Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel.
Zwei Gespräche

Wenn im Laufe der soeben beschriebenen Unterhaltung Claud und Nina die Augen auf die Spitze des Hügels hinter sich gewandt hätten, anstatt abwechselnd ihre Gesichter und den Erdboden zu studieren, so hätten sie gesehen, wie zwei dunkle Gestalten, deren Haltung der ihrigen genau entsprach, sich schroff von dem Horizont abhoben.

Als Claud mit Nina in der Dunkelheit verschwunden war, machte sich auch Freddy Croft mit Genoveva auf den Weg ins Freie. Sie verfolgten die unregelmäßigsten Zickzackwege und vergeudeten wenig Zeit zur Unterhaltung, bis sie die Grenzlinie der Zieranlagen erreicht hatten, jenseits welcher sich breite Weizen-, Hafer- und Gerstefelder ausdehnten, im leichten Winde raschelnd und schaukelnd.

Hier hielt Genoveva inne, lehnte ihre Arme auf das Gitterwerk und nahm fast dieselbe Haltung an wie Fräulein Flemyng ein paar hundert Schritte weiter unten, während Freddy, dessen natürliche Anmut weit hinter der Clauds zurückblieb, sich auf die Barriere schwang und, leise vor sich hinpfeifend, die Beine hin und herschweben ließ.

»Wo haben Sie denn den Monsieur Vagabundus, den Glymno, aufgelesen?« fragte er nach einer Pause.

»O bitte, sagen Sie nichts Unfreundliches über ihn. Ich kann es gar nicht mit anhören, daß man sich über jemanden lustig macht, weil er einen abgetragenen Rock anhat. Es sieht Ihnen gar nicht ähnlich, solche Dinge auch nur zu bemerken. Wie viele der besten Menschen haben sich nicht in Geldverlegenheit befunden.«

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte Freddy demütig, »ich hatte nicht die leiseste Absicht, etwas Beleidigendes über ihn zu sagen; ich glaube auch entschieden, daß er – ein sehr guter Kerl ist, wenn Sie ihn gern haben. Natürlich ist mir jeder Ihrer Freunde –«

»Er ist nicht mein Freund. Ich habe ihn vor diesem Tage noch nie gesehen, ich bin auch nicht sicher, daß ich ihn gerade besonders gern habe. Es ärgert mich nur, daß ihn jedermann verachtet, bloß weil er schlechte Kleider trägt.«

»Wirklich, ich habe ihn nicht verachtet.«

»Sie beachteten ihn gar nicht, und alle übrigen sahen ihn an, als müßten sie ihre Taschen vor ihm zuhalten. Und doch hätte man, selbst wenn er ein Dieb von Profession wäre, ihn nicht dürfen merken lassen, daß man ein Mißtrauen gegen ihn hatte. Wenigstens ist das meine Auffassung von Gastfreundschaft. Ich weiß nicht, ob Sie mit mir übereinstimmen.«

Der weltweise Freddy erklärte, Fräulein Genoveva sei zu großmütig; freilich sei jedermann so lange unschuldig, bis seine Schuld erwiesen sei, und was dergleichen mehr war. Dennoch liefen in der Welt unzählbare verschmitzte Kerle umher, die nur auf eine Gelegenheit warteten, um zu Dieben zu werden, und vor denen müsse man doch sehr auf seiner Hut sein. »Natürlich,« fügte er hinzu, »sollten diese Bemerkungen keinerlei persönliche Anspielungen enthalten.«

Genoveva erwiderte: »Wenn ich einen Mann für einen ›verschmitzten Kerl‹ halte, wie Sie sagen, so würde ich ihn nicht einladen, mit mir zu speisen. Habe ich aber jemanden zu Tische gebeten, so würde ich es für eine Beschimpfung meiner Gäste ansehen, wenn ich ihm zeigte, daß ich solche Gedanken von ihm habe.«

»O ich verstehe, Sie denken an die Seitenhiebe, die Ihr Vater dem Monsieur Vagabundus – entschuldigen Sie, Herrn Glymno wollte ich sagen, versetzte. Aber darüber seien Sie unbesorgt. Herr Gervis fing an mit ihm zu reden, sobald Sie das Zimmer verlassen hatten, und als wir uns davon machten, waren sie schon beide ganz warm geworden.«

»Halten Sie es für etwas sehr Schreckliches,« fragte das junge Mädchen plötzlich, »wenn einer seinen eigenen Vater verabscheut? Aber freilich, das muß es sein. Es ist gräßlich, gottlos und naturwidrig, und doch –«

»Ei, das finde ich absolut nicht,« erklärte Freddy heiter. »Wenn ein Vater ein roher Mensch ist, muß er auch die Konsequenzen tragen.«

»Das ist er eigentlich nicht ganz.«

»Wer? Herr Gervis? Oh! Natürlich, nicht; ihn meinte ich auch nicht. Aber manche Väter sind faktisch rohe Subjekte, es gibt kein anderes Wort dafür. Ich kenne einen Offizier von der Garde – ein schauderhaft guter Kerl – dessen Vater eine halbe Million schwer ist, und der nicht einen Heller herausrücken möchte. Sie werden es kaum glauben, aber der alte Schurke bewilligt seinem Sohn – und seinem ältesten Sohn, denken Sie nur! – außer seinem Solde nicht mehr als dreihundert Pfund jährlich, und was denken Sie sich, vor einigen Monaten läßt er gar noch ein Inserat in die Zeitungen rücken, worin er erklärt, daß er für keine Schulden aufkommt, die der arme Jack etwa macht. Nun, ein alter Geizhammel, wie der, muß sich's gefallen lassen, daß er gehaßt wird, kann durchaus nichts anderes erwarten, wie sich jeder denken kann.«

Freddy war ein eigentümlicher Vertrauter für Fräulein Gervis, die von ihren wenigen Freunden stets der übertriebensten Verschwiegenheit angeklagt wurde. Es gibt aber Augenblicke, in denen die Teilnahme eines warmen Herzens unumgängliches Bedürfnis ist. Ein solcher war jetzt für Genoveva gekommen. Zurückhaltende Naturen schenken ihr Vertrauen selten halb. Sie überging also Freddys wenig hierhergehörige Hindeutung auf den übel behandelten Gardeoffizier und fuhr in ihrem eigenen Gedankengange fort: »Es ist wahrscheinlich meine Schuld, daß wir uns nie gut miteinander gestanden haben. Claud kommt sehr gut mit ihm aus, obgleich er alles sieht, was ich sehe, und vielleicht noch mehr als ich. Claud macht aber Zugeständnisse, ich kann dies nicht. Ich muß einen Menschen entweder sehr lieben oder sehr hassen, und ich fürchte, der Umstand, daß es sich um meine nächsten Verwandten handelt, ändert an der Sache nichts; denen, die ich liebe, könnte ich alles verzeihen – Grausamkeit, Gottlosigkeit, Vernachlässigung, es macht alles keinen Unterschied; aber es liegt nicht in mir, jemanden bloß aus Pflichtgefühl zu lieben, und wenn ich nicht liebe – so thue ich das Gegenteil.«

»Das ist gerade der Charakter,« rief Freddy mit Begeisterung, »den ich vor allen anderen selbst besitzen möchte, wenn ich wählen könnte.«

»Nein,« gab das Mädchen traurig zur Antwort, »ich denke nicht, daß jemand einen solchen Charakter wählen würde; nur kann es mir vielleicht zur Entschuldigung gereichen, daß man darin eben keine Wahl hat. Wenn mein Vater krank wäre, und ich könnte ihn pflegen, oder er befände sich in Not, und ich könnte ihm helfen, so würde ich es thun, weil er mein Vater ist; ihn aber zu lieben, weil er mein Vater ist, das ist mir unmöglich.«

»Hat Ihr Vater Sie unfreundlich behandelt?« fragte Freddy, von seinem hohen Sitz zu Boden gleitend und ganz wild bei dem bloßen Gedanken an eine solche Abscheulichkeit.

»Nein, er ist nie unfreundlich gegen mich; er ist sogar nach seiner Weise gütig, obgleich ich glaube, es würde ihm nicht den geringsten Schmerz bereiten, wenn ich noch in dieser Nacht sterben müßte. Aber es gibt andere, gegen die er nicht nur unfreundlich, sondern thatsächlich grausam ist. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, was ich meine. Sie wissen, wie grausam Kinder oft sind. Claud und ich pflegten unsere Hunde in jeder Weise zu quälen, und ich erinnere mich, daß wir einmal eine Katze in Walnußschalen gesteckt und uns dann halbtot gelacht haben, als das arme Ding auf dem polierten Parquetboden herumrutschte.«

»Ja, ich selbst habe auch stets mit großem Behagen ein Schwein schlachten sehen,« flocht Freddy nachdenklich ein.

»Gewiß waren wir in mancher Weise herz- und gedankenlose kleine Geschöpfe; aber ich weiß, als uns unsere Freunde mitnahmen nach dem zoologischen Garten, um uns zu zeigen, wie die gräßlichen Schlangen mit lebendigen Vögeln und Kaninchen gefüttert wurden, da konnten wir den Anblick nicht ertragen, sondern liefen beide fort und weinten, als ob unsere Herzen brechen wollten. Ein Knabe war da, der blieb und sah alles mit an. Ich verabscheute diesen Knaben von der Minute an. Jetzt ist er ein Mann geworden, und ich verabscheue ihn noch.«

»Ich glaube Sie zu verstehen. Es macht einen unendlichen Unterschied, ob einer grausam ist, ohne es zu wollen, oder aus Liebhaberei.«

»Ganz recht. Es ist etwas Furchtbares, sich am Anblick des Leidens zu erfreuen. Soweit die Gräßlichkeit dieser Freude in Betracht kommt, sehe ich nicht ein, daß es eine Rolle spielt, ob der Schmerz körperlich oder geistig ist, oder auch sogar, ob er größer oder geringer ist. Mir scheint kein bedeutender Unterschied zwischen einem Knaben, der lebendige Schmetterlinge auf Nadeln spießt, um sich an ihrem Todeskampf zu ergötzen, und einem Manne, dessen Hauptbelustigung es ist, die Gefühle anderer Menschen zu verletzen oder sie lächerlich zu machen, nur daß der Knabe die Rute bekommt und zu Bett geschickt, der Mann dagegen als ein witziger Kopf bewundert wird.«

»Aber sind Sie nicht am Ende,« fing Freddy zögernd an, »etwas hart gegen Herrn Gervis? Ich will sagen, Ihre Gefühle müssen von Dingen verletzt werden, die andere Leute keinen Augenblick stören würden. Manche Menschen haben ein so kostbares dickes Fell! Sehen Sie mich z. B. an. Ihr Herr Vater könnte, wenn es ihm Vergnügen machte, sich an mir reiben, daß alles braun und blau würde – mir würde das keine Schmerzen verursachen.«

Genoveva lachte und meinte dann: »Das ist teils, weil Sie selber zu gutherzig sind, zu glauben, daß einer wirklich Sie könnte ärgern wollen, teils, weil es gar nicht in seiner Macht steht, Sie ernstlich zu verletzen. Wenn Sie sich in der Lage des armen Menschen befänden, den er in diesem Momente martert, so würden Sie ihn besser verstehen. Aber ich weiß, was Sie von mir denken müssen, daß ich alles dies zu Ihnen sage, und Sie haben ganz recht. Es gibt Dinge, die niemals gesagt werden sollten, ob sie wahr sind oder nicht.«

Das gab Freddy die Gelegenheit, seinem holden Gegenüber alles zu sagen, was er Gutes von ihr dachte, wobei die Superlative gerade nicht gespart wurden, und so nahm das Gespräch eine zwar für die Beteiligten sehr interessante, für den Leser aber vielleicht ermüdende Wendung. Das Herz des Lesers ist wahrscheinlich härter, als das Genovevas, und er empfindet also wohl keine tiefgehenden Schmerzen, wenn er gebeten wird, auf ein paar Minuten nach dem Speisezimmer zurückzukehren und das Martyrium des Herrn Glymno mit anzusehen.

Kaum war nämlich Flemyngs massige Gestalt durch die nach der Terrasse führende Glasthür verschwunden, als der Gast seinen Stuhl näher an den seines Wirtes zog, und indem er sich mit nervös zitternden Händen ein Glas Rotwein eingoß, direkt auf seine geschäftlichen Angelegenheiten losging.

»Sie werden verstehen, Herr Gervis, daß ich nicht so kühn gewesen wäre, mich in Ihr Haus einzudrängen, wenn ich Ihnen nicht eine wichtige Mitteilung zu machen hätte.«

Gervis nickte leicht mit dem Kopfe.

»Ich will offen gegen Sie sein, ich will Ihnen nichts verbergen.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden,« sagte Herr Gervis mit seinem liebenswürdigsten Tone, »darf ich Ihnen eine Cigarette anbieten?«

Der Fremde nahm die dargebotene Cigarette, zündete sie mit zitternden Händen an und, fuhr fort: »Ich brauche Geld. Ich ziehe vor, Ihnen das gleich zu sagen. Sie werden mich vielleicht für einen schmutzigen Kerl halten –«

Eine leichte Bewegung von Gervis' Hand drückte höfliche Zustimmung aus.

» Mon Dieu! Ich will Ihnen nicht widersprechen! Wenn man aber dem Hungertode nahe ist und sich im Besitze wertvoller Informationen befindet, so gibt man sich nicht umsonst weg. Sie werden sogleich erraten haben, daß meine Mitteilungen sich auf die Prinzessin Uranow beziehen – Ihre Gemahlin. Ah – diese Frau hat mich schmählich behandelt – abscheulich! Seit langen Jahren bin ich ihr Freund gewesen, und ich würde noch jetzt ihr Freund sein, ja, ihr Freund, nicht der Ihrige, Herr Gervis, denn es ist von jeher meine Schwäche gewesen, meine Pflicht dem Mitleiden aufzuopfern – aber jetzt ist die Zeit gekommen, wo ich nicht länger schweigen kann. Erst vor drei Tagen bin ich von Südamerika hierher zurückgekehrt. Ich landete in Southampton mit nicht mehr als drei Schilling in der Tasche. Den Weg von dort bis hierher habe ich zu Fuß zurückgelegt, habe von Brotrinden gelebt, in Scheuern und Gräben übernachtet, und was finde ich jetzt? Daß sie fortgegangen ist, daß sie sich in Frankreich aufhält und mit ihren lustigen Freunden amüsiert, daß sie auch noch nicht einmal eine Botschaft für mich zurückgelassen hat, daß sie außerhalb meines Bereiches ist. Ich war hungrig, ich war halbtot vor Erschöpfung, ich fühlte, daß mich alle meine Kraft verließ, was blieb mir zu thun übrig?«

Des Mannes Stimme brach, und er zögerte einen Augenblick unter einer Bewegung, die echt genug schien.

»Herr Glymno, Sie thun mir leid. Bitte, noch ein Glas Rotwein, darf ich einschenken? So weigerte sich die Prinzessin also, Ihnen noch länger Ihren Sold zu zahlen?«

Einen Augenblick veränderte sich der Ausdruck in Glymnos Gesicht. Ein giftiger Zug zeigte sich um seine Mundwinkel, und zwischen seinen Augenlidern schoß ein Blick bitteren Hasses hervor. Dann aber schenkte er sich ein neues Glas Rotwein ein und fuhr fort: »Sie drücken die Dinge schlicht und deutlich aus, Herr Gervis. Warum auch nicht? J'aime autant ça. Ich meinerseits werde mir dasselbe Vorrecht zu nutze machen. Ich muß Ihnen sagen, daß die Geschichte Ihres ehelichen Lebens mir kein Geheimnis ist. Ich weiß, daß Sie seit langen Jahren nur dem Namen nach der Gatte der Prinzessin Uranow sind. Ich weiß, daß Sie viele Gründe zum Verdacht haben, aber keinen Beweis. Ich weiß, daß Sie viel darum geben würden, wenn Sie ein für allemal von der Frau loskommen könnten, die Sie betrogen und beschimpft hat. Ist es nicht so?«

Gervis legte den Kopf auf eine Seite und betrachtete seinen Tischgenossen mit einer gewissen nachdenklichen Neugier, sagte aber nichts.

»Nun, nehmen Sie an, ich habe es in meiner Macht, Ihnen die absoluteste Freiheit von ihr zu verschaffen, sobald Sie es nur wünschen,« sagte Glymno.

»Wieviel,« fragte Gervis in seinem schmeichelndsten Ton, »wieviel, mein teurer Herr, hatten Sie vor, für diese unschätzbare Wohlthat zu fordern?«

»Zwanzigtausend Pfund Sterling,« antwortete der andere fest, »weder mehr noch weniger. Es ist eine große Summe; aber Sie sind ein sehr reicher Mann, und die Freiheit ist Ihnen das wert, und mehr als das. Ueberdies würden Sie bei dem Geschäft buchstäblich Ersparnisse machen. Was sind die Zinsen von zwanzigtausend Pfund zu fünf Prozent? Armselige tausend Pfund jährlich, nicht wahr? Es sollte mich sehr überraschen, wenn die Prinzessin Uranow Ihnen nicht seit Jahren aus Ihrem Privatvermögen mehr gekostet hätte.«

»Herr Glymno, es ist augenscheinlich, daß ich vor Ihnen nichts verbergen kann, und wirklich setzt mich Ihre Mäßigung in Erstaunen. Ist es Ihnen aber nicht eingefallen, daß, wenn die von Ihnen angedeutete Möglichkeit wirklich existiert, ich sie auch ohne Ihre Hilfe erlangen und meine zwanzigtausend Pfund sparen könnte?«

»Unmöglich, Herr Gervis. Sie können absolut sicher sein, daß, wenn Sie nicht durch mich Ihre Freiheit gewinnen, Sie sie überhaupt nicht gewinnen werden. Ich bin das einzige lebende Wesen, welches die Beweise in Händen hat. Außerdem brauchen Sie sich ja nur zu erinnern, daß Sie weit und breit, bei hoch und niedrig vergeblich gesucht haben, um zu erkennen, daß dies ein Fall ist, in dem Ihnen Geheimpolizisten nicht vom geringsten Nutzen sind.«

»Nur zu wahr! Und Sie lassen sich wirklich auf nicht weniger als zwanzigtausend Pfund ein?«

»Ich sagte es Ihnen schon. Ich bin ein Mann von Wort. Nun sehen Sie, Herr Gervis, ich will mich rückhaltslos in Ihre Hand geben. Mit einem halben Dutzend Worte will ich Sie von der Wahrheit meiner Behauptung überzeugen. Ich will mich auf Ihre Ehre verlassen, daß Sie mir danach einen Wechsel, einen Check oder sonst etwas aushändigen, wodurch mir das Geld gesichert wird, und in Zeit von spätestens ein paar Wochen werde ich die unumstößlichsten Beweise in Ihre Hand legen. Sind Sie damit einverstanden?«

»Ah, mein lieber Herr Glymno,« sagte Gervis und warf das Ende seiner Cigarette aus dem Fenster, »Sie sind ein abgefeimter Schurke; aber Ihre Unverschämtheit hat mir riesigen Scherz gemacht. Wünschen Sie noch Wein, oder wollen wir nun die Damen aufsuchen?«

»Was soll das heißen, Herr Gervis? Bitte, sprechen Sie deutlich!« gab der andere mit heiserer Stimme zurück. Seine Augenlider hatten aufgehört zu blinken; zwei tiefe Linien markierten sich auf seiner zurücktretenden Stirn; sein spitzes Kinn schien noch mehr nach vorn hervorzuwachsen. Er präsentierte einen so ausgesprochenen Typus des geborenen Raubmörders, wie ein Physiognomiker ihn nur zu sehen wünschen kann.

»Nun, was es heißen soll, mein lieber Herr, ist einfach, daß Ihr kleines Plänchen verunglückt ist! Indem Sie es entwarfen, scheinen Sie zwei unbedeutende Nebensachen vergessen zu haben – erstens, daß Sie es mit einem Gentleman, zweitens, daß Sie es nicht mit einem absoluten Narren zu thun haben. Ich will Ihnen keine Vorwürfe machen über Ihre Angriffe auf den Ruf einer abwesenden Dame, noch weniger über das schmeichelhafte Bild, welches Sie sich von meiner eigenen Moralität entworfen zu haben scheinen. Ich erlaube mir sehr selten, zornig zu werden – über Personen Ihres Schlages nie. Sie müssen mir zugeben, daß es schade wäre um Zeit und Mühe. Was nach meiner Ansicht Ihnen nicht anders als klar sein konnte, war, daß ich nie einem einzigen Worte, das Sie mit oder ohne Beweise sagen können, Glauben schenken, noch auch es mit Geld bezahlen würde. Ich erinnere mich Ihrer noch ganz genau, wie Sie sich in Wiesbaden in das Fremdenbuch des Hotels unter einem auf ow oder ew endigenden Namen eintrugen, den ich zwar vergessen habe, der aber jedenfalls auch nicht Ihr eigener war. Wissen Sie, Herr Glymno, daß das einzige Hoffnung erweckende Symptom in Ihrem Fall mir der Umstand scheint, daß Sie noch bei weitem kein vollendeter Lügner sind?«

Das Gezogene, Gedehnte, womit diese Sätze ausgesprochen wurden, verdoppelte und verdreifachte ihre beleidigende Eindringlichkeit. Der Fremde, dessen Gesicht so weiß war, wie das Tafeltuch vor ihm, verlor alle Selbstbeherrschung. Er zitterte, murmelte einen Fluch, sprang von seinem Sitz auf und ergriff ein Messer, das neben seinem Teller lag.

Im nächsten Augenblick wurde sein rechter Arm über seinen Kopf emporgeschnellt und dort mit einem festen Griff in vollkommener Ohnmacht erhalten, während das Messer seiner Hand entwunden und zu Boden geschleudert wurde. Sogleich aber ließ Gervis den Erschrockenen wieder los, sank in seinen Stuhl zurück und lachte von ganzem Herzen.

»Lieber Glymno, Sie sind der drolligste Schelm, dem ich je begegnet bin! Wissen Sie denn auch, daß Sie mein Leben mit einem Dessertmesser bedroht haben? Nehmen Sie es sich nicht zu Herzen; Ihre Absichten waren gut, und wenn ich nicht trotz meines Alters noch ein leidlich kräftiges Handgelenk hätte, so glaube ich wohl, daß Sie mich in Schrecken gesetzt hätten. So habe ich Ihnen nur zu danken, daß Sie einem höchst unterhaltenden Abend noch einen dramatischen Abschluß gegeben haben.«

Der Mann war eingeschüchtert – vielleicht ebensosehr durch den Hohn seines Wirtes, als durch das Bewußtsein, daß er physisch zu schwach sei, um jemandem gefährlich zu werden.

»Wollen Sie mir erlauben,« sagte er demütig, »noch ein paar Worte über den besprochenen Gegenstand zu sagen?«

»Ich danke Ihnen, nein, – im Gegenteil, wenn Sie auch nur noch einmal darauf anspielen, so läute ich auf der Stelle der Dienerschaft und gebe Befehl, Sie zum Hause hinauszuwerfen.«

»Das sollen Sie nicht nötig haben, Herr Gervis,« erwiderte Glymno, sich erhebend, mit mehr Würde, als er bisher gezeigt hatte. »Herr Gervis, glauben Sie mir, ich bin kein Schurke, ich habe … auch ich bin …«

Er hatte schon die Hand auf der Thürklinke, als Herr Gervis ihm zurief: »Warten Sie einen Augenblick, Herr Glymno. Wo denken Sie heute nacht zu schlafen?«

Schweigend zuckte der Angeredete die Achseln.

»Setzen Sie sich, bitte, noch einen Augenblick. Ich werde sogleich wieder bei Ihnen sein.«

Gervis verließ das Zimmer und kam gleich darauf mit seinem langsamen, müden Schritt zurück. In der Hand hielt er ein Bündel Banknoten.

»Hier sind hundert Pfund,« sagte er. »Es ist alles, was ich an entbehrlichem Gelde im Hause habe. Schurkerei, Herr Glymno, entspringt hauptsächlich aus widrigen Lebensverhältnissen. Die menschliche Familie ist zusammengesetzt aus Gliedern von verschiedenen Farben und Schattierungen. Mit einiger Anstrengung entdecke ich in Ihnen einen irrenden Bruder. Mit diesem Gelde werden Sie wenigstens Ihren Weg zu der Prinzessin finden, die Sie ohne Zweifel um mehr beschwindeln werden. Es thut mir leid, daß ich keine Mittel und Wege weiß, sie vor Ihnen zu beschützen. Es thut mir auch leid, daß ich Ihnen kein Bett in meinem Hause anbieten kann; aber die Konvenienz muß bis zu einem gewissen Punkte respektiert werden. Leben Sie recht wohl und lassen Sie sich gefälligst niemals wieder bei mir sehen.«

Glymno sah den ironischen Sprecher an und sah die Banknoten an. Er schwankte einen Augenblick, aber Not kennt kein Gebot und Hunger frißt bei einem herabgekommenen Menschen überraschend schnell das bißchen Menschenwürde auf. Er nahm das Geld ohne ein Wort des Dankes und ging davon.

»Armer Teufel!« grübelte Gervis laut, als er die Thür der Vorhalle hinter seinem Besucher ins Schloß fallen hörte. »Ich glaube wohl, daß er etwas weiß. Oder war es vielleicht nur die alte Geschichte? Aber wie possierlich er das silberne Messer gegen mich erhob! Ha ha ha! Ich möchte doch wissen, ob ich an seiner Stelle es nicht vorgezogen hätte, zu verhungern, ehe ich das Geld angenommen hätte. Du lieber Himmel, wie komisch ist doch alles in dem wimmelnden Ameisenhaufen, den man die Menschheit nennt.«



 << zurück weiter >>