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Sechstes Kapitel.
Varinka verläßt die Scene

Die Prinzessin verbrachte einen langweiligen Abend. Solange die Damen allein waren, war die Sache noch zu ertragen, denn Fräulein Flemyng hatte eine Anzahl Fragen über Paris, wie die Leute dort die Haare trügen und ob wirklich die kurzen Kleider wieder aufkämen oder ob etwa die Krinoline Aussicht auf Wiedereinführung habe und dergleichen mehr, und das waren Gegenstände, über die man doch mit einigem Interesse sprechen konnte. Außerdem kam zu Tage, daß die junge Dame zwanzig bis dreißig Ellen echter alter Spitzen von Alençon besaß, die sie gern einer Freundin abtreten wollte, da, wie sie ehrlich gestand, ihr augenblicklich das Geld sehr knapp sei, so daß sich vielleicht ein Geschäft mit ihr machen ließe. Aber kaum hatte man die Einleitung dazu getroffen, als auch schon wieder das Summen dieses unerträglichen, alten Vaters sich draußen näherte. Da war er – bon soir! Was hatte sich denn nur der schwerfällige, feierliche Mensch in den Kopf gesetzt, daß er sich mit seinen endlosen Reden überall eindrängte? Bildete er sich etwa ein, es wäre unterhaltend, ihm zuzuhören? Warum blieb er nicht im Speisezimmer und unterhielt sich mit seinem Portwein? Es half nichts, daß Varinka seufzte, gähnte und ihre Unaufmerksamkeit recht grell zeigte: er hatte sich vorgenommen, einen Vortrag zu halten, und er hielt ihn; ob seine Zuhörer damit zufrieden waren, fiel gar nicht in die Wagschale.

Endlich hörte man draußen auf dem Kies den hochwillkommenen Laut vorfahrender Räder. Dem Himmel sei Dank! so gingen sie denn endlich!

»Guten Abend, Madame! Es thut mir sehr leid, daß wir Sie schon so bald verlieren sollen! Ich werde Ihnen morgen früh die Spitzen zur Ansicht schicken. O, nicht die allermindesten Umstände! Ich hätte gern, daß Sie sie sehen, denn ich glaube, daß sie wirklich gut sind. Guten Abend! Guten Abend, Herr Gervis!«

Es war nicht zu leugnen, daß, Nina für eine Dame aus der Provinz höchst angenehme Manieren hatte.

Claud und Genoveva begleiteten ihre Gäste nach der Halle hinunter, wo noch manches förmliche Lebewohl genommen wurde. Gute zehn Minuten vergingen, ehe der Wagen fortfuhr und Claud seine Schwester fragen konnte, wie ihre neuen Freunde ihr gefielen.

»Ich kenne sie noch nicht genug, um ein Urteil über sie abzugeben,« war die Antwort.

»Aber du weißt doch schon, ob du sie gern hast oder nicht. Fräulein Flemyng ist sehr begierig, Freundschaft mit dir zu schließen.«

»Das sagte sie mir auch. Findest du sie nicht ein wenig zu – zu ungebunden?«

»Nein, das finde ich nicht. Durchaus nicht. Ich finde sie reizend, und dir wird es ebenso gehen, wenn du sie erst besser kennst. Ich hoffe, wir werden diesen Sommer recht viel mit den Flemyngs verkehren. Ich beabsichtige, dich am Donnerstag mit hinüber zu nehmen.«

»Aber ich werde schon vor dem Donnerstag abreisen.«

»Darauf würde ich an deiner Stelle nicht so mit Bestimmtheit rechnen.«

»Andere rechnen für mich darauf. Ich habe nur zu thun, was mir befohlen wird, wie du weißt.«

»Und wenn man dir nun befiehlt, hier zu bleiben?«

»Dann würde ich natürlich bleiben müssen. Das ist das Schlimmste, wenn man als Weib geboren ist: man muß sein lebenlang anderen gehorchen. Aber ich weiß nicht,« fügte sie im Tone unterdrückten Grolles hinzu, »warum man mir befehlen sollte, hier zu bleiben, wo ich nicht gebraucht werde, während doch Varinka wirklich eine Gesellschafterin nötig hat.«

»Wer sagt dir, du würdest hier nicht gebraucht? Ich brauche dich, der Vater braucht dich.«

»Warum braucht er mich? Weil er, wenn Varinka fort ist, niemand haben wird, an dem er seine üble Laune auslassen kann?«

»Höre einmal, Gen,« sagte Claud, das Ende seiner Cigarette wegwerfend und seiner Schwester einen Schritt näher tretend, »ich wünschte, du suchtest mit dem Vater etwas besser auszukommen. Er ist doch immerhin dein Vater.«

»O ja, ich weiß. Und er ist Varinkas Gatte.«

Claud zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Lassen wir diesen Punkt fallen; es mögen wohl daran zwei Seiten sein, und wir scheinen über keine viel zu wissen. Ich habe eine Vermittelung anzubahnen gesucht, habe aber keinen großen Erfolg damit gehabt. Laß sie das unter sich ausmachen. Jedenfalls hat der Vater dir noch niemals etwas zuleide gethan.«

Genoveva brach von dem Spalier, an dem sie sich befanden, eine wilde Rebe ab und zerdrehte sie zwischen den Fingern, sagte aber kein Wort.

»Und er wünscht, daß du einige Zeit in England bleibst, um die Engländer kennen zu lernen. Das ist doch wirklich nicht zuviel gefordert. Siehst du nicht ein, was für ein Unterschied es ist, ob wir Damen im Hause haben oder nicht? Was sollten wir beide hier anfangen, wenn wir ganz allein wären? Wir könnten weder uns selbst amüsieren, noch unsere Nachbarn einladen, noch auch überhaupt hier eine Heimat gründen. Dadurch würde sich's von selbst finden, daß wir nach einigen Wochen hier alles verschlössen und wieder in der Welt umherwanderten. Wenn du aber hier bist, so können die Crofts kommen und – und Fräulein Flemyng und wer weiß wie viele Leute, und du brauchst dich vor Einsamkeit und Langeweile nicht zu fürchten. Es gibt hier Wettfahrten und Bälle und Cricketgesellschaften und Regattas und eine endlose Menge von Vergnügungen – ich habe schon neulich mit Freddy Croft darüber gesprochen – es wäre für dich eine ganz neue Erfahrung.«

»Aber Varinka braucht mich!«

»Hm!«

»O, ich weiß, unentbehrlich bin ich für niemanden,« sagte das Mädchen fast traurig. »Das ist es auch nicht. Du denkst nur nicht an die arme Varinka, und wie einförmig es für sie sein müßte, wenn sie in Trouville ohne allen Umgang wäre.«

»Aber, Gen, hast du in deinem Leben schon gesehen, daß Varinka Mangel an Umgang hatte? Du willst mir doch nicht im Ernst sagen, sie hätte in Trouville nicht wenigstens fünfzig Busenfreundinnen? Und wenn sie das Bedürfnis hat, ihr Haus mit Tanten und Cousinen zu füllen, würden sie sie nicht auf ein Wort wie die Fliegen umschwärmen? Uebrigens sagte mir der Vater vor Tische, daß er für ihre Zustimmung einstehen würde.«

»Selbstverständlich. Wenn ich meiner Jungfer befehle, die Nacht über aufzubleiben, so will ich auch für ihre Zustimmung einstehen. Aber gern thäte sie es darum doch nicht.«

»Nun, nun, wenn Varinka nicht selbständig handelt, so helfen ihr auch unsere vielen Worte darüber nicht. Wenn wir sie aber beiseite lassen, würdest du nicht lieber hier leben, als in Trouville?«

Jetzt gestand Genoveva, daß sie sehr gern etwas mehr von England sehen möchte.

Unterdessen entspann sich im Salon, wo Herr Gervis sen. mit seiner Gattin allein zurückgeblieben war, ein charakteristisches Gespräch.

»Ich habe eine kleine Gefälligkeit von Ihnen zu erbitten,« fing die Prinzessin etwas erregt an, sobald die Thür sich hinter ihren Gästen geschlossen hatte.

»Durch ein seltsames Zusammentreffen,« entgegnete höflich ihr Gemahl, »habe ich Sie auch um eine kleine Gunst zu bitten. Wer von uns soll den Anfang machen?«

»O bitte, Sie. Ich kann warten.«

So äußerte denn Gervis kurz seine Wünsche bezüglich Genovevas Verbleiben in England und empfing darauf eine volle Salve der lebhaftesten Proteste.

»Aber es ist unvernünftig, einfach unvernünftig, was Sie da von mir fordern! Hätten Sie es mir wenigstens acht bis vierzehn Tage früher mitgeteilt, dann hätte ich doch jemand anders an ihre Stelle setzen können; so aber werde ich in meiner kleinen Hütte da drüben eingesperrt sein, wie ein Eichhörnchen im Bauer, denn so viel Mut können Sie doch unmöglich bei mir voraussetzen, daß ich am Strande spazieren gehen sollte, ohne daß auch nur ein Hund oder eine Katze mir Gesellschaft leistete. Ach! wenn Sie die Zungen jener Badegäste kennten! Ich kann sie bis hierher hören, mit ihren boshaften Sticheleien! Nein, es ist unmöglich! Es kann gar kein Gedanke daran sein! Wenn es noch wenigstens zum Besten des armen Kindes wäre, so würde ich vielleicht eher versuchen, die Sache zu arrangieren. Aber ich weiß, welche grausame Enttäuschung es für sie sein wird. Sie amüsiert sich in diesem kalten England nicht besser als ich. Uebrigens habe ich Ihren Plan längst durchschaut: Sie beabsichtigen, das Mädchen an irgend einen schwerfälligen Engländer zu verheiraten, der sie vollkommen unglücklich machen wird.«

»Ich erkläre Ihnen,« versetzte Gervis gelassen, »daß ich nichts dergleichen beabsichtige. Ich habe gar nicht den Wunsch, daß sie sich schon in der nächsten Zeit verheiraten soll. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: Es ist gerade einer der Gründe, aus denen ich ihr Hierbleiben wünsche, daß ich fürchte, Sie beabsichtigen vielleicht, eine Verbindung zwischen ihr und einem Franzosen zustande zu bringen, – die ich, wie ich Ihnen erst neulich sagte, nicht zugeben könnte.«

»Denken Sie, ich habe es so eilig, mich noch einsamer zu machen, als ich es jetzt schon bin? Wenn Genoveva sich verheiratet, so werde ich neun Monate des Jahres hindurch nur Dienstboten in meinem Hause haben!«

»So ist's. Aber bei Leuten Ihres edelmütigen, selbstlosen Naturells ist man vor solchen Handlungen niemals sicher. Indessen denke ich, Ihnen die Versicherung geben zu können, daß die junge Dame Ihnen im Herbst unvermählt und unverlobt zurückgestellt werden wird.«

»Wenn Sie mir das versprechen wollen. – Dennoch bleibt immer die Frage wegen des Sommers. Ich bin allerdings keine junge Frau mehr. Trotzdem bin ich weder alt noch häßlich genug, um in einem Badeort zu erscheinen, ohne wenigstens eine Gesellschafterin bei mir zu haben.«

»Das gebe ich zu. Wollen Sie die Potts haben?«

»Nein!« antwortete die Prinzessin fast heftig. »Fräulein Potts will ich nicht haben … Ich lasse mich nicht gern ausspionieren … O, ich weiß mehr als Sie denken! Ich weiß, warum Sie Fräulein Potts vorschlagen …«

Gervis, der bisher in seinem Schaukelstuhle zurückgelehnt geruht hatte, richtete sich langsam in die Höhe und sah seiner Frau ins Gesicht: »Darf ich fragen, was für Motive Sie mir zuschreiben?« fragte er in aller Liebenswürdigkeit.

Varinka machte ihren Fächer mehreremale auf und zu und wandte sich dann mit einem kurzen, verlegenen Lachen weg. »Es ist nicht von Bedeutung. Ich wollte Ihnen gar nichts zuschreiben.«

»O, ich dachte, Sie wollten es.« Gervis ließ sich wieder in seinen Stuhl zurückfallen. »Aber, wie Sie sagen, es ist nicht von Bedeutung, und die bewundernswürdige Potts hat auch ihre Mängel. Ohne Zweifel werden Sie leicht eine von Ihren Verwandten bewegen können, ihre Stelle auszufüllen. Jetzt aber reden wir von der Gunst, die Sie von mir zu erbitten hatten. Vielleicht darf ich wagen, anzunehmen, daß es sich um Geld handelt.«

Die Prinzessin nickte.

»Wieviel?« fragte Gervis lakonisch.

Varinka zögerte einen Augenblick und nannte dann eine so große Summe, daß Gervis, der sich rühmte, nie Ueberraschung zu zeigen, ein leichtes Aufzucken der Augenbrauen nicht unterdrücken konnte. Er machte jedoch keine Bemerkung, sondern erhob sich in seiner langsamen, leidenden Weise, durchschritt das Zimmer, setzte sich an seinen Schreibtisch und schrieb eine Anweisung auf seinen Banquier.

Varinka murmelte eine verwirrte Erklärung.

»Diese Pariser Geschäftsleute sind Spitzbuben! Wenn Sie nur die Rechnungen sehen könnten, die ich bezahlen mußte! Ich war gezwungen, im Frühjahr die ganze Wohnung neu tapezieren zu lassen. Und der neue Wagen, wovon ich Ihnen erzählt habe – ich bin gewiß, daß ich ihn habe doppelt bezahlen müssen, nur daß ich die Quittung nicht finden konnte. Aber alles das ist noch nichts. Meine Tante Sophie hat sich um Hilfe an mich gewandt. Sie wissen, von seinem eigenen Fleisch und Blut kann man sich nicht lossagen, und ohne diesen Vorschuß wäre sie einfach ruiniert gewesen. Ihre Besitzungen haben ihr dieses Jahr auch nicht einen Sou eingebracht. Vielleicht bin ich bis Weihnachten imstande, Ihnen einen Teil zurückzuzahlen.« –

Gervis drehte nicht einmal den Kopf herum. Er unterschrieb seine Anweisung, drückte sorgfältig ein Löschblatt darauf, stand dann auf und überreichte sie seiner Frau mit einem schwachen Lächeln. »Ihre Tante Sophie muß eine sehr verschwenderische Person sein,« bemerkte er.

Varinka sah ihn schweigend an. Dann rief sie, wie von einem unwiderstehlichen Drange getrieben: »Sie glauben mir nicht!«

»Nicht im mindesten,« erwiderte ihr Gemahl höflich und mit vollkommener Ruhe.

Die Prinzessin brach in ein herzliches, durchaus unverstelltes Lachen aus, hielt aber plötzlich an sich und wurde ernst, wie ein Kind, das sich vor Scheltworten fürchtet.

»Ich muß Sie wirklich wegen meiner Unhöflichkeit um Entschuldigung bitten,« sagte Gervis. »Es muß das Klima dieser Insel sein, das mich brutal macht. Meine einzige Entschuldigung ist, daß Sie mir erst gestern morgen erzählt haben, Ihre Tante habe zum zweitenmale geerbt.«

»Das ist wahr. Das hatte ich vergessen,« sagte Varinka und lachte von neuem. Sie war durchaus nicht beleidigt oder beschämt, sondern im Gegenteil sehr erheitert über ihre eigene Thorheit und ihres Gatten wunderliche Art.

»Wollen wir eine Übereinkunft treffen?« schlug Herr Gervis vor. »Wir fingen beide damit an, daß wir sagten, wir hätten eine Gunst zu erbitten. Sie sind jetzt in der Lage, die Bedürfnisse Ihrer Tante Sophie oder vielleicht einer Ihnen noch näherstehenden Person zu befriedigen. Erlauben Sie mir für meinen Teil, Genoveva auf einige Wochen hier zu behalten und so die Laune einer mir besonders teuren Person zu befriedigen.«

»Ich verstehe Sie nicht. Von was für Personen sprechen Sie?« fragte Varinka beunruhigt.

»Nun, gibt es einen Menschen in der Welt, den Sie und ich mehr lieben als uns selbst?«

»Uns selbst?«

»Ich sage: uns selbst, nicht: uns gegenseitig, bien entendu. Sie werden also gütig genug sein, mir diese kleine Gefälligkeit nicht zu versagen? Tausend Dank. Genoveva soll Ihnen wieder zugestellt werden, sobald sie es unerträglich findet – möglicherweise noch eher.«

»Und Sie versprechen mir, daß sie nicht den jungen Mann heiraten soll, den Sie mit auf die Jachtfahrt geschickt haben?«

»Der Himmel verhüte, daß ich irgend ein Versprechen geben sollte, wo ein Weib beteiligt ist! Indessen will ich so weit gehen, zu sagen, daß ich nichts Unwahrscheinlicheres wüßte.«

Mit dieser bestimmten Erklärung gab sich denn Varinka zufrieden und zog sich zu ihrer Nachtruhe zurück. Gervis öffnete ihr die Thür und machte eine tiefe Verbeugung, als sie an ihm vorüberrauschte. Ehe sie aber zu Bett ging, stattete sie noch ihrer Stieftochter einen Besuch ab, um ihr die Aenderung in ihren Plänen anzuzeigen. Varinka hatte doch schließlich eine Art von einem Gewissen – wenn es auch eine recht seltsame Art war – und fühlte sich durch dasselbe vielleicht gedrungen, ihrem Gatten für die Anweisung in ihrer Tasche auch eine Liebe zu erweisen.

»Weißt du, Gen,« sagte Varinka heiter, »ich werde dich nun doch in der Höhle des Menschenfressers lassen. Ich habe mir die Sache überlegt und bin zu dem Entschluß gekommen, nicht selbstsüchtig zu sein. Ich weiß, daß du ganz gern noch etwas mehr von England sehen möchtest; das ist ganz natürlich, und es wäre nicht recht von mir, dich nun so schnell wieder mit fortzunehmen. Ich habe ihm das auch gesagt, und er gibt mir recht. Er hat auch Eigenschaften, die einen mit ihm aussöhnen könnten, ein solcher Wehrwolf er auch sonst ist. Er wird dich nicht auffressen, im Gegenteil, er will gut zu dir sein und will dir so viel Vergnügen bereiten, wie du es nur wünschen wirst. Nur denke ich, wirst du gut thun, nicht unfreundlich gegen ihn zu sein, wenn du ihn jetzt sehen wirst. Nein, nein, ich will keine Einwände hören, es bleibt dabei. Amüsiere dich recht sehr, ma petite, und vergiß deine arme Varinka nicht, die sich ohne dich diese langen Wochen über recht einsam fühlen wird.«

So begab sich die Prinzessin zur Ruhe mit dem besänftigenden Gefühle, daß sie alles in ihrer Macht stehende gethan habe, um ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Vater und Tochter herzustellen. Daß sie die Thatsachen »nicht ganz korrekt dargestellt« hatte – um bei einer so reizenden Dame den Ausdruck »Unwahrheit« oder gar »Lüge« nicht anzuwenden – beunruhigte sie nicht im allermindesten. Claud pflegte zu sagen, Varinka sei nach ihrer ganzen geistigen und körperlichen Organisation absolut unfähig, die Wahrheit zu sagen, und es sei deshalb völlig unvernünftig, mit ihr darüber zu streiten.

Zwei Tage später spielte sich vor der Abfahrt des Schnellzuges auf dem Bahnhofe von Beachborough eine höchst ergreifende Scene ab. Eine zarte, distinguierte Dame, im denkbar zierlichsten und elegantesten grauen Reisekostüm, stand neben der Thür des für sie reservierten Coupés erster Klasse und preßte bald ihr Taschentuch an ihre Augen, bald ein hochgewachsenes junges Mädchen mit dunklem Haar an ihre Brust. Ein junger Herr, drei Diener mit Schirmen und Reisedecken und eine Kammerjungfer mit einer ganzen Wagenladung von Köfferchen, Täschchen und Kästchen hielten sich ein paar Schritte zurück, wie wenn sie es nicht über sich bringen könnten, diesen schmerzlichen Abschied zu unterbrechen. Erst als schon abgeläutet war und alle übrigen Passagiere auf ihren Plätzen saßen, konnten die beiden Damen bewogen werden, sich zu trennen. Der Zugführer, der die abreisende Dame mit »Euer Hoheit« anredete, mußte sie zweimal erinnern, daß der Zug auf sie wartete, und mußte sie schließlich noch halb in den Wagen schieben, ehe er seine Pfeife ertönen lassen und den Zug in Bewegung setzen konnte.

Die Gemütsbewegungen der Großen verfehlen selten, Interesse und Sympathie bei den Niederen zu erwecken, und noch ehe der Bahnhofsinspektor den Rang der erlauchten Reisenden enthüllt hatte, hatten die Zuschauer es schon als etwas sehr Rührendes empfunden, daß diese Besitzerin eines reservierten Coupés sich ihren Thränen überließ, wie ein gewöhnliches Menschenkind.

»Die Prinzessin von Youramuff in Deutschland,« gab der dienstfertige Beamte auf verschiedene Erkundigungen zur Antwort. »Verheiratet an Herrn Gervis von Southlands. Ihre Hoheit geht jetzt über Dover nach dem Kontinent. Bitte, treten Sie ein wenig zur Seite, damit die junge Dame vorbei kann.«

Der große Lord Courtney selber hätte nicht mehr Ehrfurcht einflößen können, als Genoveva, wie sie mit niedergeschlagenen Augen nach ihrem Wagen schritt.

Genoveva war sehr beschämt. Sie hatte nach ihrer Meinung Varinka viel zu leicht abreisen lassen. Ihr eigener Wunsch, noch einige Wochen in England bleiben zu dürfen, hatte sie viel zu sehr beeinflußt.

»Ich wünschte, ich hätte darauf bestanden, mit ihr zu gehen!« rief sie aus, als vor ihren geistigen Augen die einsam am Strande von Trouville Dahinwandelnde sich zeigte.

»Wie konntest du das, wenn sie darauf bestand, ohne dich zu gehen?« warf Claud ein. »Jedenfalls ist sie jetzt fort, und wir können sie nicht mehr einholen. So kannst du also nichts Besseres thun, als dich nach Kräften hier zu amüsieren. Siehst du das nicht ein? Geben wir uns ein wenig Mühe.«

Genoveva lächelte, denn sie war sich bewußt, daß sie sich Mühe geben mußte, um sich nicht schon jetzt ihrem Vergnügen zu überlassen. War es nicht schon ein anregender Genuß, in einem leichten Phaethon durch die lieblichste englische Landschaft dahinzusausen? Das an das Stadtleben gewöhnte Mädchen wurde schon durch eine so angenehme Fahrt in der warmen Sommerluft mit einem ganz neuen, süßen Entzücken erfüllt, und wenn sie die Erwartungen ihres Bruders von den Ergebnissen einer vertrauten Freundschaft mit Fräulein Nina Flemyng auch nicht ganz teilte, so war doch ihre Bewunderung nicht weniger echt wie die seine, als eine Biegung des Weges sie vor das alte, rote Haus führte, in welchem diese gastfreundliche junge Dame ihre Kindheit und Jugend verlebt hatte.

»Was für ein reizender Ort!« rief sie aus. »Etwas so Köstliches kann es eben nur in England geben.«

»Es ist ein schönes, altes Haus,« sagte Claud. »Malerisch, romantisch, aber dabei so durchaus wohnlich. Ein Haus, wie es nur von feingebildeten Leuten bewohnt werden kann. Gerade so ein Haus, worin ich mir Fräulein Flemyng vorstellen würde.«

»Wirklich?« fragte Genoveva, deren Begeisterung sich dabei ein wenig abkühlte. »Da kann man recht sehen, einen wie verschiedenen Eindruck dieselbe Person auf verschiedene Menschen machen kann. Ich hätte sie mit einer hellen, weißen, italienischen Villa voller Spiegel, schöner Möbel und allerlei buntem Schnickschnack zusammengebracht.«

»Wieso das?« fragte Claud überrascht.

Genovevas ganze Antwort darauf war: »Ich weiß es nicht, aber ich hätte es gethan.«



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