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Achtes Kapitel

Der Diener Michael klopfte und sagte seinen allmorgendlichen Spruch: »Exzellenz, sieben Uhr fünfundvierzig.«

Bonde hatte gut geschlafen, besser als gewöhnlich. Er war wach und klar, das Geschehnis des gestrigen Tages und der Nacht hatte den Schlaf nicht belastet und jetzt schlug es ihn nicht über den Kopf: es war da, sofort, als Tatsache, als Problem und Sorge; aber es sprang ihn nicht an, sondern wartete nur auf ihn. Er stand auf und ging ins Bad. – Ich habe gut geschlafen, dachte er und duschte. Der kalte Schauer packte kräftig den Körper, es tat gut, es panzerte die Haut mit Frische, er ließ das Wasser stärker laufen, wölbte die Brust, reckte die sehnigen Arme. – Plötzlich drehte er ab und schaute lauschend auf Adelinas Tür. Dahinter regte sich nichts. Es gab Tage, wo sie sein Wasserbrausen mit einem »Guten Morgen!« beantwortete, durch die Tür hindurch, seltene Tage, eine Freude für ihn – er war bescheiden gewesen, alles in allem. Heute zumal war kein Gruß zu erwarten. Er frottierte sich ab, schlüpfte in den Bademantel, klingelte und setzte sich in den weißen Armstuhl, der eine verstellbare Nackenstütze hatte, ganz wie bei den Friseuren. Michael erschien mit einem Tablett, auf dem die eingegangene Post und die Morgenzeitung lagen. Bonde musterte flüchtig die Briefe, legte sie zurück und nahm dann die Zeitung. Michael seifte ihn ein. – Erst auf der vierten Seite stand unter »Amtliche Nachrichten«, mit nicht sehr auffälliger Titelzeile: »Amtliche Warnung vor einem Bankinstitut«. Dann folgte mit der Bemerkung: »Das Ministerium des Innern teilt mit«, die Auflagenachricht, ohne Kommentar der Redaktion. – Michael mahnte flüsternd: »Exzellenz!« Bonde legte die Zeitung fort und hob gehorsam das Gesicht, den Nacken gegen die Stütze lehnend. Michael rasierte, er sah würdig und etwas hinterhältig aus, wie immer – und selbst wenn er in der Zeitung die amtliche Warnung aufstöbert, über den Namen Vio stolpert und an den Anruf von gestern abend denkt: was tut's? ›Das Ministerium des Innern teilt mit‹ – das rechtfertigt den Anruf auch für die Lakaienseele. Bonde kniff die Augen zusammen: zum Teufel, hatte er solche Argumentation denn notwendig? – Michael hatte eine leichte und stets kühle Hand, das war sein Vorzug. Das Rasiermesser schabte mit hohlem Geräusch. Nebenan blieb es still – Michael hob rasch das Messer und flüsterte vorwurfsvoll: »Aber Exzellenz.« Denn Bonde hatte plötzlich, jeder Vorsicht bar, den Kopf gehoben, von einem Gedanken gestoßen: war sie schon fort? War sie, als er gestern nacht zurückkam, vielleicht schon fort gewesen und das brennende Nachtlicht nur eine Kriegslist? Er sah rasch auf die Türritze: nein, es brannte kein Licht mehr – aber sie konnte gewartet haben, bis er schlief, und dann fortgeschlichen sein … wie peinlich vor dem Personal. »Bißchen rascher!« befahl er ungeduldig. – Das ist es, nur das ist es: peinlich vor dem Personal? fragte er sich und ärgerte sich über sich selber.

Diener Michael war fertig und lautlos verschwunden. Bonde ging an die Tür und öffnete sie auf einen Spalt. In ihrem Schlafzimmer waren die Läden geschlossen und die Vorhänge zugezogen, das Auge mußte sich an das Dunkel gewöhnen. Dann sah er sie. Sie schlief oder stellte sich schlafend. Er schloß leise die Tür.

Der Tisch im Frühstückszimmer trug zwei Gedecke, wie immer. Aber nicht immer frühstückte Adelina mit ihrem Mann, es hing von ihrer Stimmung ab. – Vielleicht konnte sie mich manchmal nicht sehen, dachte Bonde, oder mir nicht in die Augen schauen, so früh schon … Er zeigte zu ihrem Platz hin: »Meine Frau schläft noch – warm stellen, bis sie klingelt.« Diener Michael sagte sein: »Sehr wohl, Exzellenz.« – Bonde hatte Appetit.

Michael half ihm dann in den Mantel und reichte ihm Stock, Hut und Mappe. – »Ach ja«, meinte Bonde, »es kann sein, daß meine Frau verreist – ich schicke auf jeden Fall den Wagen zurück.«

Man muß an alles denken – das heißt doch wohl: man muß die Form wahren. Die Form erleichtert ihr das Weggehen und verhindert zugleich, daß der Diener Michael … – Zum Teufel mit dem Diener Michael!

 

Der Minister betrat sein Amtszimmer, erwiderte den Morgengruß seines persönlichen Gehilfen, setzte sich an den Schreibtisch, entnahm der Aktenmappe die Morgenzeitung und legte sie vor sich auf die Tischplatte. »Herr Regierungsrat«, sagte er, »ich lese in der heutigen Morgenzeitung die amtliche Warnung vor dem ›Volkskredit Vio‹. Ich erinnere mich nicht, Ihnen den Auftrag gegeben zu haben, die Auflagenachricht hinauszugeben. Ich erwarte Ihre Erklärung.«

Der Ton war höflich und eisig, die gefürchtete Mischung. Doktor Schmidt lockerte den Klemmer über dem errötenden Wulst der Nasenwurzel und antwortete auf seine etwas scharfe Art: »Die einfachste Erklärung wäre, Exzellenz, daß die Auflagenachricht irrtümlicherweise in den Auslauf geraten ist.«

»Sieh einer an«, meinte Bonde und machte ein angewidertes Gesicht, »wie simpel sich doch solche Sachen erklären! Und da man Ihnen für gewöhnlich keine Fahrlässigkeit vorwerfen kann und es im übrigen ziemlich gleich ist, ob die Warnung heute früh oder heute abend in der Presse steht, will ich es dabei bewenden lassen. Jetzt verbinden Sie mich bitte mit Regierungsrat Krieger.«

Dr. Schmidt deutete eine Verbeugung an und ging sofort hinaus. Erst in seinem Büro erlaubte er sich, den Kopf zu schütteln. Er hatte eine längere und heftigere Szene erwartet. Aber war das nun eine Kapitulation? Möge sich der Kollege von der Fahndungsabteilung den bewährten Kopf zerbrechen, wie in dieser bedenklichen Angelegenheit die Fronten stehen, zumal nach den allerletzten Überraschungen! Dr. Schmidt verlangte Regierungsrat Krieger und hatte mit dem Kollegen einen kurzen und gleichsam chiffrierten Gedankenaustausch, bevor er ihn mit dem Chef verband.

»Hier Schmidt. Stark verwölkt.«

»Dicke Luft?«

»Nein, ganz dünn, scharfer Frost. – Dicker Kopf?«

»Zum Platzen. Weiß er?«

»Nein, kam Gott sei Dank nicht dazu. Neidlos Ihnen. Ich verbinde.«

 

Franziska hatte nur drei Stunden geschlafen, traumlos und tief wie immer; doch dann fuhr sie auf, geweckt von der Angst, die aus dem Herzen pochte, als wäre sie schon lange da und nachgerade sehr ungeduldig. So also stand es: Franziska hatte Angst und starrte in das böse schwarze Schweigen des Raumes. – Sie schaltete das Licht an: nun siehst du, es braucht nur hell zu sein, und die Feigheit flattert schon davon; und du tust ganz recht, wenn du die Angst Feigheit nennst. Denn es ist doch nicht so, als wisse man nun nicht mehr, was tun – oho, man weiß es ganz genau, und der Würdenträger wird sich noch zu wundern haben! – Dieser Mann … Wie wäre es also nun gewesen, wenn sie ihn nach allen Regeln der Kunst verführt hätte – ›Schamlos!‹ kreischte das arme Adakind ins Telefon –, ist es auszudenken? O ja, es war so denkbar, daß schon wieder die Feigheit auftauchte, nein, die Angst, eine andere, eine neue Angst … – »Das fehlte noch!« rief sie laut, beinahe empört, sprang aus dem Bett und ging auf nackten Sohlen im Zimmer auf und ab. Dann blieb sie stehen und zog die Stirn in Falten. Dann nahm sie den Schlüsselbund vom Nachttisch, ging in das Zimmer mit dem großen Mahagonischreibtisch, schloß den Bücherschrank auf, zog aus dem untersten Fach vier dickleibige Lexikonbände heraus, öffnete eine in Scharnieren hängende Klappe in der Schrankrückwand und wählte dann ein Schlüsselchen, das in das Sicherheitsschloß des kleinen Wandsafes hinter dem Bücherschrank paßte. – Sie kam mit einem dünnen Heft, das in schwarze Wachsleinwand gebunden war, ins Schlafzimmer zurück, legte es zusammen mit dem Schlüsselbund auf den Nachttisch und sagte befriedigt: »So!« Dann legte sie sich wieder ins Bett und löschte das Licht aus. Sie überschätzte die beruhigende Wirkung des Heftes neben sich nicht; sie schlief ein.

Doch schon um sieben Uhr früh wurde der Prokurist Leitschuh von der Queen telefonisch aus dem Bett geholt und angewiesen, sich unverzüglich, längstens in einer Viertelstunde, in der Privatwohnung einzufinden. Die frühe Stunde war ungewöhnlich und unhöflich; aber es war die Stunde, wo die Morgenblätter in die Briefschlitze der Wohnungstüren gesteckt wurden. Leitschuh war um sieben Uhr achtzehn vor Franziskas Wohnungstür, er stellte seinen Mann, zwar unrasiert und mit nichts als einer Tasse leeren Kaffees im Magen, aber pflichteifrig und finster entschlossen, sogar mit einem gewissen Hochgefühl im Herzen; denn für einen Jettatore begann nun die große Stunde, und er verspürte eine wohlig unheimliche Lust, um nicht zu sagen: Fähigkeit, mit seinem bösen Blick die gesamte Staatsordnung zu verderben – in übertragener Bedeutung natürlich. Er traf die Queen am wohlbestellten Frühstückstisch und fand sie frisch, hübsch und energisch wie nur je. Neben ihrer Tasse lag die Morgenzeitung, übrigens zusammengefaltet. Leitschuh schlug auf seine Manteltasche, aus der die gleiche Zeitung ragte, und sagte: »Das ist noch nicht mal so schlimm – es hätte schlimmer ausfallen können.« Sein Gesicht war viel finsterer, als es seine Worte waren, und blieb auch so bei den etwas überraschenden Worten, die nun folgten: »Dürfte ich um ein Honigbrötchen bitten, Frau Vio? Ich kam begreiflicherweise nicht zum ordentlichen Frühstück.«

Franziska bot ihm mit einer lockeren Geste aus dem Handgelenk den reichen Tisch an, und Leitschuh bediente sich. Sie sah an ihm vorbei, wie schon die ganze Zeit, und sprach: »Ganz gleich, es steht drin, und ich gehe vor.«

»Ich auch«, versicherte der Kauende.

»Wie sieht es auf der Straße aus?«

»Ganz normal. Noch wenig los. Beginnt ja erst richtig gegen Dreiviertel. Außerdem lesen die Bauern ja keine Stadtblätter.«

Franziska nickte und schwieg eine Weile. Plötzlich hob sie ihre Zeitung hoch; darunter lag das Wachsleinwandheft. »Hier!« sagte sie streng und stieß den Zeigefinger auf das Heft.

»Was ist das?« fragte er und beantwortete es sich schon halb: »Ach so …«

»Jawohl!« rief sie, und ihre kleine Nase wurde kürzer noch unter den beiden zornigen Falten über der Wurzel, »jetzt rücke ich damit heraus!«

»Endlich!« meinte er kalt und aß ununterbrochen. »Sie legen sofort ein gewöhnliches Konto an, unter vollem Namen: ›Gräfin Adelina Bonde‹ die einzelnen Posten datumsmäßig ganz genau nach meinen Eintragungen hier im Heft, mit dem Vermerk: ›zinsfreies Darlehen‹ – na ja, und Sie lassen die Tinte natürlich eintrocknen, also nicht ablöschen; aber das ist nicht das Wichtigste. Und dann soll man es finden … –«

»Genügt nicht!« bemerkte Leitschuh nicht ohne Schärfe. Franziska sah auf. Er wischte sich den Mund mit dem Taschentuch, das weit und mit etwas auffälligem Muster aus der äußeren Brusttasche seiner Jacke ragte, und sagte: »Also meinen Dank für die Stärkung, Frau Vio. Des ferneren gilt wie nie zuvor das alte strategische Wort: der Angriff ist die beste Verteidigung. Die Aufnahme der bisherigen Privatzahlungen an die Dame ins Conto ordinario, also in die Bücher, wäre sozusagen die Befestigung der dritten Linie, also eine mehr als passive Verteidigung; denn bis einmal die Bücher beschlagnahmt werden …«

»Also?« unterbrach Franziska ungeduldig.

Leitschuh zog die Uhr: »Es fehlen noch zwanzig Minuten bis acht. Spätestens um acht geht per Rohrpost ein Kontoauszug, natürlich auf dem Volkskredit-Formular, an die Polizeidirektion. Voilà!«

Franziska blickte ihren Jettatore an; seine Augenhöhlen waren bekanntlich wie angetuscht; es konnte indessen kaum angenommen werden, daß er heute früh die Zeit zum Schminken gefunden hatte: es war also noch gestrige Schminke, oder Natur. Franziska fragte schließlich: »Warum denn nicht an Minister Bonde?«

Leitschuh zog die rechte Braue hoch und ließ einen Augenblick seine schwarzen Zähne sehen. »Warum?« wunderte oder belustigte er sich. »Aber Frau Vio, es müßte doch nun allmählich klar werden, wen wir zu vernichten wünschen – sie oder ihn? Meine Antwort würde lauten: ihn durch sie.«

»Natürlich!« rief sie.

»Na also, Frau Vio, dann schickt man nicht dem Gegner per Rohrpost den Avis ein, daß und wie er angegriffen wird – zumal nach der gestrigen Erfahrung.«

»Da haben Sie recht«, sagte Franziska nach einer kleinen Pause.

»Danke«, antwortete er, »und so verstatten Sie mir eine weitere Überlegung, nämlich für den nicht unwahrscheinlichen Fall, daß sich nunmehr der Herr Graf gezwungen sieht, seine Frau Gräfin zu desavouieren.«

»Das kann abgewartet werden«, erklärte Franziska plötzlich gereizt.

»Gewiß kann es abgewartet und dennoch die zweite Angriffswelle vorbereitet werden, Frau Vio.«

»Zum Donnerwetter!« schimpfte sie unerwartet, »hören Sie endlich mit Ihrer blöden Militärsprache auf!«

»Haha!« lachte er kurz und grimmig, »also ohne Militärsprache! Ich an Ihrer Stelle würde morgen früh um acht Uhr den zweiten Rohrpostbrief an die Polizeidirektion schicken, enthaltend einen Geheimkontoauszug ›Graf B.‹ oder so – oder sicherer noch: ›Graf Soundso Bonde‹ – den Vornamen wissen Sie vielleicht …«

»Waas?!« schrie Franziska auf. »Sind Sie ganz verrückt geworden, Leitschuh? Das wäre doch glatter Betrug und Urkundenfälschung und was weiß ich noch alles …«

»Hört! Hört!« bemerkte er finster und gleichmütig, »Sie denken also schon ans Strafmaß, Frau Vio … – Also gut, gestrichen oder zurückgestellt – aber wollen Sie nicht wenigstens, für alle Fälle, jenen Wohltätigkeitsscheck für das Tuberkulosenheim auf den Namen des Herrn Kurators ausstellen? Er braucht ja nicht ausgegeben, sondern eventuell nur gefunden zu werden …«

Franziska überlegte einen Augenblick; dann sagte sie: »Nein, auf gar keinen Fall!«

»Wie Sie meinen«, sagte Leitschuh achselzuckend, »und hier ist mein Entwurf unseres Rundschreibens an die Einlegerschaft – ein ganz nettes Pasquill, scheint mir, um nicht zu sagen: Pamphlet. Und für die weitere Unruhestiftung wie überhaupt für jene etwas kommuneren Unternehmungen, die mit unserem Kampf zusammenhängen – ›Kampf‹ darf ich doch sagen, Frau Vio? – also sozusagen für die kleinen Schuftigkeiten, die die Aktion mit sich bringen könnte und vor denen Ihr natürlicher Anstand zurückschrecken möchte, erbäte ich mir sozusagen plein pouvoir …«

»Auf gar keinen Fall, mein Lieber!« rief Franziska und griff nach den Bogen, die mit den winzigen und dennoch überaus deutlichen Schriftzügen des Prokuristen bedeckt waren, »ich verbiete Ihnen sogar ausdrücklich jede Eigenmächtigkeit, haben Sie verstanden? – Im übrigen finde ich meinen natürlichen Anstand äußerst gering, ohne mich damit Ihnen beigesellen zu wollen, mein Freundchen …«

»Hahaha!« lachte der Bösewicht.

 

Regierungsrat Krieger sah mit seinen weichen blonden Haaren, weichen blauen Augen und seinem weichlippigen Mund nicht wie der oberste Fahndungsbeamte, sondern wie ein Lyriker der Romantik aus, und es fehlten ihm nur noch die Vatermörder und der flaschengrüne Frack. Er sah wie ein Jüngling aus, obgleich er Mitte Vierzig war und auch schon graue Haare hatte, blickte man genauer hin. Gewiß täuschte sein Aussehen; denn er war ein vorzüglicher, energischer und nüchterner Beamter, ein Kriminalist von Ruf und sogar mit wissenschaftlichem Ehrgeiz; aber es täuschte doch nicht ganz, denn auch sein Herz war weich und es kam ihm zupaß, daß er es für seinen Beruf nicht brauchte oder doch, dank eines kräftigen Willens, nicht anrühren ließ. Zu Hause, seiner kleinen weichen blonden Frau, klagte er zuweilen, wenn der Berufstag gar zu hart für das Herz war – öfter aber und sehr viel lieber las er ihr mit hübscher und empfindsamer Stimme Alfred de Musset vor, zuerst das französische Gedicht, dann seine Übertragung, die die kleine Frau ohne Zögern über das Original stellte. Doch außer ihr wußte keine Seele von den Beichten und den Nachdichtungen des Chefs der Fahndungsabteilung. – Exzellenz Bonde indessen mißachtete den Regierungsrat wegen seines Amtes und schätzte ihn wegen seines Aussehens.

Der dicke Kopf, den Krieger im Amtsjargon seinem Kollegen Schmidt telefonisch zugab, war also im Grunde das weiche Herz, das schwere Herz; denn es war keine Kleinigkeit, den obersten Chef, einen Ausbund an administrativen und persönlichen Tugenden, den langjährigen Gegenstand uneingeschränkter Bewunderung, auf die unerwartetste und peinlichste Art am Hexensabbat des »Volkskredits« beteiligt zu wissen. Die beinahe unglaubhafte Meldung, die ihm Kollege Schmidt von der gestrigen Audienz machte, hatte er noch ablehnen können, beruflich, weil sie ihn zunächst nichts anging – er war ein strenger Grenzwächter seines Ressorts – und im übrigen auch noch harmlose Erklärungen zuließ, persönlich, weil ihm sein weiches Herz nicht vorenthielt, daß man sehr herzlos oder sogar seelisch mißgestaltet sein müsse, um solche Beobachtung und Vermutung sofort weiter zu geben, halb kollegial, halb amtlich, in widerlicher Mischung, statt sie als anständiger Mensch und loyaler Sekretär für sich zu behalten: ein Urteil über Dr. Schmidt, das der Erfahrung und der eigenen Menschenkenntnis nicht widersprach. Aber das Dokument, das vor einer Stunde auf seinem Schreibtisch landete und der mißgestalteten Seele recht zu geben schien, und von dem er nicht wußte, ob es ihn selber nicht schon ins Unrecht setzte, weil er es sofort in seiner Aktenmappe verbarg und nicht zuerst seinem unmittelbaren Vorgesetzten, dem Polizeipräsidenten, vorlegte, – ach, es setzt ihn ja schon ins Unrecht, weil er, aus Feigheit doch und in der Hoffnung, es abwälzen zu können, just den fatalen Amtsbruder zum ersten Mitwisser seiner Existenz gemacht hatte, halb kollegial, halb amtlich: das Dokument brannte nun durch die Ledertasche hindurch auf seinen Knien und mußte herausgezogen werden und vorgelegt, es half ihm kein Gott – es war keine Kleinigkeit …

Noch war es nicht soweit. Der Minister, wenig gesprächig, beschäftigte sich aufmerksam und ohne Hast mit dem telefonisch eingeforderten Personalakt des Sängers Artur Spitzeder, genannt René Spitzeder oder René Brio, und zeigte also für den geschiedenen und übel beleumundeten Mann der Vio, von dem sogar, ebenfalls auf des Ministers telefonischen Wunsch, aus dem Archiv eine (wenn auch rund sechs Jahre alte) Fotografie beschafft werden konnte, ein Interesse, das wiederum das kombinative Hirn des Regierungsrats Krieger beschäftigte. – Der Minister machte sich ein paar Notizen; dann gab er den Akt und das Lichtbild zurück: »Danke, Herr Krieger, das genügt mir. Und was den Fall ›Volkskredit‹ betrifft, so ist er ja durch die gestern abend den Redaktionen zugegangene und heute früh veröffentlichte Amtswarnung ins akute Stadium getreten. Ich überlege die beiden sich ergebenden Möglichkeiten: man kann entweder die Reaktion abwarten oder sie durch sofortige weitere Maßnahmen beeinflussen.« Er schwieg und blickte wieder auf das Blatt mit den Notizen; er riß es ab und steckte es in die Tasche. Und dann sah er auf die Uhr.

Herr Krieger hatte rote Ohren bekommen. – Dieser Mann, dachte er bedrängt, deckt die mißgestaltete Seele, die die ungeheuerliche Eigenmächtigkeit der Warnungspublikation nicht nur getan, sondern auch ausgeschwätzt hat, halb kollegial, halb amtlich – tut er es aus Anstand, aus Berechnung oder wahrhaftig aus Ahnungslosigkeit? Und was tut man nun? Jedes Zögern ist genau so verächtlich und böswillig wie die unlautere Hast des Kollegen Schmidt. Aber was sagt man nun?

Regierungsrat Krieger sagte gar nichts, sondern griff unauffällig in seine Aktenmappe und legte den Kontoauszug auf den Schreibtisch. Bonde bemerkte es nicht einmal sofort; denn er saß zurückgelehnt im Schreibtischsessel und strich sich mit der Hand nachdenklich über die Stirn. Jetzt war es, als würde er von den weißen zerfalteten Blättern auf dem dunkelgrünen Löschpapier der Schreibunterlage geblendet. Er hob die Hand ein wenig vom Gesicht, ohne sie doch sinken zu lassen, und blinzelte mit den Augen. Dann beugte er sich vor und las. –

Er las lange und genau; fast war es, als prüfe er sogar die Richtigkeit der Addition und der Überträge. Dann hob er den Kopf. Krieger konnte nicht feststellen, daß sich sein Gesichtsausdruck verändert hatte – nur der dünne gerade Nasenrücken schien noch schmaler, schärfer, blasser, eine Einbildung jedenfalls.

»Wann ist das eingegangen, bitte?«

»Heute früh per Rohrpost, Exzellenz.« Bonde schwieg und sah ihn an; aber er wußte wohl nicht, daß er ihn ansah, er blickte irgendwohin, starr und kalt, zufällig auf Herrn Krieger. Der schluckte und meinte etwas eng: »Ich könnte den Auszug Eurer Exzellenz überlassen, zu informativen Zwecken … zur ruhigen Prüfung … auf meine Verantwortung sozusagen …«

»Nicht nötig«, sagte Bonde und langte in die rückwärtige Hosentasche. – Was tut er jetzt, fragte sich Krieger erschrocken; denn er, der Fahndungschef, hatte in der Gesäßtasche den kleinen Dienstrevolver; wahrhaftig, er zieht ein Scheckbuch … »Ich darf Eurer Exzellenz noch sagen, daß der Polizeipräsident von mir noch nicht informiert wurde, dafür allerdings Doktor Schmidt …« – Graf Bonde, einen Scheck schreibend, schaute auf, der Regierungsrat konnte nicht anders, er setzte leise hinzu: »Leider …«

Der Minister unterschrieb den Scheck und trennte ihn vom Talon ab. »Lieber Krieger«, sagte er, »Sie haben selbstverständlich den Präsidenten sofort zu informieren, in meinem Interesse. Sie wollen ferner diesen Deckungs-Scheck zum Akt nehmen. Nach meinen Erkundigungen geht der Kontoauszug richtig. Das ist zunächst alles, was ich hierzu zu sagen und zu tun habe.«

»Aber …«, flüsterte Krieger unglücklich, »ich darf eine ganz persönliche Einwendung wagen … Exzellenz sollte entweder alles klären – oder nichts …«

»Was wollen Sie denn …«, sagte Bonde mit plötzlich rauher Stimme und preßte die Finger auf die Platte, daß die Nägel weiß wurden – und er holte Atem. »Sie sind doch ein anständiger Mensch, Krieger, und haben eine Frau, Sie sollten verstehen, daß es jämmerlich wäre, alles zu klären oder nichts. Aber meinen Rücktritt nehme ich erst, wenn ich diese Affäre bis zum ordentlichen Schluß durchgeführt habe, keine Stunde früher – das bin ich nun wieder dem Staat schuldig – und mir.«

»Gott behüte!« murmelte Herr Krieger etwas unbestimmt und fühlte sein weiches Herz bis zum Hals.

 

Der Zorn gegen ihren Mann und gegen Franziska, der die Gräfin Bonde in der Nacht heimsuchte, wachte nicht mit ihr am Morgen wieder auf, sondern sonderbarerweise erst, als das Hausmädchen, das ihr das Frühstück ans Bett brachte und von dem sie nebenbei die Morgenzeitung wünschte, mit leeren Händen zurückkam und mit der Auskunft, Exzellenz habe das Blatt gegen seine Gewohnheit mit sich ins Amt genommen. Adelina war auf das Bondesche Hausgesetz, unter allen Umständen das Gesicht zu wahren und niemals das Personal durch Gegenorders zu korrumpieren, zu gut eingespielt, um sich etwas merken zu lassen oder auch nur den Hausmeister zum nächsten Zeitungsstand zu schicken, ohne übrigens daran zu denken (wie es Bonde getan hätte), daß es unter den neuen Umständen auch ein Gebot der Klugheit und der Vorsicht sei. Aber ihr Inneres war wieder von Empörung ergriffen, von dem nächtlichen Aufruhr, der ihr vorhin noch, aus tiefem Schlaf erwachend, wie ein Nachtmahr erschienen war – und die Geborgenheit ihres Schlafzimmers, das den Tag durch das Gestänge der Jalousie und die zarte Raffung der Wolkengardinen nur rücksichtsvoll andeutete, hatte ihr gut getan und sie mit beruhigenden Gedanken erfüllt: es ist vielleicht alles nicht so schlimm, es ist ja alles wie sonst, und die kleine Nachttischuhr im Saffiangehäuse zeigt der Langschläferin an, daß Matthias schon aus dem Hause ist – o ja, sie wußte, daß er nicht rachsüchtig und aus seiner Ordnung fahrend hinter der Schlafzimmertür lauerte. Sie entnahm dem nächtlichen Erlebnis nur diese Erfahrung.

Jetzt aber loderte sie wieder auf. Warum erlaubt sich dieser Mann die entsetzliche Lautlosigkeit mit ihr, Schlich und Geschleiche und gespenstische Enteignung, sei es auch des Unglücks? Warum setzt er sie in die Quarantäne seiner unmenschlichen Behutsamkeit, sie zur Stummheit, Blindheit, Taubheit verurteilend? Und hinter dem Isolierraum, der ohne Luft ist, ohne Durchsicht, ohne Durchgang, vergast mit dem Gift ihres Schuldgefühls: mit wem verbindet er sich gegen sie, mit wem alles – mit Franziska, mit dem Staat, mit Himmel und Hölle, Anstand und Schamlosigkeit? Großer Gott, wie gut und wohltätig ist jeder handgreifliche Wüterich gegen solche erbarmungslose Wohlerzogenheit – wie sehr vorzuziehen die Erpressung jener Apachenliebe dieser edelmännischen Drucklosigkeit!

Und dann kam das Zweite, kaum zehn Minuten später. Diener Michael meldete durch die Tür, Exzellenz habe den Wagen zurückgeschickt. – »Den Wagen?« fragte Adelina gedehnt und sah böse die weißlackierte Tür an, »warum?« – Exzellenz habe heute morgen, vor dem Weggehen, gesagt, es könne sein, daß Frau Gräfin verreise. – Schamlos! dachte sie und preßte die Hand auf den Mund, damit sie es nicht rufe, und sie suchte mit den Augen das Telefon auf dem Nachttisch, damit er den Nachtschrei nicht verrate – dann gab sie den Mund frei: »Ach ja«, sagte sie und hüstelte ein bißchen, »ich sprach davon, aber ich bin doch noch nicht so ganz auf Deck, ich verreise nicht – der Wagen kann wieder ins Ministerium fahren.«

Eine Stunde später ging Adelina aus dem Haus, zu einem Spaziergang, wie sie dem Diener Michael sagte; in einer kleinen Stunde sei sie wieder zurück. – Das Wetter sei sehr schön, bestätigte Michael respektvoll und etwas hinterhältig, wie es seine Art war; man kannte sich in ihm nicht aus. Adelina blieb im Vorgarten stehen, ein wenig seitwärts, dort, wo die vergitterten Fenster der Anrichte und der Küche aus dem Efeu lugten, der die Hauswand bis zur Höhe des ersten Stockes bedeckte. Sie betrachtete die Astern, die Chrysanthemen und Pelargonien jenseits des Kiesweges und hoffte, aus den offenen Fenstern eine Äußerung des Dieners Michael zu hören. Sie gestattete sich die Kriegslist, die dem Bondeschen Hausgesetz heftig widersprach, aber sie war ja noch zu mehr entschlossen. Sie hörte Michael falsch pfeifen und ein Küchenmädchen falsch singen – das war alles. Sie ging. Die schönen alten Pappeln, die auf jeder Seite der breiten Straße den Reitweg in doppelter Reihe flankierten, trugen schon schütteres Laub, und es regnete gelbe Blätter, obgleich es windstill war. Adelina ging in nördlicher Richtung, das Triumphtor im Rücken und im Blick, hinter der zusammenlaufenden Zeile der Häuser und der Alleebäume, einen Vorortskirchturm, dessen häßliche Neuheit vom Golddunst der Luft veredelt wurde. Eine bestimmte Querstraße hatte die Eigenart, den Charakter der Straße zu zerschneiden und sie in die südliche Hälfte der Adelspalais und Patriziervillen und in die nördliche Hälfte der Mietskasernen, Läden, billigen Restaurants und zahlloser Hausiererkarren zu trennen. Hier war auch ein Zeitungsstand, bedient von einer dicken alten bärtigen Frau, die Adelina das verlangte Morgenblatt aushändigte, mit der Linken – mit der Rechten aber ein Modejournal unter lustigem Schwatz darbietend: die Zeitung sei gewiß für den Herrn Papa, ein so junges schönes Fräulein müsse aber auch an sich denken. Adelina sah es ein, in die flinken schwarzen Äuglein der Alten lächelnd, und erstand auch das Modeblatt, sozusagen ein Unbedenklichkeitszeugnis über diesen Spaziergang, zum mindesten für die Augen des Dieners Michael. Angesichts des Zeitungsstandes konnte sie das Morgenblatt nicht entfalten, um nicht die Psychologie der Bärtigen Lügen zu strafen. Sie ging weiter und tat es dann, ohne still zu stehen, sie hielt sich für auffällig, stünde sie auf der Straße, zeitunglesend – doch immer noch auf der Bondeschen Wohnstraße, so weit zurück im noblen Südteil das Haus nun auch schon lag. Sie suchte auf der ersten Seite, auf der zweiten Seite – solche eine Offizialwarnung müßte doch in die Augen springen! Sie überflog die anderen Seiten der großformatigen Zeitung, es war im Gehen nicht einfach, unter dem einen Arm mußte sie die Handtasche halten, unter dem anderen das Modejournal, es war auch gewiß nicht ein sorgfältiges Suchen. Aber mußte man etwas sorgfältig suchen, das schon als Ankündigung so viel Unheil schuf, ein solch unseliges Aufgebot abwehrender Kräfte? Sie faltete die Zeitung wieder zusammen und tat sie ins Modejournal. – Oder: er hat wirklich klein beigegeben, er hat Franziskas Gunst mit dem gehörigen Preis gekauft, er hat sich verkauft, sich und sie, Adelina, sich und sie gerettet, Schwamm drüber, wie du mir, so ich dir – nun ja, er hat die Zeitung heute früh mitgenommen, weil nichts darin stand: und es war keine Heldentat, nicht gestern der Tag und der Abend, wahrlich nicht die Nacht und der Morgen …

Die lange und nun schon gänzlich entartete Straße ließ jetzt auf der rechten Seite, auf der Adelina ziemlich rasch dahinschritt, die gleichförmige graue Häuserreihe stehen, übersprang eine Quergasse und zog vor einen tristen Gebäudekomplex aus schwärzlichrotem Ziegelstein, vor eine Brauerei, eine niedrige Mauer mit eisernem Gitterwerk auf den beengten Bürgersteig: dahinter versuchten die halbentlaubten Kastanien des Biergartens wenigstens seinen Gästen den verbissenen Bau zu verdecken, der an ein Gefängnis erinnerte. Hier überquerte Adelina die Straße und sah sie dabei nach links hinauf, weit zurück, wo im Sonnendunst der Triumphbogen mit edler Bewegung die beiden roten Herbstströme der Pappelallee auffing. Auf der anderen Seite betrat sie ein Haus, das wie aus Sympathie für die gegenüberliegende Brauerei ebenfalls von schwärzlicher Ziegelfarbe war.

René, in einem etwas verschlissenen Schlafrock aus weinroter Seide, öffnete selber. Die Aufwartefrau, die seine Zweizimmerwohnung in Ordnung zu bringen hatte, war also schon fort, und Adelina atmete auf; denn es galt von jeher die Regel, daß sie ihn nicht vor elf Uhr vormittags besuchte, eine Zeit, zu der die Bedienerin mit Sicherheit ihr Werk beendet und die Wohnung verlassen hatte (die Bedienerin oder auch nächtliche Teilhaberinnen der Wohnung, Adelina machte sich keine Illusionen); und jetzt fehlten noch zwanzig Minuten bis elf. René verwunderte sich weder über die Regelwidrigkeit, noch über ihr Kommen überhaupt; denn, beiläufig, sie kam nicht mehr sehr oft und tat nicht unrecht daran: vier Jahre sind eine lange Zeit, und wenn man ihren Höhepunkt etwa mit dem Aufrücken des Stimmungssängers zum Mitinhaber der »Guillotine« bezeichnete, so verblieb auch für die Gefühlsneige schon eine reichliche Abrollfläche, zumal bei ihm. Es gehörte überdies zu seiner Art, sich möglichst wenig zu wundern und niemals verblüffen zu lassen: eine vieljährige Tätigkeit als Conférencier förderte diese Mischung von Geistesgegenwart und Unverfrorenheit von der beruflichen Seite her. Er rief oder sang sein helles »Ha!«, die Note seiner Freude, und hißte dabei sein strahlendes Lächeln, mit dem er so viel erreicht hatte: beim Publikum des Stadttheaters und der »Guillotine«, und bei Adelina. Er küßte sie auch durch den Schleier, wenn auch ungenau zielend oder durch eine Bewegung ihres Kopfes die Nasenspitze berührend statt des Mundes. Er führte sie, einen Arm um ihre schmalen Schultern, ins Wohnzimmer, einen großen hellen Raum, dessen zwei Fenster auf die Straße gingen und dessen behäbige Möbel für einen Künstler in rotem Seidenmantel und mit Namen René Brio entschieden zu bürgerlich waren – aber sie gehörten nicht ihm, sondern zur Wohnung.

»Na, Opferlämmchen?« fragte er und lachte sie an. Die Anrede war nicht neu geprägt, sondern galt als unverfrorener Kosename schon seit den vier Jahren, die ihn ja auch rechtfertigten. Er schaute an ihr herunter und zog das Modejournal unter ihrem Arm hervor. La Mode Illustrée las er und fragte strahlend: »Hast du keine anderen Sorgen, Contessa?«

»Weiß Gott!« meinte sie erbittert, riß es ihm aus der Hand und entnahm dem Modeblatt die Zeitung.

»Charmant!« lachte René. » La Mode Illustrée als Gewand für den Dolch, der schon fein säuberlich im Herzen unserer Tyrannin sitzt!«

Adelina verfärbte sich. »Ich hab's nicht gefunden«, sagte sie mit dünner Stimme.

»Hier, Liebling«, sprach René, die Blätter wendend, »na ja, der Dolch steckt nicht gerade im Herzen, sondern ziemlich weit hinten, sagen wir: im Rückenfortsatz – hier, Ada, ergötze dich …« Adelina warf das Modejournal, die Handtasche und die Handschuhe auf eine Art Buffet, ein riesiges Möbel mit gedrehten Säulen, vielen Rhomben und Kanten, das die halbe Wand einnahm – dann griff sie nach der Zeitung und las. »Ich verstehe gar nichts!« klagte sie und trat näher ans Fenster, gleich als ob das stärkere Licht ihr das Verständnis erleichtern könnte. René betrachtete sie, die Hände auf dem Rücken, und schien belustigt. Sie las mit großen Angstaugen und sah aus wie ein Schulmädchen bei einer zu schweren Mathematikaufgabe. »Das klingt ja«, flüsterte sie, »als ruinierte sie das ganze Land, wenn man es sie weiter treiben läßt …«

»Na also, Opferlämmchen«, lobte René, »du verstehst ja ganz gut.«

Adelina ließ die Arme sinken und verlor die Zeitung aus der Hand. »Was soll ich denn nur tun …« stöhnte sie.

»Warum bist du eigentlich hergekommen?« fragte er zurück und kniff ein wenig die Augen zusammen. Sie fuhr auf und starrte ihn an. – Was für eine Frage – er ist doch schuld an allem, an allem, an allem! Aber ist es deshalb, daß sie herkam, oder ist es nicht, weil Bonde zu Franziska gelaufen war? Wie du mir, so ich dir – der neue Wechselspruch, das unendliche Rundum, zugleich schamlos und lächerlich und sinnlos, zum Verzweifeln …

»Versteh mich recht«, sagte er, mit einemmal ernst, »ich meine damit, ob du mit einer bestimmten Absicht zu mir gekommen bist, mit einem Plan, einer Idee oder sowas …«

»Nein«, antwortete sie und war ihm schon wieder dankbar, »ich kam eigentlich … Ich wußte ja gar nicht, wie weit du unterrichtet bist …«

»Ich war schon gestern abend unterrichtet, aus erster Hand – oder aus zweiter Hand«, verbesserte er sich und verzog den Mund; »aber bleiben wir zunächst mal bei dir. Was sagt dein Mann – das ist ja schließlich die Hauptsache – wie stellt sich dein Mann zu dir?« – »Ich weiß es nicht«, entgegnete sie leise. – »Was?«

»Er sagt gar nichts … Das heißt, ich habe ihn seit gestern abend nicht mehr gesehen – und da begann erst die Geschichte so recht, mit einem Anruf Franziskas …«

»So, so«, meinte er nachdenklich; »nun, da kann ich dir als Informationsquelle dienen: er rekognoszierte das Terrain, er war so gegen elf Uhr in der ›Goldquelle‹ und tat so, als wollte er nur das Telefon benutzen …«

»O, da weiß ich noch mehr!« entfuhr es Adelina und ihre Hand flatterte hoch wie ihre Stimme. »In der Nacht war er bei Franziska!«

»Ha!« rief oder sang René, »das zu wissen, Contessa, ist mehr als 'nen Taler wert!«

Adelina erschrak. – Sie hätte es nicht sagen sollen, nein, sie hätte …

»Oder tausend Taler!« steigerte er sich und hielt den Kopf schief. »Denn weißt du, Lämmchen, wieviel deine Liebesbriefe wert wären, wenn du mir welche geschrieben hättest oder wenn ich wenigstens jene aus deiner Mädchenzeit noch besäße oder wenn ich sie mir nachträglich auch selber schriebe? Hör zu: meine ganze Geschäftseinlage wären sie wert, o ja! fünfundzwanzigtausend! mein gesamter Volkskredit von deinen Gnaden – oder glaubst du vielleicht, ich stehe fein säuberlich außerhalb des Spiels und kann mir ins Fäustchen lachen, weil's mich nichts angeht, und kann dir in Gottesnamen ein bißchen auf die verbrannten Fingerchen blasen – eia poppeia, tut's noch weh, mein Lämmchen?« –

Tut's noch weh, mein Lämmchen? Ja, der Schreck tut weh, der spitz in sie einfuhr und in ihr breiter wurde, zugleich doch in ihr kreisend und die Worte und die Zahlen mitreißend, die sie nicht verstand oder von denen sie nur spürte, daß sie, auf unwürdigste Art, für ihn gefährlich waren – für wen? Für ihren Mann, nicht für den Verbündeten vor ihr. »Was heißt denn das alles?« flüsterte sie. »Das heißt«, antwortete er und stieß beide Hände in die Taschen des Schlafrocks, die breiten Schultern anhebend, »das heißt, daß ich kein Schwein bin wie der Herr Bankprokurist, der mir die Offerte gemacht hat, aber auch kein Engel, wie es augenscheinlich ja auch dein Herr Graf nicht ist. Man könnte also, zu eigenem Gebrauch, aus der kommunen und der gräflichen Schweinerei eine Zange machen und ihn zwicken …«

Gewiß hörte Adelina seine Worte und sie verstand sie auch, sie sah ihm auch in das Gesicht, den taggrauen und bröckligen Abguß der einstigen Tenorschönheit, sie vernahm auch, wie fernes Läutwerk, den eigenen Gedanken, der unaufhörlich fragte: wo bin ich denn, wo bin ich denn? Aber sie hatte mitten in seinem Satz ganz fern aus der Welt ein Signal gehört, das sie kannte und das sie lähmte und isolierte – es war recht unglaubhaft und vielleicht ein verruchter Spaß der Halluzination: denn es war die Dreiklanghupe des Bondeschen Elektromobils.

»Was hast du denn?« fragte René.

Adelina wandte den Kopf mit einem Ruck zur Seite, öffnete weit die Augen, ein wenig auch den Mund – das Signal erklang von neuem, aus größerer Nähe. Sie lief ans Fenster und drückte das Gesicht an die Scheibengardinen, die nach Staub rochen. Sie sah nach rechts die Straße hinauf, sie konnte nicht weit sehen: knapp bis zur Querstraße neben dem Bierkeller – es mag ja ähnliche Hupen geben …

Das dunkelblaue Auto Bondes kam in langsamer Fahrt heran, der Chauffeur Rudolf musterte scharf die Hausnummern auf der linken Straßenseite und hielt jetzt, genau gegenüber dem Fenster, vor der Brauerei. Bonde stieg aus und überquerte die Straße.

Adelina sprang vom Fenster zurück. »Mein Mann kommt!«

»Nein …«, flüsterte René, und seine Augenlider gingen ganz schnell auf und zu, sie flackerten gleichsam, einen Augenblick lang. Dann richteten sie sich auf die Frau und zwinkerten nur noch ein wenig. »Das wird lustig«, meinte er und schien schon wieder sehr ruhig.

»Du darfst ihm nicht aufmachen!« flehte Adelina und sah mit kleinen Rucken des Kopfes die Wände entlang, ob sie auch genügend Schutz vor dem Eindringling böten.

»Aber gewiß mache ich ihm auf«, widersprach René und wagte sogar zu lächeln; »denn erstens bringen mich solche Besuche, mit denen man immer rechnen muß, grundsätzlich nicht aus dem Häuschen; zweitens scheine ich in der angenehmen Lage des Mannes zu sein, dem von beiden Seiten Offerten gemacht werden; und drittens habe ich ihn in der Hand, nicht umgekehrt.«

»Aber ich«, rief sie, furchtbar aufgebracht, »ich bin doch auch noch da! und ich finde diesen Jargon widerlich, dies alles, diese ganze Schacherei mit meinem Unglück! und ich verlange Rücksicht auf mich, ein bißchen Anstand, verstehst du? – man bringt keine Frau in solche Lage …«

René betrachtete sie stumm, und sie wußte nicht: überlegte er einen Ausweg oder weidete er sich an ihrer Angst oder wartete er einfach auf das Klingeln der Türglocke. –

Es gibt bestimmte Geräusche, die die Regie der Vorsehung mit Beschlag belegt hat, um das arme Menschlein zu terrorisieren: es läutet – es klopft – ein Brief fällt in den Kasten. Das Schicksal, kurz bevor es in Erscheinung tritt, bemüht das Ohr des Opfers – und selbst der Taube hört es mit dem aufzuckenden Herzen. – Adelina war bevorzugt; denn sie wußte, daß es läuten würde. Doch als es läutete – nicht zu lang, nicht zu kurz, nicht zu grell und nicht zu leise –, schrak sie zusammen, als hätte sie es nie erwartet.

»René …«, stöhnte sie und hob die schmalen Schultern ganz hoch, als wollte sie in sich hineinkriechen.

 

Das kleine Schlafzimmer lag neben dem großen Wohnzimmer. Adelina saß auf dem äußersten Rand des Messingbettes. Sie konnte lauschen oder sich die Ohren verstopfen, sie konnte sich auch im Spiegel des weißen Kleiderschrankes sehen: das war so ziemlich alles. Sie war eingeschlossen. Alles war schnell und lautlos gegangen, wie es sich geziemte, nachdem die Glocke gedroht hatte. Adelina war sehr gefügig geworden, sie lief ins Schlafzimmer, kaum daß ihr Renés Zeigefinger den Schlupfwinkel gewiesen hatte. Er folgte ihr, verschloß die Zwischentür und zog den Schlüssel ab, und er ging durch die andere Tür auf den Korridor, verschloß sie von außen und zog den Schlüssel ab. Adelina begriff die Strenge der Maßregel nicht ganz: warum ließ er nicht die Schlüssel zu ihrer Verfügung stecken? Traute er ihr nicht oder gehörte es einfach zur Übung für derartige Fälle, mit denen man immer rechnen muß und die ihn nicht aus dem Häuschen bringen? Sie hatte nicht Zeit oder keine Gelegenheit zu fragen. Er öffnete ihm ja schon.

Der Korridor begann beim Schlafzimmer und lief am Wohnzimmer vorbei mit einem kleinen Knick zur Wohnungstür. Sie hörte nur gemessenes Gemurmel, ihr Herz schlug auch zu laut. Die Schritte näherten sich dem Wohnzimmer, Adelina unterschied sie genau: Bondes Stiefel, Meisterwerke des Hofschuhmachers, durften weder knarren, noch einen schleichenden Tritt verursachen, sie schritten elastisch und gedämpft, aber nicht lautlos; René trug alte knarrende ausgeschnittene Lackschuhe. Adelina starrte auf die Tür, gebückt sitzend. Die beiden Männer traten nebenan ein.

»Bitte«, sagte René, und seine Stimme war so kühl, daß sie der Lauschenden fremd vorkam. Dann war ein kleines Schweigen. – Jetzt sehen sie sich an, dachte sie, Renés Gesicht wird ihm mißfallen, Bondes Gesicht wird ihn reizen …

»Herr Spitzeder«, sprach Bonde höflichen Tones, »ich sah Sie gestern abend in der ›Goldquelle‹ sitzen und darf deshalb annehmen, daß Sie nicht versäumt haben werden, das heutige Morgenblatt zu lesen.«

»Darf ich Sie zuvor fragen, Exzellenz, ob Sie auch zu mir in amtlicher Eigenschaft kommen?« – Achtung, Bonde! dachte Adelina und bewegte unbehaglich die Schultern, hier steckt schon ein Hinterhalt, eine Falle, eine Schurkerei, irgendwo …

»Wie denken Sie sich das: in amtlicher Eigenschaft?« fragte Bonde zurück, und Adelina hörte aus der Stimme, daß er dabei ein wenig lächelte – (oh, so gut kannte sie doch seine Stimme!). »Ich bin doch kein Kriminalbeamter, Herr Spitzeder. Ich komme als private Person zu Ihnen, weil mein privates Leben auf sehr überraschende und peinliche Weise mit der Ihnen bekannten Affäre verbunden ist. Und aus dem gleichen Grunde war ich gestern abend in der ›Goldquelle‹ – genauer gesagt, um mich von dort aus telefonisch bei Frau Vio zu einer Unterredung anzumelden.«

Adelina hob das Gesicht und schloß die Augen. Es war gut, seine Stimme zu hören und das, was sie enthielt: die Klarheit, die Wahrheit. Hörst du die Stimme, dann sagst du dir: so ist es, und nicht anders, und alles andere ist Nebel und Lüge, alle anderen sind Fälscher und Verleumder, und du gehörst zu dieser Stimme und tust ihm Unrecht, ach, du tust ihm immer Unrecht!

Sie zuckte zornig zusammen; denn der Fallensteller sagte gedehnt: »Ja, und diese Unterredung fand zu nächtlicher Stunde in Franziskas Wohnung statt – nicht wahr, Exzellenz?«

– Wie niedrig! dachte Adelina und wurde rot vor Scham, wie niederträchtig bis in den vertraulichen Vornamen hinein!

Bonde zögerte nicht mit seinem ruhigen: »Jawohl«. Aber er setzte doch hinzu, vielleicht nach einem prüfenden Blick auf das Gesicht des anderen: »Warum fragen Sie übrigens?«

»Weil ich«, entgegnete René sofort, »mich über eine Unvorsichtigkeit wundern muß, die zur Mißdeutung geradezu herausfordert. Denn Sie dürften doch wissen, Exzellenz, mit wem Sie es zu tun haben.«

Adelina sah mit großen Augen die Tür an. Bonde fragte: »Meinen Sie damit Frau Vio oder sich selber, Herr Spitzeder?«

»Mich?« rief oder sang René. »Nun, ich dachte eigentlich an eine dritte Person, die für die unterweltlichen Geschäfte der Firma engagiert ist, an einen gewissen Leitschuh, Prokurist des ›Volkskredits‹, einen zwar dilettantischen, aber eifrigen Filou.«

»Mir unbekannt«, sprach Bonde nach einer kleinen Stille; »aber wir kommen ab. Der Zweck meiner Unterredung mit Frau Vio war, die Wahrheit ihrer Behauptung, mit meiner Frau in privater und geschäftlicher Verbindung zu stehen, festzustellen. Der Zweck meiner Unterredung mit Ihnen ist, meine Frau zu schützen.«

Adelina schluckte, weil ihre Kehle plötzlich trocken wurde – um Gottes Willen, nur nicht husten müssen!

»Ich verstehe Sie nicht«, meinte René leise.

»Um meine Frau vor dem zu schützen, was Sie vielleicht mit den ›unterweltlichen Geschäften‹ andeuten wollten. Ich nenne es: Erpressung.«

»Warum schützen Sie Ihre Frau nicht, indem Sie Franziska protegieren, das heißt doch nur: den Bankskandal vermeiden?«

Wahrhaftig, Bonde lachte leise – um Adelinas Lippen zuckte es. »Es ist nicht gerade eine Schmeichelei, Herr Spitzeder, daß Sie das Unterweltsgeschäft, für das jene dritte Person zuständig ist, jetzt mir zuschieben. Es ist zum mindesten ein Irrtum.« René sagte etwas undeutlich, als ob er mit geschlossenen Zähnen sprach: »Ich sehe ihn ein, Verzeihung. Und was habe ich zu tun?«

»Einen Augenblick, Herr Spitzeder. Ich glaube, Sie kannten meine Frau schon als Mädchen.«

»Ja.«

»Ich vermute, Herr Spitzeder, daß die Beträge, die sich meine Frau von Frau Vio geben ließ, im Sinne dieser alten Bekanntschaft verwendet wurden; denn meine Frau benötigte kein Geld, wohl aber Sie. Ich will Ihnen mit diesen Vermutungen nicht schaden; aber ich kann, sollten sie sich als richtig erweisen, meiner Frau nützen. Wollen Sie bitte nachdenken, Herr Spitzeder, oder in sich hineinhören, bis in jene Tiefe, wo in jedem Mann der Ritter steckt, in jedem Herzen der Anstand, und dann antworten.«

René dachte nach, es herrschte Schweigen. Adelina preßte die Hände zusammen. – Ritter! O du lieber Gott, Ritter René mit dem Herzensanstand! Wenn er jetzt zu lachen wagt – wenn er nur zu lächeln wagt, mußt du ihm in die Fratze schlagen, Matthias, und weggehen – ich verdiene es nicht besser.

»Sehen Sie, Exzellenz«, sprach endlich René, merkwürdig erregt, und Adelina, die Hände trennend, schaute zugleich verwundert und mißtrauisch, seine bewegte und beengte Stimme im Ohr, »man kann nachdenken und in sich hineinhören und allerlei dabei vernehmen – aber man kommt dadurch doch nicht aus der Zwangsjacke heraus, in der man steckt – ganz deutlich gesagt: in die die akute Lage auch mich gesteckt hat. Kurz, mir wurde gerade gestern abend in der ›Goldquelle‹ bedeutet, daß Franziska das in mein Kabarett investierte Betriebskapital kündigt, also mich wirtschaftlich und beruflich ruiniert, falls ich nicht aktive Partei ergreife.«

»Wenn ich Sie recht verstehe«, meinte Bonde kalt, »ist also der Zweck meines Besuches, nämlich die Rettung meiner Frau vor der Niedertracht der Unter- und Oberwelt, für Sie keine Frage der Ritterlichkeit und des Anstandes, sondern des Geldes. Nun gut, das vergröbert zwar die Debatte, aber vereinfacht sie auch. Also bitte, wieviel …«

»Ich erkläre«, fiel René mit lauter und dennoch flatternder Stimme ein, und ein Stuhl rückte, er schien also aufgesprungen zu sein, »ich erkläre: die Gräfin Bonde ist meine Wohltäterin; ich lernte sie vor sechs Jahren als Freundin meiner Frau kennen, wohl auch als Freundin meiner Kunst; als sie erfuhr, daß es mir schlecht ging, unterstützte sie mich auf die vornehmste und vorbildlichste Art, ohne daß sie persönlich in Erscheinung trat und indem sie die Auszahlungen über den ›Volkskredit‹ meiner geschiedenen Frau leitete …«

»In einer Gesamthöhe von achttausendfünfhundert Mark«, warf Bonde sachlich ein.

»Ja, ja, ja!« rief René, er sang es nicht, sondern schrie es beinahe, wie erbost über die ziffernmäßige Feststellung, »die Zahl wird schon stimmen, ich habe sie nicht auf Heller und Pfennig im Kopf! – Aber ich erkläre: meine Verbindung mit der Gräfin Bonde respektierte selbstverständlich ihre soziale Stellung und den Abstand zwischen der großen Dame, die sozusagen eine anonyme Wohltäterin zu sein wünschte, und dem bedürftigen Künstler, den sie unterstützte. Ich sah sie ganz wenige Male an drittem Ort und habe sie ungefähr seit der Konsolidierung meiner wirtschaftlichen Verhältnisse überhaupt nicht mehr gesehen.« –

Und dann? – Adelina war vom Bett aufgestanden, vor Scham und Freude, und hielt sich am vierkantigen Messinggestänge fest; denn es war ihr heiß und kalt und etwas schwindlig. Warum sollte sie sich nicht auch freuen? Warum sollte es nicht möglich sein, daß auch einmal das Gute ansteckend ist, wie es das Böse zu sein pflegt? Und selbst der bezahlte Anstand wäre ein Sieg über die bezahlte Schurkerei …

Und dann? Warum reden sie nicht weiter, was schweigen sie so lange, warum dankt ihm Bonde nicht oder sagt ihm, daß er ihm glaube oder daß er ihm nicht glaube? Was tun sie jetzt? Was haben sie denn? – Die weißlackierte Tür ist wie eine Wand aus Eis, und alles stockt und gefriert, die Scham und die Freude, und kalte Angst bricht ein …

Bonde hatte die Erklärung mit Ruhe angehört. Er saß in einem großväterlichen grünen Tuchsessel, dessen Armlehnen wie Schlummerrollen aussahen und mit Troddeln geschmückt waren; er hatte den Kopf mit seitlicher Neigung auf die rechte Hand gestützt und sah den Sprechenden nicht an. Jetzt schwieg René; er sah hübsch aus und viel jünger, weil die Erregung seine graue Haut rötete und seine Augen belebte. Doch Bonde schaute ihn nicht an, noch immer nicht, sprach kein Wort und sah unverwandt geradeaus zur Wand, sein Blick war traurig; aber es war dennoch kein schweifender und sich verlierender, sondern ein auf das Ziel gerichteter Blick. Jetzt hob er stumm die linke Hand und wies mit dem Zeigefinger auf Adelinas Handtasche und Handschuhe, die auf der säulenreichen Kredenz lagen, neben dem Modejournal – Tasche und Handschuhe aus mausgrauem Wildleder, zugehörig zu ihrem grauen Schneiderkostüm. René wurde sehr blaß; vielleicht, dachte er, hat Bonde die Gegenstände schon entdeckt, als er eintrat. René tat etwas Unerwartetes: er trat vor die Kredenz, so als wären es nicht Adelinas Sachen, sondern Adelina selber, die er mit seinem Körper deckte; dann legte er den Finger an den Mund.

Bonde ließ langsam die Hand sinken und musterte den Sänger, als habe er ihn bisher noch nicht gesehen – sehr genau und aufmerksam, er ließ sich Zeit; dann lächelte er ein wenig, spöttisch oder schmerzlich, oder zugleich spöttisch und schmerzlich. René wurde rot, und sonderbarerweise schüttelte er langsam den Kopf. –

»Ich verlange die Erklärung schriftlich«, sprach Bonde kühl nach der langen Stille.

»Gerne«, sagte René leise.

Adelina, nebenan, strich sich befreit über die Stirn und schloß die Augen, und die Angst entflatterte, ihre Schläfen streifend, sie spürte es.

»Und wie hoch beläuft sich die Bankeinlage bei Ihrem Kabarett, Herr Spitzeder?«

René schluckte und antwortete: »Fünfundzwanzigtausend Mark und die letzten Quartalszinsen in Höhe von fünfhundert Mark; aber die übernehme ich …«

»Fünfundzwanzigtausend Mark«, unterbrach Bonde. »Da ich den Scheck nicht persönlich ausstellen will, erhalten Sie ihn heute nachmittag, spätestens morgen durch einen Mittelsmann, dem Sie dann die schriftliche Erklärung auszuhändigen haben.«

»Ich schreibe Ihnen die Erklärung selbstverständlich sofort«, sagte René, und es spielten die Kaumuskeln unter dem Wangenfleisch, als verbisse er sich noch einen Zusatz. Er drehte sich um und entnahm der Kredenzschale einen Schreibblock. Er schrieb stehend und in unbequem gekrümmter Haltung, die Kredenz als Schreibpult benutzend – er gab keinen Augenblick die Tasche und die Handschuhe Adelinas den Augen Bondes frei. Bonde saß still und schaute auf den unechten Smyrnateppich zu seinen Füßen. René hob den Kopf zur Seite und meinte über die Schulter: »Übrigens war ich gestern abend in der ›Goldquelle‹ bei einem Gespräch zwischen besagtem Leitschuh und einem gewissen Amann zugegen, das die zu organisierende Aufputschung der ländlichen Einlegerschaft des ›Volkskredits‹ zu einer Protestaktion oder sogar zum Widerstand gegen die staatliche Maßregel betraf; dabei sollte der Amann als Emissär und Wanderredner fungieren. Vielleicht interessiert Sie das, Exzellenz.«

»O ja«, sagte Bonde, »das interessiert mich.«

René schrieb weiter. Dann reichte er dem Minister das Blatt. Bonde las es, faltete es zusammen und steckte es ein. Er sagte kühl: »Ich danke, Herr Spitzeder.«

Adelina hörte die Schritte auf dem Korridor sich entfernen. – Ob er ihm wohl die Hand gibt? fragte sie sich.

René kehrte ins Wohnzimmer zurück und schloß die Schlafzimmertür auf. Sein Gesicht war abgespannt. »Alle Achtung!« sagte er. Sie wußte nicht recht, wem er die Achtung zollte. Bonde, ihr oder sich. Sie ging ins Wohnzimmer hinüber. Sie wußte auch nicht, was sprechen. Sie wollte fort, so rasch wie möglich. Sie trat ans Fenster: Bonde bestieg den Wagen, Chauffeur Rudolf fuhr an, streckte den betreßten Ärmel warnend nach links und kehrte um. Das Elektromobil rollte stadteinwärts. Die Dreiklanghupe ertönte vor der nächsten Straßenkreuzung. Adelina wandte sich um. »Jetzt verstehe ich deinen Geschmack überhaupt nicht mehr«, sagte René und zündete sich mit nervösen Händen eine Zigarette an, »deinen Geschmack an mir.«

Was sollte sie darauf antworten? Es lag ihr auf der Zunge, zu sagen: ich auch nicht. Doch wozu? Sie beide wußten ja, daß es heute ihre bemerkenswerte Abschiedsszene gewesen war – nun ja, und sein Abgang war besser als der ihre …

Sie fuhr zusammen, zur Kredenz blickend: »Um Gottes Willen – meine Sachen!«

»Ha!« rief oder sang René und hißte sein strahlendes Lächeln, »gut, daß er diesen Regiefehler übersehen hat!« Dann küßte er ihr die Hand und sagte ihr nicht: auf Wiedersehen. Er sagte: »Verzeihung für alles und Dank für alles, Adelina …« – ein sonderbarer Mensch nach alledem.


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