunde begierig angehört hatte, flüsterte mir zu: »Das ist also der Erbe jener reizenden Besitzung? Wie schön ist er – finden Sie das nicht auch? Und so – so fremdartig und ausländisch sieht er aus!«

Die gute Dame vergaß so völlig ihr hochtrabendes Wesen gegen mich, daß ich sogleich denken mußte, sie habe wohl noch mehr heiratsfähige Töchter unterzubringen. Aber auch ich mit meinen unbefangenen Augen konnte ihre Meinung über Claud Gervis nur bestätigen. Es war ein solches Modell männlicher Schönheit, wie es nur selten zu finden ist. Nur in Rom findet man Gesichter, dem seinen ähnlich: Gesichter mit so regelmäßigen Zügen, so sanften dunklen Augen, so angenehmen ovalen Formen und so heller brauner Farbe. Was man aber nicht so leicht finden würde, das war die frische, ausdrucksvolle Lebendigkeit, die jeden auf Claud Gervis aufmerksam machte, und seine schlanke, geschmeidige Gestalt. Der ganze Mensch fiel mir auf und interessierte mich. Er hatte den Kopf eines Italieners; Glieder, Bewegungen und Kleidung aber waren die eines Engländers. Er sah aus, als stamme er aus beiden Ländern – und das war so sehr überraschend nicht, denn dem war in der That so.

Wir kehrten bald nach der Seeküste zurück, die drei jungen Leute voranschreitend, ich mit meiner alten Dame, deren Gesellschaft mir herzlich langweilig wurde, hinterher schlendernd. Bald jedoch schloß der neue Ankömmling, wahrscheinlich um nicht ein Liebespaar in seinen Gesprächen zu stören, sich an uns an. Frau Lambert hatte sich schnell von dem Schrecken erholt, den die Art ihrer Einführung bei diesem begehrenswerten Jüngling ihr verursacht hatte, und sie machte sich denn sofort mit ihm zu schaffen.

»Es freut mich so sehr, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Herr Gervis«, lächelte sie ihm zu. »Denn wissen Sie, solange wir hier in Beachborough sind, haben wir uns immer danach gesehnt, Ihre wunderschöne Besitzung einmal recht gründlich zu besichtigen. Da Sie nun gekommen sind, hoffe ich, werden Sie auch recht liebenswürdig sein und uns in Ihrem Hause und Garten herumführen. Auf Blumen bin ich förmlich versessen, auf Blumen – auf Gesträuche – und auf –«

»Auf – Rasen!« schlug der junge Mann vor. »Die drei findet man gewöhnlich in einem englischen Garten, ich glaube also wohl, daß sie in Southlands auch zu finden sein werden. Es kann aber wohl auch sein, daß gar kein Garten vorhanden ist. Ich weiß es selbst noch nicht, denn ich bin noch nie hier gewesen.«

»Wirklich? Also Ihr erster Besuch auf Ihrem Grund und Boden? Wie es Sie drängen muß, Ihr zukünftiges Daheim zu sehen! Der jüngstverstorbene Besitzer war ja wohl Ihr –«

»Mein Oheim – ganz recht. Er war der Halbbruder meines Vaters, der der gegenwärtige Besitzer des von Ihnen so sehr bewunderten Hauses ist. Ich bin herübergekommen, um die Vorbereitungen für seine Ankunft zu treffen.«

Oh! Frau Lambert konnte nicht umhin, eine leise Enttäuschung durchblicken zu lassen. Bei näherer Ueberlegung aber faßte sie sich wieder. »Sie sind ja wohl der einzige Sohn, nicht wahr?«

Der junge Mann lachte recht herzhaft. »Bis jetzt bin ich es; aber ich habe eine Stiefmutter, wie Ihnen vielleicht bekannt ist. Ich ahnte gar nicht, daß die Leute in Beachborough so viel über uns wußten.«

Damit wandte er sich von ihr ab und redete mich an.

»Ich habe einen Brief meines Vaters an Frau Knowles bei mir,« sagte er. »Könnte ich ihr vielleicht morgen einen Besuch abstatten? Er sagte mir, sie sei eine sehr alte Freundin seines Hauses und ich solle sie so schnell als möglich aufsuchen.«

»Kommen Sie heute abend,« erwiderte ich herzlich; denn es bot sich mir dadurch die Möglichkeit, der schrecklichen Frau Lambert zu entgehen. »Meine Großmutter wird entzückt sein, Sie zu sehen.«

»Aber ist es denn nicht zu spät?«

»Ei bewahre. Von hier bis South Crescent ist nur ein paar Minuten Weg. Adieu, Frau Lambert. Guten Abend, Freddy!«

Damit zog ich meinen neuen Freund mit mir hinweg und ließ ihm nicht einmal so viel Zeit, um sich zu entschuldigen. – –

Meine Großmutter, die gute alte Seele, steht von allen Seiten im Rufe einer sehr unliebenswürdigen Persönlichkeit. Wenn ich für meine Person nun auch guten Grund habe, ihr Bellen für schlimmer zu halten, als ihr Beißen, und wenn ich auch weiß, daß es wenige Herzen gibt, die so gütig, und wenige Hände, die so freigebig wären, wie die ihrigen, so kann ich doch nur zugeben, daß sie in einem gewissen Grade ihren Ruf verdient hat. Man kann ja wirklich von niemandem erwarten, sehr dankbar dafür zu sein, daß er nicht gebissen worden ist, wenn er doch die Unannehmlichkeit durchmachen mußte, sich mit aller Schroffheit anbellen zu lassen.

So brachte ich eines Tages einen Freund zu ihr, der eben im Begriff war, eine Reise um die Welt zu machen. Ich hoffte, die gute alte Dame würde sich für ein so kühnes Unternehmen begeistern, hatte aber dabei vergessen, daß mein Bekannter zu einer Sorte Menschen gehörte, die bei meiner Großmutter nicht beliebt war. Er war nämlich einer von jenen eleganten,, blasierten jungen Herren, zu denen jetzt im 19. Jahrhundert die Mehrzahl unserer Aristokratie gehört.

»So, Sie wollen eine Reise um die Welt machen, Baron?« fragte Frau Knowles mit einem Tone in ihrer Stimme, der mir Unheil verkündete, nachdem sie vorher einen langen Blick auf das pfirsichblütenfarbige Beinkleid meines Bekannten, auf seine ausgeschnittenen Glanzlederschuhe und auf seine rot und weiß gestreiften seidenen Strümpfe geworfen hatte.

»Ja, ja … hm … Indien zuerst … bißchen Jagd vielleicht, so was … ja, dann Japan … sehr interessantes Land … dann China … wundervoll, Pagoden, Bonzen …,« sagte mein Freund müde und drehte seinen goldenen Stockknopf nachlässig in der linken Hand, während er mit der rechten sein Monocle kunstvoll von einem Augenwinkel in den anderen schleuderte.

»Oh, gehen Sie nicht nach China!« sagte meine Großmutter ernst und anscheinend tief bewegt.

»Ah, weshalb? …« murmelte mein Freund, während ein schwaches Lächeln um seine schlaffen Mundwinkel spielte. »… China Land wie jedes andere auch … gehe ebensogut dahin, wie anderswo … Weshalb sollte nicht gehen? Hm …«

»Man hat mir gesagt, die Chinesen fressen alle europäischen Gelbschnäbel auf,« entgegnete meine schreckliche Großmutter. Und solcher Geschichten habe ich Dutzende erlebt.

Ich muß sogar erklären, daß es mich dermaßen nervös macht, meine Großmutter im Gespräch mit Fremden zu beobachten, daß ich längst die Verantwortlichkeit von mir gewälzt habe, ihr irgend jemanden vorzustellen, und daß ich es für eine notwendige Vorsichtsmaßregel ansah, den jungen Gervis ein wenig auf das ihm Bevorstehende (wir waren der Wohnung sehr nahe) vorzubereiten.

»Sie werden meine Großmutter ein wenig excentrisch finden,« sagte ich. »Höchst wahrscheinlich wird sie Ihnen einige persönliche Bemerkungen an den Kopf schleudern. Ich hoffe, Sie werden es ihr nicht übelnehmen. Sie ist sehr alt, wie Sie sich denken können, und jeder läßt sie nach ihrer eigenen Weise dahinleben.«

»Ich weiß schon,« erwiderte der junge Gervis lachend. »Mein Vater hat mir viel über sie erzählt, und ich denke, sie ist gerade die Art Persönlichkeit, die mir vor allen zusagen würde.«

»Das mag sein,« dachte ich bei mir selbst, als Hicks, der Haushofmeister meiner Großmutter, die Flügelthüren öffnete und uns einließ; »nur folgt daraus noch nicht, daß du gerade die Art Persönlichkeit bist, die ihr vor allen zusagt.«

Es ergab sich jedoch bald, daß ich mich keinen trüben Ahnungen hätte hinzugeben brauchen. Mein junger Gentleman schritt durch den langen Salon und führte sich bei der alten Dame ein mit einer so glücklichen Mischung von Ehrerbietigkeit und Leichtigkeit, daß ich sogleich sah, ihm würde nichts sehr schlimmes bevorstehen. Frau Knowles hatte von jeher eine unschuldige Schwäche für schöne Männer; der neue Besucher aber hatte nicht nur ein gutes Aussehen, sondern auch gute Manieren für sich. Möglich auch, daß der Klang seines Namens alte, liebe Erinnerungen in ihr erweckte. Kurz, es war augenscheinlich, daß sie vorhatte, ihm mit Huld zu begegnen, und nach kurzer Zeit waren beide tief im Gespräch.

Mit der Vorrede hielt sich Frau Knowles in ihrer gewohnten lebhaften Art nicht lange auf.

»Ein alter Freund?« sagte sie, »o ja, Ihr Vater ist mir ein sehr alter Freund, in dem Sinne, daß er schon vor langen Jahren mein Freund war. Wahr ist's, seit so einigen vierzig Jahren haben wir nicht mehr viel voneinander gesehen; im Anfänge dieses Jahrhunderts aber waren wir Careys mit den Gervis fast wie eine Familie. Der arme Georg, der jüngst gestorben ist, stand in einem Alter mit mir; Vincenz war mehrere Jahre jünger. Als ich mich schon längst mit Knowles verheiratet und ein halbes Dutzend Kinder groß zu ziehen hatte, erinnere ich mich, wie Vincenz Gervis an manchem Sommernachmittag von Southlands zu uns herübergeritten kam und uns alle zum Lachen brachte, wenn er die Streiche erzählte, die er mit seinen Freunden in Oxford und London verübte. Mein Mann schüttelte immer den Kopf über ihn, und der alte Herr Gervis – der nichts als seine langen Rechnungen im Sinn hatte – schwur hoch und teuer, Vincenz würde einmal am Galgen enden. Ich indessen hatte ihn sehr gern und ergriff stets seine Partei. Er war in jener Zeit ein lustiger Schelm und eine wahrhafte Plaudertasche. Sie erkennen in dieser Beschreibung Ihren Vater gar nicht wieder – wie? Ja, ja – die Jahre und Erfahrungen bringen allerhand Veränderungen an einem hervor. Da wird der eine schweigsam, der andere (wie ich zum Beispiel) ein Schwätzer. Dem Gesichte nach ist an Ihnen nicht viel von einem Gervis.«

»Nein, ich glaube nicht. Es heißt, ich sei meiner Mutter ähnlich.«

»Die eine Italienerin war. Ja, ja, so ist die Sache auch. Und eine reiche Erbin war sie dazu, wenn ich mich nicht irre. Von da ab, wo Vincenz als Diplomat in der Welt umherreiste, sahen wir hier nicht mehr viel von ihm. Ich erinnere mich aber wohl noch, wie die Nachricht von seiner Verheiratung hier eintraf und der alte Herr Gervis brummte: ›Nun, er hat sein Nest warm ausgefüttert, und das ist doch etwas. Aber jetzt mag er nur auch aufhören, Engländer zu sein; denn seine Frau soll dies Haus nicht betreten. Ich will keine Papistin hier sehen‹. Und er hat Wort gehalten. Ihr Gervis seid ein hartnäckiges, starrsinniges Geschlecht, wissen Sie das?«

»Ich glaube nicht, daß mein Vater es ist.«

»Hm! Darüber bin ich nicht so sicher. Und so kommt er denn also doch nach Southlands zurück? Beabsichtigt er hier zu wohnen?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich hoffe es allerdings; aber ich glaube nicht, daß er England sehr liebt. Varinka aber gar – ich denke nicht, daß etwas sie bewegen könnte, ihren Wohnsitz außerhalb des Weichbildes von Paris zu nehmen.«

»Wer ist Varinka? bitte.«

»Meine Stiefmutter. Wir nennen sie immer bei ihrem Taufnamen – warum weiß ich nicht, vielleicht deshalb, weil sie dem Alter nach uns so viel näher steht als meinem Vater.«

»Ah, die russische Prinzessin. Von der müssen Sie mir erzählen. Seit seiner zweiten Heirat habe ich Ihren Vater nur einmal gesehen. Damals fand ich ihn sehr gealtert und verändert. Herr Gervis, wollen Sie einer neugierigen alten Frau die Güte erzeigen, bei ihr zu bleiben und mit ihr zu speisen? Französische Küche kann ich Ihnen freilich nicht anbieten, aber für ein Glas guten Bordeaux wird mein Enkel dort Sorge tragen.«

Der junge Gervis wollte sich unter dem Vorwand entschuldigen, daß er schwerlich zur Zeit wieder hier sein könne, wenn er jetzt nach seiner Jacht ginge, um sich umzukleiden. Allein meine Großmutter, die an Gehorsam gewöhnt ist, und nie eine Einladung erläßt, wenn sie sie nicht ernst meint, ließ ihn nicht so leichten Kaufes loskommen.

»Ei nicht doch!« sagte sie. »Sie können sehr gut so bleiben, wie Sie da sind. Tom,« wandte sie sich an mich, »zeige Herrn Gervis ein Zimmer, wo er etwas Toilette machen kann, und bestelle draußen, daß ein Gedeck mehr aufgelegt wird.«

Zwischen Suppe und Nachtisch erfuhren wir alles über die Gervissche Familie, oder wenigstens so viel, wie unser Gast für gut hielt, uns zu erzählen. Ich kann nicht sagen, daß der junge Gervis mir sehr zurückhaltend vorkam. Ausgefragt zu werden, ist immer mehr oder weniger unangenehm, selbst den Leuten, die gar nichts zu verbergen haben. Er aber unterwarf sich dieser Unannehmlichkeit gutwillig genug, beantwortete die an ihn gestellten Fragen ohne Zögern und sprach mit natürlicher Leichtigkeit über seine Wünsche und Ansichten. Er war, wie er erzählte, sobald er groß genug war, um in die Schule zu gehen, nach Eton geschickt worden und hatte dort für seines Vaters Heimat und Landsleute eine Liebe eingesogen, die dem Anschein nach von diesem Gentleman selbst gar nicht geteilt wurde. »Der Vater liebt am meisten die Fremden und das Leben im Auslande,« seufzte Claud. »Ich würde das auch lieben, wenn ich nur wie auf Ferien ins Ausland gehen müßte, so wie ich es sonst gewohnt war. Man bekommt aber mehr als genug davon, wenn man nur immer von Ort zu Ort wandern soll und gar keinen Zweck im Leben hat, als höchstens den, die Zeit totzuschlagen.«

»Das kann ich mir allerdings vorstellen,« bemerkte Frau Knowles, höchlichst vergnügt über die ernsthafte Miene des jungen Mannes. »So haben Sie sich denn also lange die Welt angesehen?«

»O ja; seitdem ich Eton verlassen habe, habe ich noch nichts anderes gethan. Ich wäre sehr gern nach Oxford gegangen; aber der Vater erlaubte es nicht. Die letzten fünf Jahre hindurch haben wir in unserer Jacht ganz Europa bereist, er und ich. Zuweilen nahmen wir auch auf eine kleinere Reise Gen mit – ich meine meine Schwester Genoveva. Meist aber fuhren wir allein von Hafen zu Hafen, machten keinen Plan, hinterließen auch keine Adresse, waren also ganz frei. Es war ein recht vergnügtes Leben; aber es kann doch nicht für immer so fortgehen. Ich sollte denken, es wäre nun nachgerade Zeit zu einer Aenderung.«

»Hohe Zeit, das meine ich auch. Die Dame mit dem verzwickten Namen scheint sich aus Ihren Jachtfahrten nicht viel zu machen?«

»Welche Dame?«

»Ich meine die zweite Frau Ihres Vaters – Frau Gervis, wenn sie sich so nennt.«

»O, Varinka. Nein, sie nennt sich nicht Frau Gervis, sie wird immer Prinzessin Uranow genannt. Nein, Varinka lebt mit Gen in Paris. Paris ist so zu sagen unser Hauptquartier. Ich bin oft da, und der Vater kommt auch hin – zuweilen wenigstens.«

»Ich verstehe,« sagte Frau Knowles. »Wir müssen Ihren Vater bewegen, sich in Southlands niederzulassen. Wenn der Prinzessin England nicht gut genug ist, so kann sie nichts Besseres thun, als in Frankreich bleiben.«

Claud ging mit großer Lebendigkeit auf den Gedanken meiner Großmutter ein.

»Wenn Sie ihn doch dazu überreden könnten! Meine große Sorge ist nur, daß er hier vielleicht an einem feuchten Tage eintrifft, oder daß irgend eine Kleinigkeit ihm den Ort verleidet. Dann würde er die Besitzung sofort einem Agenten übergeben und vor Ablauf einer Woche von dannen ziehen. Bitte, Frau Knowles, überreden Sie ihn doch nur, daß er wenigstens einen Teil des Jahres hier zubringen soll!«

»Natürlich, das muß er!« sagte meine Großmutter entschieden. »Es ist ja gerade keine große Besitzung; aber so, wie sie ist, ist sie seit sechs bis sieben Generationen in seiner Familie gewesen. Es würde sich auch genug daran finden, um einem unbeschäftigten Manne etwas zu thun zu geben. Wenn im geringsten etwas davon zu erwarten ist, daß man ihm seine Pflicht in verständlicher Sprache vorhält, dann rechnen Sie auf mich. Ich sollte aber denken, Sie müßten mehr Einfluß auf Ihren Vater haben als eine alte Frau, die er kaum kennt.«

Claud Gervis schüttelte den Kopf. »Ich bin eine bloße Null,« sagte er dann, und ein Schatten flog über seine offenen, edlen Züge. »Mein Vater ist – nun, ich weiß nicht recht, wie ich ihn beschreiben soll; Sie werden ihn bald selbst sehen. In der Regel schreckt er die Leute bald ab, sehr wenige verstehen ihn. Ich verstehe ihn, denke ich, und wir sind sehr gute Freunde; er läßt mich auch in den meisten Fällen thun, was ich will. Aber er thut auch, was er will, und wenn unsere Wünsche nicht zusammenstimmen, so wird auf mich natürlich keine Rücksicht genommen. Zum Beispiel wünschte ich früher so sehr, einen bestimmten Beruf zu ergreifen, um doch ein Ziel zu haben, etwas, wofür man lebt und strebt, Sie verstehen mich, nicht wahr, aber das gefiel ihm nicht, und so mußte ich den Gedanken aufgeben. Jetzt wünschte ich sehnsüchtig, in England zu wohnen; aber ich fürchte sehr, daß ihm das auch nicht gefallen wird.«

»Wenn es sich um den persönlichen Geschmack handelt, so sollten die Alten den Jungen nachgeben,« sagte meine Großmutter ohne Besinnen, so seltsam diese Behauptung aus dem Munde einer Frau klang, deren Kinder und Enkelkinder von ihr sonst nur die entgegengesetzte Theorie verteidigen hörten. Damit ergriff sie ihren Stock mit goldenem Griff und ließ uns mit unserer Weinflasche allein.

Eine Viertelstunde später saßen wir im Rauchzimmer des Klubhauses und plauderten angelegentlich mit Freddy Croft und mehreren andern Offizieren der Garnison.



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