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Elftes Kapitel

Graf Matthias Bonde, Minister des Innern, konzipierte sein Demissionsgesuch. Es war damit eine eigene Sache, eine höchst merkwürdige oder abgründige Art von Spielerei, möchte man beinahe sagen; denn der Minister dachte gar nicht daran und konnte nicht daran denken, vor Ablauf des Prozesses zu demissionieren oder auch nur in Urlaub zu gehen. Jetzt waren es ja erst acht Tage her, daß der »Volkskredit« gestürmt und geschlossen wurde, und bis zur Prozeßeröffnung konnten noch Wochen vergehen, noch Monate. Die eine Woche hatte zwar vollauf genügt, um über die Angelegenheit so etwas wie eine Decke zu breiten, unter der die Untersuchungsbehörde arbeitete; der Aufruhr war flugs zu einer Unglücksstätte erstorben, zu der am Sonntag die Bürger pilgerten, um die heruntergelassenen eisernen Rolläden zu betrachten und gegenüber in der »Goldquelle«, die sich in aller Unschuld oder der dem Pächter Emil eigenen Dickfelligkeit vom Unglück des Mutterhauses emanzipiert hatte, bei einem Glase Bier, im angenehmen Schauder angesichts der Ruine des Betruges, ihre Bemerkungen über die sündhafte Zeit nachbarlich auszutauschen.

Bonde nannte es bei sich: eine Friedhofsdecke, unter der die Würmer arbeiteten. Was sie da taten, ging ihn zwar amtlich nichts mehr an – denn er war ja nur, amtlich, ein Zahnrad im Räderwerk der Kompetenzen – aber veranlaßte ihn persönlich zu makabren Vorstellungen. Denn der Henker des schönen Leibes überantwortet ihn einer Vernichtung, die mit dem Tod nicht aufhört – eine Vorstellung von gräßlicher Übertriebenheit, wenn man bedenkt, daß Franziska lebt. Aber Bondes Handlung rührt an den Tod, an die Tode, die aus der Vernichtung entstehen, daran ist nichts zu ändern; und warum zum Beispiel weigert sich der Henker Deibler, Monsieur de Paris, mit solcher Entschiedenheit, eine Frau hinzurichten? Weil er weiß, daß die vernichtete Frau ihren Henker vernichtet.

Bonde ist zu Hause sehr allein, wohl wahr; aber das ist es nicht, was ihm das Gemüt verdüstert; denn wäre er nicht einsam, so müßte er die Einsamkeit suchen, um mit den Gedanken fertig zu werden, die zu Ende gedacht werden müssen und keine Nachbarschaft duldeten, nicht einmal die des Schlafes. Zu den Gedanken der Nächte gehörte auch das Himmlische, nicht nur das Inferno der Vernichtung, und zwar die Verbindung und Vereinigung, die in der Nacht vor jenem beinahe schon historischen Tag gelungen waren; aber sie gelangen nicht mehr, und so neigte sich auch der Himmel immer wieder in die Todestiefe. Und die Arbeit war groß, zum Verzweifeln, um fünf Uhr morgens pflegte er Veronal zu nehmen, ganz am Ende.

Der Tag selber, noch fest im Gerüst von Amt, Würde und Gewohnheit, brachte zum Frühstück jeweils eine Ansichtskarte von Adelina, gleichgültigen und kleinlichen Inhalts: daß sich die Mutter unverwüstlicher Gesundheit erfreue und sich aufrechter halte denn je, daß Tante X sehr gealtert, Onkel Y endlich gestorben, daß Base Z sich endlich verheiratet habe; daß es langweilig sei und sie sich entschlossen habe, in der nächsten Woche nach Paris zu fahren. Es mochte sein, daß die Ansichtskarten weniger an den Gatten Matthias als für die Kontrollaugen Diener Michaels geschrieben waren. Bonde beantwortete sie nicht; denn er wußte nicht, was er ihr zu schreiben hätte.

Vor zwei Tagen erst, abends aus dem Amt kommend, hatte er mit der Niederschrift der Demissionsgesuche begonnen, zur Erkenntnis gelangt, daß allein schon diese Schreibübung für die Auflösung des Bestehenden, die seine Nachtgedanken unerbittlich forderten, von bestimmtem Wert waren. Indem er um seine Verabschiedung nachsuchte, kam er dem Abschied gewissentlich näher, und darum ging es ja. So schrieb er denn allabendlich ein Demissionsgesuch wie ein geistliches Exerzitium, und die Seele stand friedlicher und demütiger im Kampf der Nacht. Er schrieb es nicht vom Konzept des Vortages ab, sondern formte es neu; und er benutzte es auch nicht etwa zu kleineren oder größeren Bekenntnissen oder auch nur zu einer Andeutung dessen, was ihn zum Abschied trieb, sondern variierte nur den vorgeschriebenen Kurialstil, den er mit kühler Meisterschaft beherrschte.

Das Telefon neben ihm schnarrte, er sah es böse an, er haßte Störungen, er hatte sie sich verbeten; aber da es dennoch klingelte … Er hob den Hörer ab, Diener Michael verlangte zu wissen, ob Exzellenz für Herrn Regierungsrat Krieger zu Hause seien. »Selbstverständlich«, sagte der Minister. – Herr Krieger meldete mit seiner angenehmen Stimme, daß die Beamten, die den heute nachmittag vom Untersuchungsrichter gegen Frau Franziska Vio ausgegebenen Haftbefehl auszuführen hatten, die Dame nicht in ihrer Wohnung antrafen, obwohl sie sich bisher loyal zur Verfügung der Behörden gehalten hätte und noch gestern bis spät in die Nacht auf dem Polizeipräsidium vernommen worden wäre. – Bis spät in die Nacht, dachte Bonde. – Ob Exzellenz da eine unerfreuliche Wendung der Angelegenheit vermute und zu Alarm rate? – Warum fragt er mich? dachte Bonde und sagte: »Aber keineswegs, lieber Krieger, die Dame wird harmlos ausgegangen sein und zurückkommen.« – Herr Krieger hüstelte: ob Exzellenz die Güte haben würden, sich für den unangenehmsten Fall daran zu erinnern, daß er, Krieger, auf Wunsch von Exzellenz die sofortige Verhaftung der Dame an jenem Katastrophentag nicht vorgenommen habe, weil Flucht- und Verdunkelungsgefahr nicht anzunehmen sei. – »Das hat ja auch bisher gestimmt«, sagte der Minister, »und natürlich decke ich Sie für den Eventualfall, lieber Krieger. Rufen Sie mich in zwei Stunden nochmals an und berichten Sie. Ich danke.« – Bonde hängte ein, ließ den Kopf langsam auf die Brust sinken und lächelte, die Augen schließend. So saß er geraume Zeit, und es war schon so, als schliefe er, lächelnd. –

Das Telefon neben ihm schnarrte. Er fuhr auf, und ein so heftiger Schrecken stieß ihn an, daß beide Hände hoch in die Luft flatterten: o Gott, schon ist sie zurückgekehrt, schon haben sie sie … Er riß den Hörer ans Ohr: »Jaja – und?« – Diener Michael verlangte zu wissen, ob Exzellenz für den Herrn Generalstaatsanwalt Süßkind zu Hause seien. – Sie haben sie noch nicht! dachte Bonde zufrieden und sagte freundlich: »Verbinden Sie!« – Ein kleines Mißverständnis, Exzellenz, der Herr Generalstaatsanwalt sei im Hause. – Bonde zupfte nachdenklich an der Augenbraue. – Nun, was überlegte er denn – was soll sich der Diener Michael denken? »Aber selbstverständlich«, sagte er, »ich lasse bitten.« Der Generalstaatsanwalt Süßkind war ein großer, dicker, herzlicher Greis mit schweren Augensäcken, roten Hängebäckchen, schlohweißen Stichelhaaren, Brauen und Spitzbärtchen, und seine Strenge ward teils gepriesen, teils gefürchtet. Der Minister verabscheute ihn von je, weil sich die Freundlichkeit seines Namens, seines Gesichts, seines Bauches und seines Gehabens so überraschend gut mit seiner Amtsstrenge vertrug. Generalstaatsanwälte mußte es geben, aber sie sollten nicht aussehen und tun wie ein Generalonkel der Menschheit. Er stürmte mit geöffneten Armen ins Zimmer, und wenn er auch den Minister nicht umarmte, so nahm er doch Bondes kalte und drucklose Hand zwischen seine beiden herzlichen Hände: »Liebste Exzellenz, Verzeihung, Verzeihung, Verzeihung, daß ich Sie überfalle, aus heiterem Himmel, wenn auch der Himmel nicht ganz heiter ist – zunächst meine Freude, Sie zu sehen!«

»Ganz auf meiner Seite«, sagte Bonde, seine Hand befreiend und ihm einen Platz anweisend.

»Und wissen Sie, wie es zuging, Exzellenz? Ein kleiner, wenn auch sorgenvoller Spaziergang führte mich hier vorbei, und der Anblick Ihres schönen Hauses gab mir den Gedanken ein – so war eine geziemendere Anmeldung leider schon verpaßt, verehrtester Graf …« Er ließ sich seufzend in den Sessel fallen, kreuzte die Hände über dem Bauch und sah aus, als werde er sich nie mehr erheben können.

»Gehe ich fehl, Herr Süßkind, wenn ich sowohl Ihre Sorgen- als auch Ihre Besuchsgedanken mit der Affäre des ›Volkskredits‹ in Verbindung bringe?«

Wenn der Generalstaatsanwalt auf liebe und verstehende Weise lächelte, sein gewöhnliches Lächeln, und gar noch, dem Bauch zuliebe, zurückgelehnt saß, dann verschwanden seine Augen hinter den anschwellenden und sich hinaufschiebenden Fleischkissen der Augensäcke, so daß man befürchten konnte, er sehe nicht mehr darüber hinweg. »Unsere Exzellenz, wie sie leibt und lebt!« freute er sich, »nobel und zuvorkommend! Nur keine Schwierigkeiten machen, nur kein Drumherum der Verlegenheit – meine Reverenz! – Also richtig, die Chose bedrückt mich, und ich kenne sie recht gut, obgleich sie ja noch im Stadium der Voruntersuchung steckt; aber ich habe mich mit Rücksicht auf die Allgemeinschädlichkeit des Falles sozusagen vom ersten Tag an dahintergeklemmt und kenne die Chose ganz ausgezeichnet. Ja du lieber Gott, wie ganz unmöglich wäre da ein Niederschlagen des Verfahrens und die Behandlung der Sache als einen Bankkrach, der die Strafbehörde nichts angeht!«

»Nun, das ist sehr zu hoffen, Herr Süßkind! Wer hat denn überhaupt daran gedacht?«

Der Generalstaatsanwalt löste für einen Augenblick die verschlungenen Finger und wies auf seinen Bauch: »Ich, Exzellenz, weil leider Staatsinteressen bedroht sind.«

»Lieber Herr, die erpresserisch vorgeschobene Geschäftsverbindung meiner Frau mit dem Geldinstitut bedroht kein Staatsinteresse, und außerdem ist der Nachweis ihrer Harmlosigkeit und ihres anständigen Motives erbracht.«

»Es ist unleugbar, Exzellenz, daß jene Erklärung für die verehrteste Gräfin von beträchtlichem Wert ist, obwohl der Kronzeuge, der am Tag nach der Erklärungsabgabe seinen gesamten Debetsaldo beim ›Volkskredit‹ mit einem Schlag zu löschen imstande war, über die Herkunft der Mittel die Aussage verweigert und dadurch die Behauptung der Bankleitung, das Geld stamme wiederum von Ihrer Frau Gemahlin, zum mindesten nicht widerlegt.«

»Das Geld stammt natürlich von mir«, sagte Bonde.

Der Generalstaatsanwalt schüttelte mißbilligend den Kopf. »Ich bin Ihr alter Verehrer und ergebener Diener, Exzellenz, und darf mir aus ganz bestimmten Gründen die Freiheit herausnehmen, Ihren letzten Satz zu überhören. Und da ich mir den Kopf weidlich zerbrochen habe, wäre es mir, rein theoretisch, fast lieber, die persönlich überaus hochgeschätzte Figur Ihrer Frau Gemahlin in der Affäre nicht so ganz verschwinden zu sehen. Und so schweife ich gleich ins noch mehr Theoretische und Persönliche ab und wage die Frage, liebster Graf, ob Sie irgendwie eine … eine sichtbare Veränderung Ihrer Situation im Hinblick auf Gräfin Bonde …«

»Nein«, unterbrach Bonde, »ganz und gar nicht.«

»Aber die Gräfin ist doch am Vormittag des Bankkrachs zu ihrer Frau Mutter nach A. gefahren, wie wir natürlich wissen, und scheint eine Erweiterung ihrer Reise nach Paris zu planen …«

Bonde dachte an den Diener Michael und sagte kalt: »Herr Süßkind, Sie verlaufen sich in Theorien, denen ich nicht zu folgen geneigt bin.«

Der Generalstaatsanwalt seufzte. »Gewiß, gewiß! Und das alles ist ja fürwahr kein gefährdetes Staatsinteresse – und darum eben lief ich theoretisch hinter Ihrer charmanten Gattin her, die ja nur indirekt, wenn auch auf das anmutigste, zur Repräsentanz des Staates gehört …«

»Aber ich gehöre wohl direkt dazu, nicht wahr?«

Der Generalstaatsanwalt wollte sich aufrichten; aber der Bauch erlaubte es nicht, und so ließ er es sein, nachsichtig den Widersacher streichelnd. »Exzellenz, wenn Sie zu bedenken belieben, daß wir es da mit dem Rechtsanwalt Pasternak als Verteidiger zu tun haben werden, dem berüchtigten Pasternak von der politischen Opposition, der uns voller Wonne mit Schmutz bewerfen wird, dann werden Sie meine tiefe Besorgnis verstehen.«

»Ich kann sie unmöglich verstehen, bester Süßkind, wenn ich nicht die Gründe kenne – oder andere als die bisher genannten.«

Der andere lächelte voller Milde: »Liebste Exzellenz, beginnen wir mit dem Schecktalon, der gefunden wurde, über zwanzigtausend Mark, auf Ihren Namen lautend.«

Bonde fuhr auf: »Auf meinen Namen? Das ist ja naiv! – Halt, wann soll er denn ausgestellt worden sein?«

»Ein paar Tage vor dem Krach.«

»Aha, da war Frau Vio bei mir im Ministerium, zunächst als Wohltäterin, und sprach davon, für den Fonds des Tuberkulosenheims einen größeren Betrag zu stiften. Behauptet sie denn, mir den Betrag ausbezahlt zu haben?«

»Sie verweigert die Auskunft.«

»Nun, ich habe den Betrag, von dem dann auch gar nicht mehr die Rede war, selbstverständlich nicht bekommen. Doktor Schmidt ist Zeuge; er verwaltet die Spendenliste, ein Scheck müßte ja zur Einlösung vorgelegt werden. Es kamen kurz vorher vom ›Volkskredit‹ auf Grund einer individuellen Sammlung tausend Mark ein, die das Kuratorium zur Verfügung der Behörde hält; das ist alles.«

Der Generalstaatsanwalt hob die Hand an den Mund und bot den Anblick eines innigen Konfidenten. »In Parenthese, verehrtester Graf, und ganz privat: ich würde an Ihrer Stelle auf die Zeugenschaft des Herrn Regierungsrates Schmidt wenig Wert legen. Und mir persönlich genügt Ihre Versicherung vollauf; aber wie beweisen wir den Schwindel – wie beweisen wir, daß dieses ganze Geheimkonto eine verbrecherische Unterstellung ist?«

»Geheimkonto? Ich verstehe Sie schon wieder nicht.«

Der Dicke sah ihn herzlich an: »Sie haben ein Geheimkonto, Exzellenz, betitelt ›Exzellenz‹. Darauf figuriert außer dem eben erwähnten Betrag noch ein anderer über fünfzehntausend Mark, ausgezahlt vor etwa zwei Jahren, und zwar bar.«

»Lächerlich!«

»Und zwar bar, Exzellenz, weil Scheckauszahlung kontrollierbar ist, Barauszahlung nicht so sehr.«

»Hören Sie, mein Lieber, meine Vermögensverhältnisse, die zum mindesten der Steuerbehörde genau bekannt sind, machen doch allein schon die Absurdität dieses sogenannten Geheimkontos offenbar …«

»Mir schon, Exzellenz, aber nicht Herrn Pasternak – und deshalb brauche ich Beweise!«

»Nichts einfacher als das, sofern das ›Geheimkonto ‹, wie ich annehme, von einer Hand und mit Tinte geschrieben ist.«

»Vom Prokuristen Leitschuh.«

»Gut. Dann kann Ihnen der Gerichtschemiker und jeder Chemiestudent im ersten Semester den Beweis liefern, daß zwischen den beiden Eintragungen kein Zwischenraum von zwei Jahren besteht, sondern daß sie, zu durchsichtigen Zwecken, alle beide jüngsten Datums sind, wie auch die Kontoüberschrift. Und dann erweitern Sie die Anklage gegen den Herrn Prokuristen auf Betrug und Urkundenfälschung.«

Der hohe Justizbeamte klatschte leicht in die Hände, eine seiner gutmütigen und die Ruhe des Leibes nicht beeinträchtigenden Freudenkundgebungen. »Ein Köpfchen, unsere Exzellenz!« freute er sich, »ein Köpfchen! Die Chose erweitert sich ja wie ein Ölfleck über die Paragraphen, ein Lehrstück für meine Referendare! Wenn ich Lust habe, kann ich auch noch den Widerstands- und Aufruhr-Paragraphen damit einfetten, Sie wissen ja Bescheid, Exzellenz. Was mich nur ein klein wenig bedenklich macht, Verehrtester, ist, daß Sie nur den Prokuristen in den Beiguß tunken, nicht aber auch die Hauptangeklagte – damit kommen wir nämlich dem eigentlichen Herzeleid näher …«

Zum erstenmal gab Bonde keine Antwort, mehr noch: er preßte die Lippen zusammen, daß sie weiß wurden, oder gar: er bekam kreidebleiche Lippen, wie man es so nennt und wie es für das inquisitorische Auge zu bemerken von Bedeutung ist. Der Dicke brummelte schon mit seiner furchtbaren Gutmütigkeit über Schweigen und Musterung hinweg: »Na na, liebster Graf, lassen Sie mir doch meine Redensarten und helfen Sie mir so hübsch weiter wie bisher! Die Herrin gibt nun mal dem Knecht nichts nach und hat seit gestern ebenfalls eine Anklageerweiterung zu gewärtigen: nämlich auf Konkursverbrechen.«

Bonde hob den Kopf: »Konkursverbrechen? – Sie meinen Unterschlagung oder Beiseiteschaffung gesperrter Werte?«

»Sehr richtig, Exzellenz, beträchtlicher Werte, Aktien, Obligationen und anderer Wertpapiere in Höhe von rund hunderttausend Mark, die in dem Privattresor der Dame gefunden wurden, oder vielmehr – und das ist das Interessante –, die von ihr selber angegeben wurden und dann nicht mehr da waren.«

»Vielleicht ein Irrtum der Dame – bei dem verworrenen Geschäftsbetrieb gut möglich.«

»Ogottogott!« bedauerte der andere und schüttelte mißbilligend den Zeigefinger über dem Bauch, »überlassen Sie das doch dem Pasternak, Exzellenz, und auch der wird es in diesem Punkt nicht leicht haben oder vielmehr ganz anders anfangen. Denn die Dame leugnet ja nicht, sondern schweigt nur vielsagend, was sie gerne tut, und überläßt ihrem bevollmächtigten Auguren das satanische oder bereits manische Zwinkern der Andeutung in die bewährte Richtung.«

»Hahaha!« lachte Bonde heraus; aber es klang eher wie ein Wutschrei, zumal für inquisitorisch erfahrene Ohren.

»Meine liebe Exzellenz, sehen Sie, mir ist gar nicht so lächerlich zumute, denke ich an den Pasternak. Und würden Sie nicht eingangs meine Theorie so kategorisch abgelehnt haben, so fänden sich hier wiederum gewisse Blitzableiter ins Unerforschliche, falls sich zum Beispiel die Gräfin, langjährige Freundin der Hauptangeklagten, wie wir natürlich wissen, zu einem Daueraufenthalt in Paris entschlösse, unter Wiederannahme ihres Mädchennamens.«

»Lassen Sie bitte endlich und endgültig meine Frau aus dem Spiel, Herr Generalstaatsanwalt. Ich übernehme jede Verantwortung für sie.«

»Eben, eben«, brummte der Dicke und hielt den Kopf etwas schief, mit väterlich betrübtem Ausdruck, »da muß ich eben der respektabelsten Persönlichkeit, die ich zu kennen das Glück habe, die ungeheuerliche Beleidigung antun, sie zu fragen, ob sie über die abhanden gekommenen Werte eine Auskunft geben kann. Denn, nicht wahr, Exzellenz Bonde, es ist besser, ich frage Sie hier und jetzt, als später der Pasternak mit dem Megaphon der Presse.«

»Kann selbstverständlich keine Auskunft geben«, knarrte Bonde durch die Zähne.

»Selbstverständlich nicht!« unterstrich der Generalstaatsanwalt, zur Decke sehend, »und da Ihr schönes Haus ja keine Westentasche ist, der Herr des Hauses also unmöglich wissen kann, was alles an Tücke und Bosheit sich einschleichen könnte, so würden Sie, Exzellenz, eine ganz diskrete, von zuverlässigsten Beamten durchzuführende Haussuchung nicht als gegen sich gerichtet betrachten, sondern sie im Gegenteil vielleicht anbefehlen.«

»Das nicht«, knarrte Bonde; »aber sonst – bitte!« Er machte eine weite Handbewegung.

»O wie schön!« freute sich der Dicke und streichelte erleichtert seine Weste, »ja, und denken Sie, liebster Graf, was mir bei der Kenntnisnahme dieser tollen Geschichte aufgestoßen ist? – man kann sich doch nicht auf seine besten Leute verlassen! – also bitte, stellen Sie sich vor, die Hauptangeklagte war überhaupt noch gar nicht in Haft genommen, im Gegensatz zu ihrem Auguren, und erschien zu den Vernehmungen wie zu einem Fünfuhrtee! Na, da habe ich allerdings Dampf aufgedreht …«

»Das ist meine Schuld«, sagte Bonde und kniff sonderbar die Augen zusammen, »ich veranlaßte den Leiter der Polizeiaktion, da den Entschlüssen des Untersuchungsrichters nicht vorzugreifen, zumal weder Verdunkelungs- noch Fluchtgefahr anzunehmen war.«

»Oh! oh! oh!« wehklagte der Generalstaatsanwalt und hielt sich die Backe, als schmerze ein Zahn, »ich will es nicht hören! nein, ich will es nicht gehört haben! Ich weiß es natürlich schon, aber habe es mir prompt zu wissen verboten …«

»Von Regierungsrat Krieger?« fragte Bonde.

»Wo denken Sie hin – das ist doch ein anständiger Mensch! Nein, von viel näher her, aus der antichambre, von einer Lakaienseele, sapienti sat! Aber, liebster Graf, so teilen Sie doch ein wenig meine Erregung! Nehmen wir doch den Fall an, die Vio sei geflohen, weil man es ihr so bequem gemacht hat! Um Gottes willen, das, nach alledem, schlüge dem Faß den Boden aus! Teuerste Exzellenz, dann wären Sie ein verlorener Mann – das will heißen: ein nicht einmal von mir zu rettender!« Der Dicke bedeckte ergriffen die Augen mit der Hand; aber vielleicht sah er durch die Finger; denn er ließ die Hand mit einem Ruck sinken und starrte den Minister an.

Bonde lächelte, ja, er lächelte und sagte: »Wissen Sie, Süßkind, was ich eben gedacht habe? So also sieht ein Schutzengel aus, das habe ich gedacht …« Nun, das war eine Lüge; er hatte sich gefragt: weiß er es oder weiß er es nicht? und er hatte sich geantwortet: wahrscheinlich nicht, aber er wird mit tödlicher Sicherheit erfahren, daß ich es wußte und ihm nichts gesagt habe – und dann dachte er an Deibler, Monsieur de Paris, und dann mußte er lächeln, weil ihm wunderbar leicht ums Herz wurde.

»Sehr hübsch, sehr humorvoll!« freute sich der Dicke, aber klatschte nicht in die Hände, und sein Gesicht blieb starr. »Und da meckert die Lakaienseele von Psychologie und auch von physiognomischen Veränderungen unmittelbar nach der Audienz der Wohltäterin, sogar von retardierenden Aufwallungen, von Aufschubgelüsten gegenüber der Polizeiaktion …«

»Sapienti sat«, sagte Bonde.

Der Generalstaatsanwalt trommelte sacht auf seinen Bauch. »Und wie lange kennen Sie die Dame?«

»Ich sage: seit dem Audienztag. Und was sagt die Dame?«

»Die Dame verweigert die Aussage. Der Prokurist spricht von drei Jahren.«

»Ich lasse ihn zwinkern«, sagte Bonde.

Der dicke Mann richtete sich mit einem Ruck auf und saß auf der Sesselkante – man hätte es nicht für möglich halten sollen. »Exzellenz, Sie waren ja noch in der Nacht nach der Audienz bei ihr!«

»Und was sagt die Dame?«

»Sie verweigert die Aussage.«

»Ich auch.«

Der Inquisitor atmete mit einemmal etwas asthmatisch, wohl infolge der neuen Körperhaltung. »Es ist das beste«, meinte er nach der Pause, »aber es ist nicht gut.«

Es sprach der seltsam Heitere, die Fingerspitzen zusammenlegend: »Lieber Herr, jetzt darf ich, zum Abschluß, auch einmal eine Frage an Sie richten, ja? Da liebt einer also eine Frau und liefert sie ans Messer. Da ist er die Nacht bei ihr und lanciert am Tag drauf den mörderischen Artikel in die Presse – Sie wissen doch, daß ich es war, na also. Bitte, wie reimen Sie das zusammen?«

Noch einmal schlüpften die Augen hinter die aufschwellenden Augensäcke, Süßkind lächelte innig: »Sie verstanden möglicherweise das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, liebste Exzellenz …«

Bonde sprang auf. »Bravo!« rief er, »Sie verdienen einen Orden!«

»Bitte?« fragte der Generalstaatsanwalt gedehnt und erhob sich langsam.

Bonde kam ihm ganz nahe mit dem Gesicht: »Einen Orden für das gewahrte Staatsinteresse – ich verschaffe ihn Ihnen noch. Und jetzt gehen Sie!«

Bonde, allein, schrieb das unterbrochene Konzept des Demissionsgesuches zu Ende. Er hatte zu dem furchtbaren Dicken nicht einmal davon gesprochen, eine so private Spielerei war es. Es hatte nun auch viel oder alles von seinem heimlichen Zweck verloren; denn die Dinge sahen jetzt anders aus als vorhin, zwischen der eingetrockneten Tinte des zuletzt geschriebenen Wortes und dem frischen Glitzern der neuen Buchstaben hatte eine Auflösung des Bestehenden stattgefunden, wie sie gründlicher nicht zu denken war. Er schrieb das Gesuch dennoch zu Ende, weil es sein amtlicher Hauptsatz war, keine Arbeit in unfertigem Zustand zu lassen, und weil er das Aufhören seiner Berufsordnung selber bestimmen wollte, nicht aber dadurch, daß er das angefangene Konzept nachlässig liegen ließ. Da er heute abend zum mindesten noch ein amtliches Gespräch zu führen hatte, durfte er sich nicht gehen lassen. So fügte er langsam, mit seiner kleinen sauberen Handschrift, höfisch frostige und formstarre Satzarabesken zusammen und schrieb längst verstorbene Worte barocker Devotion, ohne daß die Feder stockte. Dann schob er den Schreibblock zurück und schirmte die Augen mit der Hand. Die heitere Seele litt nun doch unter Franziskas Haß – er war ja der ehrlichste Mensch geworden. Sie verweigerte immer die Aussage, auf daß der Augur zwinkern konnte, sie verbündete sich vorsätzlich mit einer miserablen Kreatur, sie scheute nicht Tod und Teufel um ihres Hasses willen – und wäre es noch ein Haß, den er so gut verstünde, der Henkershaß, der widermörderische und blutwilde – aber es ist ein so systematischer Haß, böse Mathematik, Gefühllosigkeit, so entsetzlich gleichgültig gegen seine heitere Demut, ganz blind gegen seine helle Bußfertigkeit! Mein Herr und Gott, gibt es eine größere Gewährungsferne zu meinem zartesten und äußersten und letzten Gedankenwunsch als Franziskas Haß-Logarithmen?

 

Er wußte, wie Diener Michael klopfte, und doch erschrak er bis in die Zehen – es war eher ein Kratzen mit den Fingernägeln als ein Klopfen, diskret und tückisch. Bonde zog den Kopf ein und sagte: »Ja.« Diener Michael erschien und fragte, ob Exzellenz für eine Dame zu Hause sei, für eine schon im Hause befindliche Dame, die auf die Frage nach ihrem Namen geantwortet habe, er tue nichts zur Sache, Exzellenz wisse Bescheid. – Wie sprach er das? Diskret und tückisch, so wie er anklopfte, kratzende Fingernägel, so wie er ging, lautlos und doch präzis, als hätte er Kordelsohlen wie ein Pariser Apache. Die Tür, durch die Diener Michael eingetreten war, lag in Bondes Rücken, im Rücken der hohen Rückenlehne von Bondes Schreibtischstuhl. O wie war es gut, durch zwei Rücken geschützt zu sein vor diesem Menschen! Denn wie sah jetzt sein Gesicht aus, Bondes Gesicht? Wie sieht ein Gesicht aus, das das Blut anfällt und flieht, im Gehämmer des Herzens, vor Seligkeit, vor Seligkeit? – »Ich lasse bitten.« –

Was tut man jetzt? Man muß um Gottes willen sitzen bleiben und den Kopf einziehen; denn dieser Mensch führt sie ja herein, und ich weiß ja nicht, wie mein Gesicht aussehen wird und was ich sagen werde, wenn ich sie sehe. – Sitzenbleiben, bis die Türe sich hinter ihr schließt, den Körper festhalten und das Herz und den Mund … –. Wieder kratzte es an der Tür, flüchtiger noch als das erstemal, und sie ging dann schon auf, Bonde hatte nichts zu sagen nötig, ein kurzer fester Schritt ging über den Teppich, die Tür wurde geschlossen, Bonde sprang auf.

Franziska trug einen grauen Reisemantel männlichen Schnitts und einen grauen weichen Filzhut, der ebenfalls einem Männerhut glich, dem breitkrempigen Hut eines Künstlers etwa, und sie trug ihn ein wenig schief. Ihr Kopf sah aus wie der eines kecken Jünglings auf einem flämischen Bild; aber ihr Gesicht war ernst und sie sagte gar nichts, nicht einmal einen Gruß. In der Hand trug sie einen suit-case aus schwarzem Lackleder. Die andere Hand verbarg sie in der Manteltasche. Sie wollte ihm wohl nicht einmal die Hand geben. – Aber sie ist doch da, sie ist doch da …

»Guten Abend«, sagte er.

Sie sah ihn an und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Guten Abend, Exzellenz«, sagte sie mit ihrer dunklen Stimme.

O wie gut kannte er ihre Stimme, wie vertraut war sie ihm, lebenslang bekannt und immer neben ihm – aber warum schüttelte sie den Kopf, ihn ansehend: sah er aus zum Kopfschütteln? Er stand doch ganz ruhig neben dem Schreibtischstuhl! –

»Wollen Sie sich nicht setzen?«

»Nein, danke.« Sie stand dicht neben dem mächtigen offenen Bücherschrank, der die ganze Breitseite des großen Raumes einnahm, und wenn sie den Mann nicht ansah, sah sie die Bücher an.

»Eine Zigarette?«

»Nein, danke, ich will nicht lange stören.«

»Stören!« rief er.

Sie betrachtete ihn und schüttelte wieder den Kopf, ganz deutlich. »Wo ist denn Adelina?« fragte sie.

»Verreist. Wollten Sie zu ihr?«

»Nein, zu Ihnen.«

»Nicht wahr?« fragte er leise zurück.

Sie zog die Schultern hoch. »Sie sollen sich nicht so freuen, Bonde«, rief sie, »es ist nicht auszuhalten!«

»Aber Sie sind doch da!« verteidigte er sich still.

»Ach Gott«, sagte sie und ihr Blick glitt wieder über den Bücherschrank, »warum ich da bin, ist nicht ganz leicht zu sagen, nicht ganz leicht …«

»Ich frage ja gar nicht nach den Gründen.«

Sie wies mit dem Daumen über die Schulter nach rückwärts: »Dieser Schleicher da, Ihr Diener, ließ mich nicht aus den Augenwinkeln, es war ekelhaft. Ob er weiß, wer ich bin?«

»Vielleicht. Er bedient auch das Telefon.«

»Ob er lauscht?«

»Vielleicht.«

»Warum sehen Sie denn nicht nach?«

»Weil ich mir nichts vergebe, diesem Menschen gegenüber.«

»Nun, mir kann es ja gleichgültig sein.«

»Ja«, bestätigte er.

Sie hob den Kopf, es sah recht hochmütig aus, und ihr kühnes Kinn gemahnte wieder an den flämischen Jüngling. »Mir kann es sogar gleichgültig sein, ob der Schleicher die Polizei ruft oder Sie.«

»Das verlohnte nicht den Besuch«, sagte er lächelnd.

»Aber womöglich Ihre Freude, Bonde.«

»O nein, und das glauben Sie selber nicht …« Er atmete auf und wiederholte, wie zum Anlauf, leise den gleichen Satz: »... das glauben Sie selber nicht – Franziska.«

Sie zeigte mit keinem Wort, mit keiner Muskel des Gesichts, mit keinem Lidschlag ein Erstaunen über die vertraute Anrede. O wie gut war es von ihr, daß sie zugab, schon immer von ihm so genannt zu werden! Aber sie hatte ein hartes Gesicht, oder nein: es war kein harter Ausdruck, sondern eher so, als sei es hartes Material, aus dem das Gesicht verfertigt sei. Sie zog die Hand aus der Manteltasche, schüttelte den Ärmel zurück und sah auf die Armbanduhr. Sie sagte: »Wenn ich Sie um ein Glas Wasser bitte, müssen Sie dann klingeln?«

»Ist Ihnen nicht gut?« fragte er erschrocken.

»Müssen Sie dann klingeln?«

»Ja.«

»Dann lassen Sie es bitte.«

»Wollen Sie ein Glas Kognak, der wäre hier …« Er machte ein paar Schritte zu einem Eckschränkchen hin, neben dem Bücherschrank.

»Nein, nein, danke«, sagte sie beinahe unwillig, »es ist auch schon vorüber.« Er blieb stehen und sah sie stumm an, sie sah zu Boden. »Viel Zeit habe ich nicht mehr«, flüsterte sie, wie verwirrt, »und wir haben doch noch viel zu reden …«

»Viel?« fragte er.

Das Telefon auf dem Schreibtisch schnarrte. Sie hob schnell den Kopf. »Erschrecken Sie jetzt bitte nicht«, sprach er mit einem so zarten Lächeln, daß sie zurücklächeln mußte – sie konnte nicht anders. Und es klopfte doch durch ihr Hirn nur die eine Frage: Wird er sich umdrehen? Denn er konnte ja auch in den handlichen Apparat sprechen und das Gesicht ihr zugewandt halten. – Er drehte sich nicht nur um, sondern setzte sich sogar in den Schreibtischstuhl, vielleicht war er müde. Er verschwand hinter der hohen Rückenlehne, er war nicht mehr da, nur noch seine Stimme. »Ja, verbinden Sie.« – Warum steht sie immer noch da und starrt auf den Stuhlrücken? Was zögert sie noch? – »Ja, hier Bonde, guten Abend, also was ist los?« – Sie öffnet den suit-case, in dem nichts anderes liegt als ein großes dickes gelbes Kuvert, sie nimmt es und bückt sich, sie schiebt es in die unterste Reihe des Bücherschrankes zwischen zwei mächtige schweinslederne Folianten. Sie richtet sich auf. – »Das vermag ich immer noch nicht für tragisch anzusehen, lieber Freund.« – Sie steht sehr blaß, sehr gerade, wie angenagelt an die Bücherwand. – »Ich dagegen halte dafür, ruhig schlafen zu gehen und bis morgen früh zuzuwarten. – Bitte? Die Verantwortung? Gut, ich gebe Ihnen den dienstlichen Befehl. Wollen Sie's schriftlich? Nein, also gut. Ich danke. Gute Nacht, mein Lieber.« Er hängte ein und stand auf. »Ja, Franziska«, sagte er und war so blaß wie sie, »viel Zeit haben Sie nicht mehr. Und mich deucht, alles ist gesagt.«

»Ach Gott«, stöhnte sie leise.

»Haben Sie Geld?«

Sie fuhr zusammen, und der suit-case stieß hohl gegen die Bücherrücken. »Bitte …?« fragte sie mit losem Kinn.

»Ob Sie Geld brauchen, Franziska …«

»Ich? – Aber nein …«

»Schön. Und was mich betrifft, ich bin zufrieden, daß ich Sie noch einmal sehen konnte, Franziska, Franziska, Franziska …« Wahrhaftig, er sprach den Namen dreimal aus, monoton wie ein memorierender Schüler. Sie machte eine Bewegung, vielleicht wollte sie zu ihm hin. Er sagte schnell: »Ich begleite Sie hinaus.« Sie ging vor ihm zur Tür. Dort drehte sie sich mit einem Ruck um und warf beide Arme vor, den freien Arm und den mit dem Köfferchen. Wäre es in der Richtung auf ihn gewesen, so hätte er glauben können, daß sie ihn umarmen wollte. Aber die Arme streckten sich gegen den Bücherschrank aus, wie verschämt. »Ach Gott!« stöhnte sie wieder, ihre Augen waren grün oder gelb, hell wie Mondschein und ungerührt; sie ließ die Arme fallen, wandte sich um und öffnete die Tür.

Diener Michael stand in der Diele. Sie gingen an ihm vorbei wie an einem Ding. Bonde öffnete die Haustür und ging voraus, das sanft gekrümmte Gefälle zum Gittertor des Vorgartens hinab. Das Gittertor surrte ihnen entgegen: das war Diener Michael, der aufmerksam im Hause auf den elektrischen Türöffner drückte. Sie gaben sich die Hand. Da sie Handschuhe trug, wußte er nicht einmal, ob sie eine warme Hand hatte. Sie sagten sich nichts, das Tor surrte. Auf der Straße wartete eine sogenannte Gepäckdroschke, mit Koffern auf dem Gepäckträger des Verdecks. –

Diener Michael stand in der Diele. Bonde trat auf ihn zu und sah ihn an. Die devoten Falten des Gesichts waren tief eingebügelt, für alle Ewigkeit. Die Augen blickten, als würden sie nicht angesehen. Vielleicht wurden sie auch noch niemals angesehen. Zwinkert er? zwinkert er? Die Welt ist voller Auguren.

Bonde sagte: »Ich gehe heute bald schlafen. Stellen Sie mir zwei Glas Wasser ans Bett, große Gläser.« Diener Michael deutete eine Verbeugung an. Bonde ging in die Bibliothek zurück und setzte sich an den Schreibtisch. Er zerriß die Demissionsgesuche, das heutige, das gestrige, das vorgestrige. Sonst war nicht viel Ordnung zu machen, sein Schreibtisch war immer ordentlich. Dann schloß er ein Schubfach auf, entnahm ihm zwei noch uneröffnete Packungen Veronal und schloß es wieder zu.

Jede Packung enthält ein Glasröhrchen, jedes Glasröhrchen zehn Tabletten zu je 0,5 Gramm. Zehn und zehn sind zwanzig. Zehn Gramm: das hält selbst dieses Leben nicht aus.


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