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Von Hugo von Blomberg.
Das war die Schlacht, die zornige Schlacht
auf Zorndorfs blutigen Wiesen.
Das war, als schlüge der Götter Macht
sich wider die alten Riesen.
Das war, als wenn wider Nordpoleis
sich Stürm' um Stürme wälzen,
und schnaubt ihr Zorn noch einmal so heiß,
die Gletscher wollen nicht schmelzen.
Die Russen waren das Nordpoleis,
die Stürme Preußengeschwader.
Wie standen die einen so fest und stramm,
so fügt sich Quader an Quader!
Wie wagten's die andern immer aufs neu,
so todeskühn und edel,
und prallten an und prallten ab
und brachen sich Ripp und Schädel!
Der Rosse Drang und der Pallasche Wucht,
sie wollten heut' nichts frommen,
und selber der Seydlitz kam zurück,
wie er nimmer zurückgekommen.
Sein Auge düster und bleich die Stirn
und blutig Lipp' und Sporen:
»Beim Teufel ist heut' unser gutes Glück
und die Bataille verloren.«
So grollte der Seydlitz müd und matt,
sonst aller Reiter Spiegel.
Da rief der Dietrich von Wackenitz
und hob sich keck im Bügel:
»Das sage mir keiner, daß mein Herr
und König das Feld verliere,
bevor seine Garde hat attackiert.
Wohlauf, ich attackiere!«
Und vorwärts reißt er auf Leben und Tod
die Reiter, dicht geschlossen.
Wie schwimmt und glimmt es silbern und rot
über all ihren dunklen Rossen!
Das kommt auf die Russen in Staub und Qualm,
sie sehen's wie im Traume,
ein Wettergewölk, die Gipfel im Licht,
mit Blitzen gestreift am Saume.
Und eben noch fern die Trompeten hell
wie steigende Lerchen singen,
und schon ist's heran, und schon ist's herein,
und nieder sausen die Klingen.
Und hei, gesprengt ist der lebende Wall
mit lautem Siegesrufe,
und über den knirschenden Russentrotz
hindonnern die preußischen Hufe.
Der Seydlitz sieht's und hinterdrein!
Was soll ich's euch lange noch sagen?
Ihr wißt, wie's den Russen bei Zorndorf ging:
sie standen, bis sie lagen.
Doch wer ein preußischer Reiter ist,
dem gilt es fortan wie beschworen:
»Eh' des Königs Garde hat attackiert,
ist keine Schlacht verloren.«
(12. August 1759.)
Von Reinhold Koser.
Die große Entscheidung, die Friedrich suchte und der sein Gegner gern ausgewichen wäre, verzögerte sich für den König unwillkommenerweise um die für den Oderübergang erforderliche Frist. Am 6. August nahm er, noch bei Müllrose, das bei Schidlo über den Fluß gekommene Wedellsche Heer auf, dem der Tag von Kay 7000 Mann gekostet hatte. Am 9. traf Finck ein. Nach den Tageslisten zählte die vereinigte Streitmacht jetzt 53 121 Mann mit 114 Geschützen, außer den Bataillonsstücken. Abgezweigt wurden 9 Bataillone und 3 Schwadronen, teils um das an der Oder zurückbleibende Gepäck und die Brücken zu decken, teils um während der Schlacht dem Feind den Rückzug auf das linke Ufer zu versperren. Mit der Hauptmasse schickte sich der König für die Nacht vom 10. auf den 11. zum Übergang an. »In zwei Tagen«, schreibt er am Abend, wieder an Finckenstein, »werdet ihr eine kleine Hymne an Fortuna richten müssen. Ich glaube, daß Hadik es auf Berlin abgesehen hat, und ich bin genötigt, mich hier zu beeilen, um seinen Streich beizeiten zu parieren. Ein Verdammter im Fegefeuer ist in keiner abscheulicheren Lage, als jetzt ich.«
Nachdem das Heer ungehindert bei Ötscher über den Fluß gelangt war, lagerte es sich ohne Zelte zwischen den Dörfern Leissow und Bischofssee. Von den Höhen bei Trettin hatte man den Einblick in die feindliche Stellung jenseits der von dem Hühnerfließ durchschnittenen sumpfigen Einsenkung.
Die Verbündeten hielten den 6–7000 Fuß langen, schmalen Hügelrücken besetzt, der die im Osten und Süden von Wald, dem Frankfurter Forst, begrenzte Feldmark von Kunersdorf nach Nordwest abschließt und sich dort zu dem steilen Talrand der Oder senkt. Die Front des Lagers war dem Strom zugekehrt, die erst später trocken gelegten Sümpfe des Hänkerbusches und des großen Elsbruches machten sie damals in ihrer ganzen Ausdehnung fast unzugänglich. Nur ein schmaler Saum von herabgeschwemmtem Sand legte sich zwischen die morastige Niederung und den Höhenzug: der Fahrweg von Trettin nach dem Frankfurter Brückendamme. Mehrere, durch tief eingeschnittene Schluchten voneinander getrennte sandige Erhöhungen, südwestlich die Judenberge, in der Mitte der große Spitzberg, nach Nordost, den Trettiner Höhen gegenüber, die breite Plattform des Mühlbergs, sprangen, mit Batterien gekrönt, nach der anderen Seite als Bastionen vor und waren durch Erdwerke und Laufgräben verbunden. Nach dem Erscheinen der Preußen auf dem rechten Oderufer ließ Ssaltykow, wie Fermor bei Zorndorf, das Heer Kehrt machen und brannte vor seiner nunmehrigen Front die Gehöfte von Kunersdorf nieder. Die Truppen standen in zwei Treffen auf dem Höhenzuge, die Reiterei und die Irregulären am Fuße der Judenberge, die Österreicher teils ebendort in der seither Laudonsgrund geheißenen Einsenkung, teils auf der Höhe im zweiten Treffen des rechten Flügels. Der Wagenpark war auf das jenseitige Ufer geschafft. Die russischen Schlachttruppen beliefen sich auf etwa 40 000 Mann, ihre Irregulären auf 10 000. Die Österreicher zählten 18–19000, einschließlich etwa 6000 Kroaten.
Den Schlüssel der Stellung bildeten die Judenberge. Wurde dieser Punkt bezwungen, so war nicht bloß das ganze Lager dem Feuer des Siegers ausgesetzt, den Besiegten war dann auch der Rückzug abgeschnitten. Es hat indes wohl von vornherein nicht in der Absicht des Königs gelegen, sich wie bei Prag und Kolin, Leuthen und Zorndorf an die ihm am weitesten abliegende Flanke des Feindes heranzuschieben, wo überdies im vorliegenden Falle der bis auf 300 Schritt an die Schanzen der Judenberge herantretende Wald der Artillerie eine wirksame Vorbereitung des Angriffs unmöglich gemacht hätte. Friedrichs Augenmerk scheint sich vielmehr sofort auf die ihm zugewandte Flanke, den Mühlberg, gerichtet zu haben: wenn er am nächsten Morgen für den Anmarsch zur Schlacht den Umweg durch die Neuendorfer Heide einschlug, so geschah das seiner Angabe nach, weil er in gerader Richtung von Trettin aus sich dem Mühlberge nur auf zwei schmalen, dem russischen Feuer ausgesetzten Dämmen hätte nähern können.
Zum Schutze der Batterien, die von den Trettiner Höhen aus die russische Flanke bestreichen sollten, blieb General Finck mit 8 Bataillonen und 21 Schwadronen zurück, während das Heer seit der zweiten Nachtstunde in zwei Kolonnen über das Hühnerfließ durch den sandigen Forst vorrückte, bis eine langgestreckte Sumpfniederung, die südliche Fortsetzung des Seenbeckens von Kunersdorf, sich dem Marsche vorlegte. Noch im Walde, da kein Unterholz hemmte, wurde aufmarschiert; der linke Flügel, hinter dem fast die ganze Reiterei stand, wurde zurückgehalten, der zum Angriff bestimmte rechte lehnte sich an das Hühnerfließ; voran rückte ein Vortreffen von acht Bataillonen bis hart an den vor dem Mühlberg liegenden, zu dem Bäckergrunde abfallenden Ausgang des Waldes. Auf zwei Waldhöhen am Saume, sowie auf dem kleinen Spitzberg bei Kunersdorf wurden Batterien errichtet.
Erst eine halbe Stunde vor Mittag, denn der beschwerliche Marsch und Aufmarsch im Holze hatte unendliche Zeit erfordert, eröffneten die Batterien aus 60 Geschützen das Feuer gegen den Mühlberg. Bald glitten die Grenadiere des Vortreffens ans ihrem Waldversteck in den Bäckergrund hinab und kletterten jenseits empor, auf 100 Schritt aus den russischen Verschanzungen mit Kleingewehrfeuer und Kartätschen begrüßt. Sie antworteten mit einer Salve und überstiegen mit gefälltem Gewehr die Erdaufwürfe und das in hellen Flammen stehende Verhack. 15 russische Bataillone wandten sich zur Flucht, der Mühlberg mit 40 Geschützen gehörte den Preußen, die Erstürmung hatte ihnen nur etwa 200 Tote und Verwundete gekostet.
Mit der glänzenden Einleitung der Schlacht war für die Angreifer so viel gewonnen, wie am Tage von Leuthen durch die Überwältigung der Höhen von Sagschütz. Aber wenn damals der geschlagene Flügel des angegriffenen Heeres haltlos bis auf die Zentralstellung zurückgerollt war, so bot heute den Russen für die verlorene Flankendeckung schnell eine jener tiefen Falten des Geländes Ersatz und hemmte die Schritte der mit Siegesgeschrei von dem erstürmten Mühlberg her andrängenden Verfolger: der Kuhgrund, durch den vielleicht ehedem der Kunersdorfer Dorfteich und die beiden oberhalb des Ortes liegenden Gewässer, der blanke und der faule See, ihren Abfluß zum Odertal genommen haben, eine etwa 400 Schritt lange, stellenweise bis zu 40 Fuß tiefe Schlucht mit breiter Sandsohle, an den steilen Rändern mit kurzem, glattem Rasen bekleidet. Hinter diesem Einschnitt bildete der Feind aus frischen Truppen, auch österreichischen, mehrere Linien, während zugleich inmitten der Trümmer des an den Grund anstoßenden Kunersdorf der ummauerte Kirchhof stark besetzt wurde.
Wäre auf preußischer Seite Reiterei zum Einhauen und Artillerie zum Nachfeuern gleich in größerer Masse zur Hand gewesen, so würde die Verwirrung unter den Russen viel verheerender um sich gegriffen haben. Vor allem aber fehlte es der glänzenden Attacke der Grenadiere auch an sofortiger Unterstützung durch frische Infanterie. Zwar auf der Plattform des Mühlberges häuften sich die preußischen Bataillone derart, daß der Feind vom Spitzberg aus eine einzige dichte Kolonne zu erblicken glaubte; aber statt nun dem Vortreffen nachzurücken, verirrten sich die Bataillone des rechten Flügels so weit nach rechts, daß sie in das Elsbruch hinunterkamen und erst nach anderthalbstündiger Verspätung wieder oben und zur Ablösung des Vortreffens bereit waren.
Inzwischen mühten sich die braven Grenadiere vergebens damit ab, wie den Mühlberg so auch den steilen jenseitigen Hang des Kuhgrundes zu erklettern; wer sich emporarbeitete, ward hinuntergestoßen. »Das Würgen«, erzählt ein Augenzeuge, »war auf beiden Seiten entsetzlich, weil die Truppen an manchen Orten nicht fünfzig Schritt auseinander standen und das kleine Gewehr in seiner vollen Stärke wirkte.« Unter diesen Umständen beschränkten sich die Grenadiere, ohne Unterstützung gelassen, bald auf ein Schützengefecht.
Was dem Frontalangriff nicht gelang, wurde endlich durch Bedrohung der feindlichen Flanken erreicht. Zur Rechten des Grenadierkorps drang längs der Niederung des Elsbruches die Abteilung des Generals Finck vor, der, durch die Batterien des Mühlbergs nicht mehr gehemmt, von Trettin her über die Dämme herangekommen war. Zur Linken stürmte das Regiment Knobloch vom rechten Flügel den Kunersdorfer Kirchhof und öffnete dadurch sich und den Nachbarregimentern zwischen dem Dorfsee und dem Kuhgrund ein Angriffsfeld.
Die feindlichen Truppen räumten den so lange hartnäckig behaupteten Talrand und wurden hinter die neue Verteidigungsstellung zurückgenommen, welche die Heeresleitung inzwischen ausgewählt und hergerichtet hatte: eine etwa 1000 Schritt lange, an beiden Enden durch starke Redouten eingefaßte Querlinie im Zuge der Bodenwelle, die sich von dem großen Spitzberge bis zum tiefen Grunde, der hinter dem Kuhgrund das Schlachtfeld durchschneidenden Schlucht, allmählich absenkt.
An dieser Schranke und insonderheit an dem Bollwerk des großen Spitzberges sind alle weiteren Angriffe der Preußen, deren schwere Geschütze nicht in genügender Anzahl zur Stelle geschafft werden konnten, gescheitert.
Auf der äußersten Rechten, am Elsbruch, kamen Fincks Bataillone, zwischen dem Kuhgrund und dem tiefen Grund, unter die Kartätschenladungen der auf der Höhe aufgestellten Batterien und das Gewehrfeuer immer neuer Gegner. Hier fiel beim Regiment Hausen der Major Ewald v. Kleist, zum Tode verwundet, in die Hände der Kosaken. Den von Kunersdorf herbeigerufenen Reitern des Prinzen Friedrich Eugen von Württemberg gelang es, obgleich sie auf dem schmalen Sandwege zwischen Sumpf und Hügel nur »zu zwei Mann hoch« defilieren konnten, aus der Niederung auf die Hochfläche zu kommen; sie ritten ein Musketierregiment über den Haufen und bedrohten schon die eine der großen Batterien, als zwei russische und ein österreichisches Reiterregiment sie anfielen und von den Höhen hinunterwarfen. Der Prinz selber wurde schwer verwundet.
Ebenso ergebnislos verlief das Gefecht auf der Kunersdorfer Seite. Vom Dorfe her strebten die Regimenter Knobloch, Prinz Heinrich, Finck dem großen Spitzberg zu, und zeitweise ist die Höhe, aber noch nicht die große Redoute, in ihrem Besitz gewesen: der König gedenkt eines Augenblickes, in welchem sein Fußvolk von der schon verlassenen Batterie nur noch 150 Schritt entfernt gewesen sei, als herbeieilende feindliche Reserven den Preußen einen Vorsprung von wenigen Minuten abgewonnen und dann das Kartätschenfeuer aus nächster Nähe auf die Angreifer gerichtet hätten.
Der zurückgehaltene linke Flügel des preußischen Heeres hatte bisher hinter der fast eine viertel Meile langen Linie der Sümpfe und Seen oberhalb von Kunersdorf gestanden. Es kam die Stunde, da auch er eingesetzt werden mußte. Als er zum Kampf anrückte, sollen von den mehr als 30 bisher ins Feuer geschickten Bataillonen kaum noch 21 gegen den Feind gestanden haben.
Nach Friedrichs Theorie sollte die »Refüsierung« des einen Flügels vor allem dem Zwecke dienen, bei einem Mißerfolg des Angriffsflügels dem Heere den geordneten Rückzug zu sichern. An diesem 12. August stellte der König wieder wie bei Lenthen und Zorndorf dem aufgesparten Flügel schließlich eine andere Aufgabe, die Fortführung des stockenden Angriffs, und setzte sich damit über die Sorge um den Rückzug gänzlich hinweg. Im preußischen Offizierkorps, unter den Mitstreitern von Kunersdorf, pflanzte sich die von Gaudi aufgezeichnete Aberlieferung fort, daß nach der Wegnahme des Kuhgrundes, als zwei Drittel des vor der Schlacht vom Feinde besetzten Bodens erobert waren, General Finck dem Könige geraten habe, sich ferneren Angriff zu ersparen, »da die Bataille völlig gewonnen sei, unsere Infanterie viel gelitten hätte und der Feind gewiß nur die Nacht abwarten würde, um sich längs der Oder durch die Wälder zurückzuziehen«. Der König soll geantwortet haben: der Feind habe gar keine Retraite, wenn er in das Odertal geworfen würde; man müsse die Russen dergestalt in Schrecken setzen, daß ihnen die Lust vergehe, künftig die preußischen Staaten zu betreten. Andere wollten wissen, daß auch Seydlitz, ja alle Generale, den einzigen Wedell ausgenommen, die erlangten Vorteile als ausreichend angesehen hätten; ja es ist behauptet worden, daß man schon nach der Bezwingung des Mühlberges hätte einhalten können oder müssen – eine Meinung, auf die Tempelhoff treffend erwidert hat: das heiße, der König hätte gerade in dem Augenblick haltmachen sollen, da er alle Wahrscheinlichkeit auf seiner Seite hatte, den vollkommensten, entscheidendsten Sieg zu erringen. Ob in irgendeinem späteren Zeitpunkt, etwa nach Erschöpfung des rechten Flügels, der Kampf zweckmäßig abgebrochen worden wäre? Der in der Schlacht verwundete General Hülsen hat bald darauf erklärt, daß auch er als Feldherr die letzte Stellung des Feindes angegriffen haben würde; daß der König Tadel verdient hätte, wenn er es hätte unterlassen wollen. Und schon fünf Tage nach der Schlacht schrieb der Reitergeneral Platen an den Prinzen Heinrich, er könne den Vorwurf, daß der König nach der Wegnahme des Dorfes nicht eingehalten habe, nicht als berechtigt anerkennen; nur war Platen der Meinung, daß es sich in dem bezeichneten Zeitpunkt empfohlen haben würde, nunmehr mit dem linken Flügel die feindliche Stellung in ihrer rechten Flanke zu umfassen. Die ihn wegen seiner Verwegenheit und Ungenügsamkeit gescholten haben, und Friedrich selbst, haben dabei immer angenommen, daß das Hindernis, an dem der Angriff sich brach, der große Spitzberg, bereits das letzte Bollwerk des Feindes, d. h. der Judenberg oder gar der ganz nahe an Frankfurt gelegene Judenkirchhof gewesen sei, und diese irrige Annahme hat die Tadler in ihrer Vorstellung von der Zugänglichkeit des erstrittenen Teilerfolgs, den König aber in seiner Tendenz auf völlige Vernichtung des Gegners bestärkt. In Wirklichkeit hätten die Verbündeten auch nach Verlust des großen Spitzbergs immer noch eine Zuflucht hinterwärts gefunden und würden so den letzten Abschnitt des Schlachtfeldes behauptet haben, obgleich die auf dem Judenberge aufgestellte Reserve schließlich, in dem Maße, als der preußische Angriff Zug um Zug ihre Abberufung erheischte, bis auf sechs österreichische Bataillone und drei Husarenregimenter zusammenschrumpfte.
Die Tadler, denen des Königs zähes Festhalten an dem lockenden Bilde eines Vernichtungsschlages ein Ärgernis oder eine Torheit gewesen ist, waren dieselben, die sein kühnes Bataillieren von vornherein verurteilten. Oft mit ihren Ausstellungen einverstanden, hat ein späterer Kritiker, der Franzose Jomini, für die Beurteilung des Entschlusses von Kunersdorf doch das richtige Wort gefunden: es sei lächerlich, einem General nachträglich vorzuwerfen, daß er den Sieg habe verfolgen wollen – wie dürfe man einen großen Mann tadeln, wenn er die Hälfte eines verschanzten Lagers in seine Gewalt gebracht, daß er den Rest über den Haufen zu rennen gesucht habe? Und vergessen wir nicht, daß dem Könige, als sein rechter Flügel erlahmte und wich, noch 20 unberührte Bataillone, deren Mehrzahl allerdings in der Schlacht bei Kay gelitten hatte, und die große Masse seiner Reiterei zur Verfügung standen.
Es bleibt dahingestellt, ob es möglich gewesen wäre, wie Platen und spätere es gewünscht hätten, diese frischen Bataillone durch die Seeniederung hindurchzuziehen und zu einer Umfassung der feindlichen Stellung von der Südseite her zu verwenden. Genug, daß sich der König dahin entschied, seinen Angriff immer wieder auf denselben Punkt zu richten und also auch den linken Flügel auf dem beengten Raum rechts vom Dorfteiche gegen den großen Spitzberg losstoßen zu lassen: zu dem Behuf mußten die Bataillone erst längs der Seenlinie bis zu dem Kunersdorfer Kirchhof heranmarschieren.
Auf dem Gelände südlich des Dorfes blieb somit nur die Reiterei. In halber Zugbreite waren die Schwadronen auf dem etwa 200 Schritt messenden Talboden zwischen dem Dorfteich und dem blanken See hindurchgegangen und hatten sich unter dem Schutz einer Bodenanschwellung formiert. Seydlitz, der den Verlauf des Kampfes anfänglich von dem kleinen Spitzberg bei Kunersdorf überschaut hatte, war auf den rechten Flügel zu dem Könige geritten, um ihm vorzustellen, daß die Kavallerie auf dem vor ihr liegenden Felde nicht wohl angreifen könne. Auf dem Standort des Königs wurde ihm durch eine Kugel der Degengriff in die Hand hineingetrieben; er mußte sich ebenso vom Kampfplatze fortschaffen lassen wie der andere Reitergeneral, der Württemberger. An den Attacken dieses Tages hat der Sieger von Zorndorf somit keinen Teil gehabt.
Nicht in Masse, nur truppweise, gleichsam tastend, schickten sich die Reiter zum Angriff an. Die preußischen Pallasche verstanden vortrefflich, unter gelockerter Infanterie aufzuräumen; sie hatten im freien Felde auch schon Batterien genommen; hier aber, bei dem Angriff auf ein befestigtes Lager, trennten den Angreifer von den Feuerschlünden, die ihn jetzt mit Kartätschen überschütteten, Schanzen und Wälle, Palisaden und Wolfsgruben. Der Angriff brach sich und flutete zurück.
Generalleutnant v. Platen, der das zweite Reitertreffen führte, erkannte, daß hier das Spiel zu hohen Einsatz erheischte. Er zog sich mit der ganzen Kavallerie dieses Flügels nach links, so daß er die Verschanzungen des Spitzberges nun zu seiner Rechten hatte, und ließ durch die Dragoner von Schorlemer ausspähen, ob die Redoute von Hutten zu umgehen sei. Dort aber zeigten sich große Kavalleriemassen, die Batterien deckend und von ihnen gedeckt.
Es war fünf Uhr vorüber. Das Feuer des kleinen Gewehrs hatte bisher ununterbrochen angedauert. Sämtliche Bataillone auch des linken preußischen Flügels hatten der Reihe nach ihre Kraft an den feindlichen Schanzen versucht, sämtlich vergebens: der Feind hat, so besagt der österreichische Schlachtbericht, »bei seiner wenigstens siebenmal erneuten Attacke jedesmal mit frischen Truppen kämpfen müssen«. Diese abgearbeitete, todmüde Infanterie war für den Gnadenstoß reif. Mit vier Kompagnien reitender Grenadiere und im zweiten Treffen mit zehn Schwadronen Dragonern brach Laudon am Hänckerbusch quer durch die eigenen Bataillone aus Staub- und Rauchwolken jählings in die preußische Feuerlinie ein. Ihr letzter Zusammenhalt löste sich, was noch stand und zum Teil noch eben avancierte, flüchtete nach Kunersdorf und über den Kuhgrund zurück. Die Entscheidung war gefallen.
Vom Kuhgrund bis auf den Mühlberg, in dem in den ersten Nachmittagsstunden erkämpften Teil des russischen Lagers, stauten sich die Trümmer aller an diesem blutigen Sonntag im Feuer gewesenen Bataillone und bargen sich in den Bodenfalten gegen den Traubenhagel der berühmten weittragenden Haubitzen von Peter Schuwalows Erfindung. Seit fünfzehn Stunden auf den Beinen – auf dem Marsch, während des Haltens und im Kampfe dem Sonnenbrand eines erdrückend heißen Augusttages ausgesetzt, war die Truppe jetzt völlig verbraucht; auch die Gegenwart und das Beispiel des Königs fruchtete nichts mehr. »Der König«, berichtete ein schlichter westfälischer Musketier nach der Schlacht in die Heimat, »ist allzeit vorn gewesen und hat gesagt: ›Kinder, verlaßt mich nicht,‹ und hat noch zuletzt eine Fahne von Prinz Heinrichs Regiment genommen und gesagt: ›Wer ein braver Soldat ist, der folge mir!‹ Wer noch Patronen hatte, ging getrost. Zuletzt soll er selber Rechtsum! kommandiert haben und gesagt: ›Ziehet euch zurück, Kinder!‹«
Zwei Pferde waren ihm unter dem Leibe zusammengeschossen. Eine Flintenkugel, die ihm den Tod hätte bringen müssen, prallte an dem goldenen Etui in seiner Tasche ab, nachdem sie es plattgedrückt. Die Beschwörungen seiner Begleiter, sich dem Feuer zu entziehen, wies er mit den Worten ab: »Wir müssen hier alles versuchen, um die Bataille zu gewinnen, und ich muß hier wie jeder andere meine Schuldigkeit tun.«
Erst auf dem Mühlberg gelang es ihm, mit den beiden Bataillonen des schlesischen Regiments Lestwitz und einiger Reiterei unter dem Schutze einer sechspfündigen Batterie eine neue Front zu bilden, worauf, wie ein russischer Bericht sagt, »seine Attacke unter entsetzlichem Artilleriefeuer den Anfang nahm und eine solche Wirkung tat, daß unsere Truppen, welche sich zum Teil verschossen hatten, wieder zu pliieren anfingen«.
Hier hätte eine starke Kavalleriereserve die völlige Niederlage noch wenden mögen. Der König hat sich nachher beklagt, daß zwei Stunden vor Ausgang des Kampfes keine Reiterei mehr sich habe sehen lassen. Auf dem linken Flügel war Platen in seiner dem eigentlichen Schlachtfelde weit entrückten abwartenden Stellung plötzlich von österreichischen und russischen Schwadronen angefallen worden. Zwei Angriffen hielt er stand, dann aber kam seine Reiterei in volle Unordnung und flüchtete an Kunersdorf vorbei den Wäldern zu, durch die man am Morgen gekommen war; bei den Kunersdorfer Kohlgärten lagen die toten Kürassiere mit ihren großen schwarzen Pferden ganz dicht. Auf der Oderseite, dem rechten Flügel, waren immerhin noch einige Regimenter zur Stelle. An der Spitze seiner weißen Husaren fand General Puttkamer den Heldentod; zwei Schwadronen Leibkürassiere hieben in das Infanterieregiment Narwa ein, wurden aber von den Tschugoschow-Kosaken in den Sumpf gedrängt und verloren ihren Kommandeur als Gefangenen und eine Standarte. Nachher bekamen die Krockow-Dragoner mit den Kosaken »alle Hände voll zu tun«, bis sie ihnen durch Anzündung eines Verhacks den Weg sperrten.
Der Widerstand des Königs und seiner letzten Getreuen am Mühlberg gab dem geschlagenen Heere eine knappe Frist für den Rückzug über die Dämme nach Trettin. Nun aber wurde es auch für die kleine Schar dort oben hohe Zeit zum Abzug. Schon wurde in ihrem Rücken das Regiment Pioniere, das während der Schlacht die Batterien am Dorfe gedeckt hatte, umzingelt und zum größten Teil gefangen. Als einer der letzten verließ den letzten Kampfplatz der König; starren Auges, wie in Betäubung versunken. »Kann mich denn keine verwünschte Kugel treffen?« hörte man ihn sagen. Hart hinter ihm her kommen Kosaken angesprengt, ein Entrinnen scheint nicht mehr möglich. »Prittwitz, ich bin verloren,« ruft der König dem Rittmeister von den Leibhusaren zu, der mit einem Kommando von seinem Regiment die Stabswache bildet. »Nein, Ihre Majestät, das soll nicht geschehen, solange noch ein Atem in uns ist,« antwortet Prittwitz und schlägt mit seinem Häuflein in wiederholtem Angriff die Verfolger ab. Nie hat ein Regiment des Ehrennamens einer Leibtruppe sich in eigentlicherem Sinne wert gezeigt, und zeit seines Lebens hat der König seinem Retter diesen Dienst nicht vergessen.
In dem Lager von gestern, wo die in verschiedenen Richtungen Geflüchteten wieder zusammentrafen, war ihres Bleibens nicht lange. So groß war der Schrecken der Mannschaft, daß gegen zehn Uhr in der Nacht auf den blinden Lärm vom Nahen der Kosaken alles weiterlief, während doch der Feind vom Verfolgen sehr bald abgelassen hatte. Erst in dem Winkel zwischen Warthebruch und Oder vor den Brücken bei Ötscher kam die Flucht zum Stehen. Niemand, der nicht verwundet war, wurde herübergelassen. Das ganze Dorf war mit Verwundeten überfüllt, der König nahm seine Unterkunft in einem Hause am Ufer. Eine kurze Mitteilung von dem Geschehenen an Finckenstein schloß mit den Worten: »Von einem Heer von 48 000 Mann habe ich nicht mehr 3000. In dem Augenblick, da ich dies schreibe, flieht alles, und ich bin nicht mehr Herr meiner Leute. Man wird in Berlin wohl daran tun, an seine Sicherheit zu denken. Es ist ein grausamer Schlag, ich werde ihn nicht überleben, die Folgen der Affäre werden schlimmer sein als die Affäre selbst. Ich habe keine Hilfsmittel mehr, und, um nicht zu lügen, ich glaube alles verloren. Ich werde den Untergang meines Vaterlandes nicht überleben. Adieu für immer!«
R. Koser, König Friedrich der Große. Band II.
Stuttgart. J. G. Cottasche Verlagsbuchh. Nachf.
Von E. Handen.
Der Unglückstag von Kunersdorf riß auch einen der Edelsten aus jenem edlen Geschlecht nieder, das mit größerem Recht als irgendein anderes Leier und Schwert im Wappen tragen darf: Ewald Christian von Kleist ward auf den Tod verwundet. Der Sänger und Soldat hatte sich in Wahrheit als rechter Held gezeigt. Drei russische Batterien hatte er mit seinem Bataillon erobert und dabei zwölf Wunden davongetragen. Als ihm die Finger der rechten Hand zerschmettert waren, nahm er, nach echter Preußenart, den Degen in die linke Hand, und als ein Schuß den linken Arm zerschmetterte, da griff er wieder mit der verwundeten Rechten nach der Waffe. Schon sprengte er gegen die vierte Batterie heran, da ereilte ihn sein Verhängnis, ein Kartätschenschutz zerschmetterte ihm das rechte Bein, und mit dem Ruf: »Kinder, verlaßt euren König nicht!« sank er herab vom Pferde. Noch aber wollte der Held das Schlachtfeld nicht verlassen, denn unerschüttert stand die feindliche Batterie vor ihm – sie sollte, sie mußte genommen werden! Zweimal versuchte er es, sich wieder auf sein Pferd heben zu lassen, doch vergebens – des Schicksals eherner Wille war mächtiger als der seine. Er mußte einwilligen, sich hinter die Front tragen und verbinden zu lassen. Da riß dem Feldscher neben ihm eine Kugel das Haupt vom Rumpfe. Hilflos und allein blieb der Schwerverwundete liegen; die Kameraden hatten, besiegt, das Schlachtfeld räumen müssen; – Rußlands wilde Krieger beraubten den hilflosen Offizier und warfen ihn in einen Sumpf. Die ganze furchtbare Nacht über lag der Unglückliche nackt und fiebernd im Moraste. Erst am Mittag des anderen Tages fand ihn ein russischer Offizier, dem der Name Kleist, als er ihn von den Lippen des Verwundeten hörte, nicht fremd war. Er ließ den Dichter in trockene Kleider hüllen und alsbald nach Frankfurt in das Haus des Professors Nikolai bringen, wo er vierundzwanzig Stunden nach seiner Verwundung die erste ärztliche Hilfe erhielt. Trotz seines schwerleidenden Zustandes, den die entsetzliche Nacht auf das Äußerste verschlimmert hatte, hoffte man ihn dennoch zu retten. Doch vergebens. Am zwölften Tage nach der Schlacht bei Kunersdorf trat der Genius des Todes an Christian Ewald von Kleists Schmerzenslager und löste mild jeden Zwiespalt, der das Leben des Dichters verbittert, stillte den Schmerz, der in der Brust des Mannes gelebt hatte. Am 24. August hörte das treue und große Herz zu schlagen auf.
Als man den Verblichenen zur Ruhe bestatten wollte, fehlte ein Preußendegen, den Sarg des toten Helden zu schmücken; der seinige ruhte ja draußen auf blutiger Wahlstatt! Da legte ein russischer Offizier den eigenen Degen auf die Bahre und hat dadurch sich selbst so hoch geehrt wie den Feind, dem er die letzte Ehre erweisen wollte. Auf einem Kirchhof zu Frankfurt an der Oder wurde der Dichterheld bestattet. Eine einfache Siegessäule aus Sandstein ist sein Grabmonument, das die Inschrift trägt: » Ci gît le guerrier le poète Chrétien Ewald de Kleist, né le cinq mars 1715, mort le vingt-quatre 1759«. Und darunter:
»Für Friedrich kämpfend, sank er nieder,
so wünschte es sein Heldengeist.
Unsterblich groß durch seine Lieder,
der Menschenfreund, der weise Kleist.«
Den schönsten Grabesschmuck aber hat er sich selbst geflochten: den Lorbeerkranz des Dichters und des Helden.
Von Franz Lüdtke.
Er schritt durch die Zelle, die Zelle war eng.
er trug nicht Sporen, nicht Waffengehäng;
durch vergitterte Fenster das Grauen blickt,
kein Schlafrock hüllte ihn, seidengestickt.
Ein hölzerner Schemel sein ganzes Fauteuil,
die Bibel vor ihm – kein Voltaire, kein Corneille.
Aus Wänden und Decken der Schatten fiel,
Rattenrascheln statt Flötenspiel.
Aus Schatten aber löst sich's und hallt,
es wächst zum Schemen, es wird Gestalt,
es rührt ihm die Schulter, es rüttelt ihn:
ein blasser Leutnant vom Hof in Küstrin.
Der blasse Leutnant blickt ihn an,
er flüstert, er bittet, er schreit: »Werde Mann!«
Mann ... Die Wände hallen es nach,
Mann ... es zittert um Turm und Dach,
Mann ... es schwingt übers breite Land,
Mann ... es hält den Prinzen gebannt,
packt seine Seele, schüttelt ihn:
das Wort des Leutnants vom Hof in Küstrin.
Da schaut er sein Ich, und sein Ich ist tief,
da fühlt er Kraft, die im Dunkeln schlief,
er spürt Erwachen aus wirrem Traum,
er greift ins Leben, will Atem, Raum –
da – wird er Mann! Wird König! Genie!
Da drängen sich Leuthen und Sanssouci
ahnend in einer Stunde Schlag.
Die Schatten weichen, es flutet der Tag!
Und zum letztenmal salutiert am Kamin
der blasse Leutnant vom Hof in Küstrin.
I.
Von Marie v. Bunsen.
Der Weg zur Stadt führte an Bastionen vorbei, stilles Wasser umschloß die Mauern, dort wuchsen Schilfhalme und lila Wicken, Wasserlilienblätter mit verspäteten Blüten lagen auf dem tiefdunklen Spiegel. Ich kam durch das Tor: altmodische Provianthäuser, ein baumbestandener Platz, eine Zopfkirche, das große Schloß, die Fassade des Zeughauses aus dem 18. Jahrhundert mit großen Wappen und Ornamenten jener Zeit. Hierher hatte man den gefangenen Kronprinzen gebracht; dort, jene Berliner Straße herunter, kam am 2. September ein verschlossener Wagen; weder er noch seine Begleiter wußten, ob er das Schloß, in dessen Hof sie einbogen, lebend verlassen werde. » A quelle barbarie j'ai été livré dans cette infernale citadelle!« Am 6. November, nach strengster Haft, kam der furchtbare Tag der Hinrichtung seines Freundes. Hatte Katte den Tod verdient? Das Kriegsgericht erkannte auf lebenslängliche Festung. Der König stieß das Urteil um: »Das Kriegsgericht soll wieder zusammenkommen und anders sprechen.« Das Gericht blieb bei seinem Spruch. Friedrich Wilhelm dekretierte den Tod; man hat seine Begründung sehr bewundert, »es soll ihm gesagt werden, daß es Sr. Königl. Majestät sehr leid täte, es wäre aber besser, daß er stürbe, als daß die Justiz aus der Welt käme«. Zweifellos glaubte er diesen Worten; den Schlüssel gibt, scheint mir, der frühere Satz dieses merkwürdigen Schreibens: »Er hat mit der aufgehenden Sonne tramieret.« Die uralte Spannung zwischen Thronfolger und Herrscher! Gewiß spielte diese Empfindung unbewußt mit, gewiß erschien ihm sein leidenschaftlicher Zorn wohlberechtigt. Autokrat in einer absolutistisch regierten Zeit, war er sich bewußt, gewissenhaft für das ihm von Gott anvertraute Land zu sorgen, er war nicht liederlich, schlaff wie seine Kollegen in Dresden, London, Petersburg oder Paris – nein, und ihn, den gottesfürchtigen, fleißigen Landesvater verriet dieser Mensch an seinen verlogenen, untauglichen Sohn! Katte sollte sich verrechnet haben. Noch war er, Friedrich Wilhelm, Gebieter. Heute wird keiner das Urteil bedauern. Katte sühnte ein verfahrenes Dasein durch ein edles Ende. Sein Tod wurde der Wendepunkt im Leben Friedrichs des Großen. Wäre lebenslängliche Haft verhängt worden, hätte er grollend, empört den Tod des Vaters herbeigesehnt, um den Freund zu befreien. Der furchtbare Schlag führte ihn zu der ernsten Auffassung seiner Pflichten. Bis hierher war er wenig sympathisch und ansprechend, doch von jetzt an verspürt man den tiefen, großen Menschen. »Durch meine Schuld ist Katte gestorben«, das war der Umschwung. Wie dies die Inschrift am Schloß gut ausdrückt, Küstrin war ihm die Lebensschule. Ringsumher liegt der Oderbruch, das fruchtbare Land, das später seine unermüdliche Sorgfalt schuf. Hier in Küstrin fing er fleißig und aufmerksam an, sich um wirtschaftliche Fragen zu kümmern. Als er die Stadt endgültig verließ, fragte ihn der Präsident v. Münchow, was all jene, unter denen er hätte leiden müssen, dereinst von ihm zu erwarten hätten. »Ich werde feurige Kohlen auf ihr Haupt sammeln«, antwortete der Prinz und hat das Wort gehalten.
II.
Von Alfred Karrasch.
Küstrin. Die Erinnerung taucht in den Phantasienbezirk des Knaben zurück, der mit gefalteten Händen auf der Schulbank saß. Küstrin, das war ein gezackter Fleck auf der Landkarte. Küstrin, das war eine grimme Bastion, von der tausend Kanonenschlünde über Oder und Warthe drohten. Das war ein verschwommenes Schattenbild, von Russen beschossen, von Franzosen umkämpft.
Und das war die Stadt, von der die Lehrer die tief anpackende Geschichte erzählen, daß in ihr ein Königssohn gefangen saß. Daß in ihr tragisch und düster die schimmernde Freundschaft zweier Jünglinge endete. An dem Tage, an dem man vor dem zusammenbrechenden, verzweifelnden Prinzen Katte zur Enthauptung vorüberführte.
Küstrin. Tief und mit starken Bildern stand die Stadt in die Seele, die Einbildungskraft des Knaben geschrieben. Mit ihren Wällen. Mit der Schloßkaserne. Mit dem Zimmer, in dem der gefangene Kronprinz saß. Mit dem Vorraum, in dem die schweigsamen Kavalier-Gefangenenwächter, die Offiziere, Wache hielten. Mit dem Fenster, in dem schluchzend der Königssohn lehnte. Mit der Tür, die durch mächtige Vorhängeschlösser versperrt war.
Es ist ein seltsames Erlebnis, solche Stätten, die doch am Ende nur wie ein Traum aus Büchern erscheinen, solche Stätten in der Wirklichkeit wiederzusehen ...
Der Straßenbahnschaffner, der die Elektrische von der Neustadt zur Altstadt steuerte, war mir der erste Erklärer und Führer. Auf der kurzen Reise, in einer schnurrigen Art, deren humorvolle, köstliche Frische ihm sicherlich selbst unbewußt blieb, gab er einen erschöpfenden Überblick über Stadt, Land, Arbeit der Stadt und Bevölkerung.
Er drehte an seiner Kurbel, und seine Erklärung floß unhemmbar, von vorüberstreichenden Eindrücken angeregt, ein lustiger Strom: »Aha, grüß Gott, sehen Sie, dort geht der Herr Jubilar spazieren. Ja, ja, morgen ist der große Tag. Fünfzig Jahre Ehe, das will schon etwas heißen. Und daneben vierzig Häuser im Besitz, ja, ja, wir haben es schon zu etwas gebracht.
Halt! Alles eingestiegen! Kling, wei–ter. Es ist doch gut, daß wir jetzt die Elektrische haben. Seit Mai dieses Jahres, sie ist noch sehr jung. Aber es ist gut, daß sie die Altstadt mit der Neustadt rascher verbindet, denn sonst hätte man eine halbe Stunde zu laufen gehabt.
Überhaupt das Gelände, das Gelände, über dem Küstrin ausgereckt ist. Wie ein Schlauch. Wie ein Sack. Altstadt, die Brücken, Neustadt, jetzt noch Küstrin-Kietz eingemeindet. Unglaublich. Das Gelände Berlins kann nicht größer sein. Und die Stadt an sich zählt nur rund zwanzigtausend Seelen.«
Es war zu erwarten, angesichts eines Soldaten würde er auf den Wechsel der Zeiten zu sprechen kommen, auf Versailles, auf Bestimmungen, die kaum irgendwie so tief eingriffen, zwangsweise umgestalteten wie hier in Küstrin.
»Schau einer an! Der Herr Feldwebel heute nicht Dienst? Ach, du lieber Gott, war das damals eine Zeit! Artillerie, Infanterie, weiß der Teufel nicht was. Die Mädchen nach den Soldaten verrückt. Exerzieren, schießen, abends Tanz. Tanz, was ist hier in Küstrin getanzt worden! Das war eine Zeit! Und jetzt nur ganz wenige Soldaten. Für Küstrin. Und die Festungswälle sollen abgerissen werden, soweit sie noch nicht geschleift worden sind. Nur der große Bengel da, diese Bastion, soll stehen bleiben. Der ›Hohe Kavalier‹ wird er hier genannt. Der bleibt stehen zum Andenken. Aber weil er im Wege steht, kommt ein Tunnel mitten durch ihn hindurch.
Überhaupt gebaut wird jetzt hier. Gebaut. Endlich ist Schwung in die Sache gekommen. Gebaut, Brücken und neue Straßen. Man geht ran in einer Art, wir sind alle ganz stolz ...«
*
Und das stimmte. Der Mann sagte nicht zuviel. Die Küstriner sind stolz auf das entschlossene Tempo, mit dem man sich in eine neue Zeit umstellt. Sie sind stolz und sprechen davon gernbereit. Ihre Gedanken sind stolzbewußt nur bei diesen Umbauten. Der Kellner im Gasthof, der das Mittagessen servierte, wußte dem Fremden, den Fremden nichts weiter zu erzählen als von diesen Umbauten. Und ein alter Herr, den ich auf der Straße nach dem Kastellan des Friedrichsmuseums befragte, gab mir die Antwort: »Wenn Sie Küstrin kennen lernen wollen, wenn es Ihnen recht ist, so führe ich Sie einmal in der Stadt herum, zu den Baustellen, zu den Brückenbauten.« Er tat es. Mit leuchtenden Augen und einem Schritt, als ginge es zu einem Ball. Man sah. Man war bestürzt und erstaunt. Denn was hier an emsiger Bauarbeit geleistet wird, ist gewaltig.
Eine Stadt, die sich unbesieglich aus schweren Bestimmungen neu erhebt.
*
Küstrin ist Beamtenstadt. Ein wenig von jener alten Zeit, in der Wälle noch nicht Andenken, Erinnerungsstücke waren, klingt noch aus dem Adreßbuche Küstrins auf, das ich durchblätterte und das auf seinem ersten Blatt von Fortifikationsverwaltungen und Festungskommandanten spricht. Aber diese amtlichen Stellen sind wohl nur die Behüter eines wohleingerichteten Abbruchs.
Sonst, und das ist ihr stärkster Charakter, ist Küstrin die Stadt am Strom. An den Strömen Warthe und Oder, aus denen für sie ein Teil ihres starken Lebens steigt. Mit der Schiffahrt, die auf den silbernen, in der Weite des Bruchs verflimmernden Flußbändern Dampfer und Segler ziehen läßt. Mit der Fischerei, deren Kähne zu Dutzenden wie schmale Zungen vom Ufer ins Wasser ragen.
Und mit dem Holz, das geflößt aus Weiten kommt. Dem die großen Sägen der mächtigen Holzwerke entgegensingen. Das sich zu Gebirgen auf den Lagerplätzen häuft. Zu Stapeln, zu friedlichen Bastionen, die schon immer dem Vorüberfahrenden ein Kennzeichen Küstrins waren. Die heute schier hauptsächliches Werkzeichen sind.
Küstrin, die Stadt am Strom ...
Dann Fabriken, die große mächtige Kartoffelmehlfabrik, Kaffeebrennereien. Und immer wieder das Singen der Sägen. Und der Rauch, der sich wirbelnd aus Dutzenden von Schornsteinen wirft.
*
Mittelpunkt der altersbehaglichen Altstadt, Mittelpunkt auch durch seine Geschichte ist neben der Kirche die Schloßkaserne, das ehemalige Schloß, in dem der junge Friedrich gefangen saß.
Ein Friedrichmuseum hat man hier eingerichtet. Mit ein paar Bildern, einer Marmorfigur, ein paar Briefen, dem Tisch, an dem der große König nach der Schlacht von Kunersdorf im Fährhause von Ötscher saß. Mit einem Rubelbecher, mit alten Gewehren und Kugeln, einem Plane, den ein französischer Spion von Küstrin anfertigt hatte. Mit ein paar historischen Büchern und Schriften.
Und mit der großen Erinnerung, die unsterblich in diesem Zimmer wohnt.
Hier saß der junge Kronprinz gefangen. Dort am Fenster, auf dem Walle, der längst fiel, führte man Katte vorbei. Hier rief der junge Prinz sein erschütterndes: »Ich bitte euch tausendmal um Verzeihung.« Hier brach er ohnmächtig zusammen.
Und hier wandelte sich seine Seele zur Besinnung auf den kategorischen Imperativ, aus dem sich Preußens Größe baute.
*
Im sinkenden Abend durchwanderte ich noch einmal die Stadt. Die Schutthalden vom Mauerabbruch waren verlassen. Der Strom glänzte, in den Fischer schweigend Reusen versenkten. In die Weite der Oderniederung goß sich fröstelnder Nebel.
Krähen flatterten über der mächtigen Bastion, dem »Hohen Kavalier«.
Hier stand eines Tages, auf seiner höchsten Höhe, Napoleon und blickte über Festung und Land und sprach bewundernd zu seiner Umgebung und zu sich selbst: » C'est une forteresse formidable!«
Ich überschaute die jetzt ruhenden Stätten einer rastlosen, emsigen Arbeit.
Küstrin. Stadt am Strom. Kämpferisch, unbezwinglich.
Es ist in seinem Eifer auch jetzt noch, wo seine Wälle gefallen sind, fallen, eine bewunderungswürdige Stadt.
Kommandant der Festung Küstrin war ein Riese, der Oberst von Ingersleben. Im Jahre 1792 auf dem Rückzug aus der Champagne hatte er den Orden pour le mérite auf folgende Art erhalten. Die Ruhr grassierte, die Wege waren grundlos, die Artillerie blieb im Kote stecken, und die Kavallerie mußte absitzen und ihre Pferde hergeben, um die Kanonen fortzuschaffen. Der König (Friedrich Wilhelm II.) legte großen Wert darauf, kein Geschütz stehen zu lassen. Eines Tages quälten sich die Artilleristen mit einer solchen Kanone, wobei das Regiment, in dem unser Ingersleben stand, eben vorbeizog. Ingersleben saß auf einem seiner gewaltigen Gestalt angemessenen riesigen Braunen, der noch sehr wohl imstande war. Er hatte den König von weitem kommen sehen, sprang vom Pferde, steckte seinen Braunen in eins der Geschirre, ließ aber wohlbedacht den Sattel mit Pistolenhalfter und der großen, goldgestickten Paradeschabracke darauf, schrie tüchtig, tat sehr geschäftig, legte selbst Hand an und trieb so, wie der König vorbeiritt, die Kanone aus dem Dreck heraus. Der fragte sogleich, wem das Pferd gehöre, und gab ihm den Orden. Sowie er aber nun weit genug war, spannte Ingersleben seinen Braunen wieder aus, setzte sich auf und ließ die Kanone stehen. Nachher wurde er wegen üblen Betragens vor dem Feinde vom Regiment entfernt und später durch Fürsprache Kommandant von Küstrin.
Diesen Kerl fand der König dort, fragte ihn, ob die Festung mit allem versehen sei und wie lange er sie verteidigen könne. Ingersleben erwiderte, er könne sie gar nicht verteidigen, sie sei mit nichts versehen und die Festungswerke alle verfallen. Der König umging die Festung, fand im Gegenteil die Werke im vollkommensten Zustande und ließ die Zeughäuser durch seinen Flügeladjutanten, Major von Jagow (später Oberstallmeister) visitieren, der Geschütz und Munition im Überfluß fand.
Nun wurde Ingersleben zur Rede gestellt und erwiderte, daß ihm dies zu gar nichts helfen würde, da die Garnison, sobald sie eingeschlossen würde, nichts zu leben hätte. – Jagow mußte die Magazine visitieren und fand auf ein halbes Jahr Mehl im Vorrat. Nun meinte Ingersleben, Brot sei zwar genug, ihm fehle Fleisch. Wie nun darüber deliberiert wurde, führte der Zufall den Herrn von Itzenplitz ins Vorzimmer, und wie er die angebliche Not hörte, ließ er sich beim Könige melden und trug ihm vor: daß Se. Majestät dicht vor den Toren von Küstrin fünf große Ämter besäßen, Sachsendorf, Golzow, Friedrichsaue, Kienitz und Wollup, deren Pächter in diesem Augenblick nicht weniger als 1000 Mastochsen auf dem Stall und außerdem gewiß 800 Zugochsen und Kühe hätten. Es bedürfe nur einer Autorisation, damit sie deren Wert von ihrer zu zahlenden Pacht abrechnen dürften, um mehr Vieh in die kleine Festung zu schaffen, als sie in Jahr und Tag verzehren könnte; und da die Pächter sämtlich wohlhabende Leute seien, so könnten sie ebenfalls das nötige Heu zum Futter bezahlen, welches die Küstriner Kietzer (Fischer) auf ihren weitläufigen Wiesen dicht an der Festung zum Verkauf zu stehen hätten.
Der König, hocherfreut, gab dem Itzenplitz die nötige Vollmacht, alles auf den genannten Ämtern zu besorgen, befahl dem Ingersleben, morgen durch Kommandos alles hereinholen zu lassen; Itzenplitz reiste ab und meldete, ehe vierundzwanzig Stunden vergangen waren, daß alles bereit sei. Nun stellte Ingersleben noch vor, daß er kein Bombardement aushalten könne, und mußte abermals verstummen, wie ihm seine weitläuftigen bombenfesten Kasematten gezeigt wurden. Kurz gesagt, – hatte je ein Kommandant sich deutlich das Urteil gesprochen, daß er fortgejagt und ein anderer Kommandant gesetzt werden müsse, so war es Ingersleben gewesen. Aber der König tat es nicht, sondern redete ihm freundlich zu, ermahnte ihn und brachte ihn endlich dahin, daß er so gütig war, zu versprechen, er wolle sich wirklich verteidigen. Hieraus empfahl ihm der König die Sicherheit der Armee, die sich hinter der Oder sammeln solle, gab ihm die Hand und reiste ab.
Alle diese genauen Umstände weiß ich von den Personen, die in Begleitung des Königs bei dieser schlechten Farce zugegen waren. Kaum war aber der König in Stargard angekommen, so erfuhr er die Kapitulation des Fürsten Hohenlohe und schrieb nun an Ingersleben, indem er ihm dieses Unglück anzeigte: »Er hoffe, er werde so handeln, wie er für das Beste des Staats für notwendig erachte.«
Daß diese Ausdrücke wie Balsam in Ingerslebens angstvollen Busen tröpfeln würden und daß ihm das Beste des Staats in der schleunigsten Übergabe seiner Festung liegen würde, konnte ein jeder leicht voraussehen. In der Tat hatte er schon weder seine Ochsen noch sein Heu hereinholen lassen, und wie in denselben Tagen Davout, nach Posen marschierend, seine Avantgarde in Müncheberg hatte, fiel es einem auf der Straße nach Küstrin vorgeschickten Husaren- oder Chasseuroffizier ein, zu versuchen, ob er die Festung nicht bekommen könne. Er ritt daher mit seinen vierzig Mann bis an die abgebrannte Oderbrücke, ließ blasen und forderte die Festung auf. Ingersleben erbat sich Bedenkzeit. Hierauf tobte der Offizier, befahl, der Kommandant solle augenblicklich zu ihm herüberkommen, wenn er nicht die Stadt wolle in Flammen aufgehen sehen! Ingersleben setzte sich gehorsamlich in einen Kahn und fährt hinüber, die Kapitulation wird abgeschlossen, die Garnison (wie allenthalben) kriegsgefangen, Ingersleben aber kann frei fortgehen. Der Franzose macht sich wohlweislich die Bedingung, daß er erst vom dritten Tag von da einrücken will und sendet zurück, man möge eiligst Infanterie schicken, um die Festung zu besetzen. Ehe aber ein Bataillon auf Wagen gesetzt ankommen kann, hat schon in der Festung von der vier Depot-Bataillone starken Besatzung das des Regiments Oranien (das alte berühmte Markgraf Karl) rebelliert. Während die anderen sich alles gefallen lassen, will dieses Bataillon die Festung nicht übergeben, so daß Ingersleben den jenseits der Oder befindlichen französischen Kavallerieoffizier inständig ersuchen muß, wenigstens ein Tor zu besetzen. So wurden die Feinde über die Oder mit Kähnen hereingeholt. Das Bataillon Markgraf Karl zerschlug hierauf die Gewehre und beging Exzesse, bis die französische Infanterie herbeikam und es fortführte. Merkwürdig ist, daß dasselbe Ehrgefühl im ganzen Regimente lebte, indem seine beiden Linienbataillone bei der Kapitulation von Hameln genau ebenso verfuhren.
Aus dem Nachlaß des Generals v. d. Marwitz auf Friedersdorf.
(Volkssage.)
Von August Kopisch.
Die Stadt Mohrin hat immer acht,
guckt in den See bei Tag und Nacht.
Kein gutes Christenkind erleb's,
daß los sich reiß' der große Krebs!
Er ist im See mit Ketten geschlossen unten an,
weil er dem ganzen Lande Verderben bringen kann.
Man sagt, er ist viel Meilen groß
und wendt sich oft, und, kommt er los,
so währt's nicht lang, er kommt ans Land:
ihm leistet keiner Widerstand.
Und weil das Rückwärtsgehen bei Krebsen alter Brauch,
so muß dann alles mit ihm zurücke gehen auch.
Das wird ein Rückwärtsgehen sein!
Steckt einer was ins Maul hinein,
so kehrt der Bissen, vor dem Kopf,
zurück zum Teller und zum Topf.
Das Brot wird wieder zu Mehl, das Mehl wird wieder Korn –
und alles hat beim Gehen den Rücken dann nach vorn.
Der Balken löst sich aus dem Haus
und rauscht als Baum zum Wald hinaus,
der Baum kriecht wieder in den Keim,
der Ziegelstein wird wieder Leim.
Der Ochse wird zum Kalb, das Kalb geht nach der Kuh,
die Kuh wird auch zum Kalb; so geht es immerzu!
Zur Blume kehrt zurück das Wachs.
das Hemd am Leibe wird zu Flachs,
der Flachs wird wieder blauer Lein
und kriecht dann in den Acker ein.
Man sagt, beim Bürgermeister zuerst die Not beginnt,
das wird vor allen Leuten zuerst ein Pöppelkind.
Dann muß der edle Rat daran,
der wohlgewitzte Schreiber dann;
die erbgesessne Bürgerschaft
verliert gemach die Bürgerkraft.
Der Rektor in der Schule wird wie ein Schülerlein.
Kurz, eines nach dem andern wird Kind und dumm und klein.
Und alles kehrt im Erdenschoß
zurück zu Adams Erdenkloß.
Am längsten hält, was Flügel hat,
doch wird zuletzt auch dieses matt,
die Henne wird zum Küchlein, das Küchlein kriegt ins Ei,
das schlägt der große Krebs dann mit seinem Schwanz entzwei.
Zum Glücke kommt's wohl nie so weit!
Noch blüht die Welt in Fröhlichkeit!
Die Obrigkeit hat wacker acht,
daß sich der Krebs nicht locker macht.
Auch für dies arme Liedchen wär' das ein schlechtes Glück:
Es lief vom Mund der Leute ins Tintenfaß zurück.
Een Burjemeefter hadde drei Jonges un wuste ni, wellen he diä Wirtschaft jeäwen sulle. Deär jüngste woar deär kliäkste, aber heä woar blint. Doa schikt er si alle drei uppe Jacht, un weär dän ierschten Hoasen schiäten würre, deär sülle diä Wirtschaft hebben. Diä beden ölsten wullen deän blinden foppen, helen sine Flinte up enen Schtruek loes un sechten: Schiät! doa sit in Hoase.
Aber hingern Schtruek sat in Woarheet in Hoase; dear Jonge schoet un troffen oek. Werste wat? sechte deär ölste tum tweten, wi willen unsen Bruoder doet schloan, un deän wirtschaften wi tuosammen. – Deär wulle nich; aber deär ölste drauete eäm, heä wullen oek doet schloan, doa wort ert oek willens. Doa schloech deär ölste deän klenen doet un begroech en up enen Berch. Aber utet Graf waste inne Wide, diä hunk alle eäre Tacken no de Erde.
Ees hüöte up deän neämlichen Berch in Scheper sine Schoape. Heä sette sich uppet Graf, schneet sich in Tacken vanne Wide af un moakte sich inne Flöte. As er nu an tuo flögen funk, funk diä Flöte ganz klächlich:
Ach, Scheper, wat du bloasest,
det di dien Herze krenkt;
hiä mi mien ölster Bruoder schloech
un mi up dissen Berch begroech!
Un so oft er blossen muchte, diä Flöte sunk immer diäselbije Wise. Doa funk et eäm an tuo gruseln; heä leep rasch no sinen Meester un lest deän blossen. Doa sunk diä Flöte wedder:
Ach, Scheper, wat usw.
Deär Scheper leep no sinen Herrn un let deän flöten. Doa sunk diä Flöte:
Ach Herre, wat usw.
Deär Her leep no deän König, un as deär bloaste, sunk diä Flöte:
Ach König, wat usw.
Doa lepen sie alle no deän Burjemeester, un as deär flöte, sunk diä Flöte:
Ach Vater, wat usw.
Doa nam diä Mutter diä Flöte, un si sunk:
Ach Mutter, wat usw.
Doa flöte deär twete Bruoder, und diä Flöte sunk:
Ach Bruder, wat usw.
Deär ölste Bruoder woar ruet jelopen, un as si den rinhoalten, must er oek flöten, ob er gliech ni wulle. Doa sunk diä Flöte so wilt, det et alle an tuo schuggern funk:
Ach Mörder, wat du bloasest,
det di ant Leäwen krenkt!
Doa du deän eijnen Bruoder schloechst
un mi up dissen Berch begroechst. –
Doa jungen si hen un hoalten deän armen Blinden un jewen eäm in eerlich christlich Begräbnis uppen Kirchhof; Vater un Mutter schtorwen vör Herzeleet un wurren dicht jeänge eäm begraet. Deär ölste Bruoder aber wurre jeköpt un up deän neämlichen Berch injebuddelt; aber uet sien Graf wassen luter dulle Bilsen, un üm Mitternacht schteet er up un rent oane Ruo un Rast üm deän Berch un jünselt doabi, det jeden diä Hoare tuo Berje schtoan, deärt tuo örhen kricht.
A. Engelien und W. Lahn. Der Volksmund in der Mark Brandenburg. Berlin 1868.