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Fünftes Kapitel

Bonde, Minister des Innern und oberster Chef des nicht militärischen Sicherheitsdienstes, liebte merkwürdigerweise nicht die Polizei, deren Organisation und Schlagkraft er doch auf vorbildlicher Höhe hielt. Er war zum Beispiel zu Regierungsrat Krieger, dem hervorragenden Chef der Fahndungsabteilung, und sogar zu dem Polizeidirektor selber, einem hochqualifizierten und keineswegs blutdürstigen Beamten, von einer beinahe abweisenden Kühle, wie es etwa die Haltung eines humanen Gerichtsherrn gegenüber dem nun einmal gesetzlich vorgesehenen, aber dennoch abscheulichen Scharfrichter sein mochte, und in seinem Ministerium galt das Dezernat für das Polizeiwesen für so etwas wie ein Strafposten. Die den Minister aus der Nähe kannten oder zu kennen vermeinten – wie Dr. Schmidt – und aus Erfahrung wußten, daß er keineswegs zu den Philanthropen gehörte und sogar gewisse Strömungen einer Justizreform im humanitären Sinn soziologischer Erkenntnistheoretiker mit Hohn und Spott verfolgte, schoben seine Abneigung gegen die Polizei auf seine Standesvoreingenommenheit gegen das Büttelwesen und hatten damit wohl auch nicht Unrecht. Aber Ordnung muß sein, und der Hüter der Staatsordnung kann den Polizeiknüppel nicht entbehren, selbst wenn er ein feudaler Herr ist und sich alle zehn Tage die Fingernägel maniküren läßt. Es gab da hübsche, übrigens nicht gehässige Flüsterwitze im Ministerium, die den Dr. Schmidt zum Urheber haben sollten. Im Augenblick allerdings war der persönliche Gehilfe des Chefs ganz ohne Humor, ein Tyrann seiner Schreibmaschinendamen, ein finsterer Mann.

Der Chef sah nicht viel anders aus, nur seine Höflichkeit litt nicht und seine Stimme klang durch das Telefon so gelassen und liebenswürdig wie immer, als er sich nach dem Befinden seiner Frau erkundigte und ihr dann sagte, daß er wegen dringender Arbeit im Ministerium frühstücken und erst gegen Abend nach Hause kommen würde, möglicherweise sogar etwas später als sonst. Bonde war sehr mit sich im Unfrieden, weil er sich gezwungen sah, seine Gedanken wie Spitzel und Spione gegen den verdächtigen Menschen auszusenden – um Gottes willen, gegen welchen verdächtigen Menschen? – und er betupfte voller Scham über sich und seine Spitzelhöflichkeit die Mundwinkel mit dem Taschentuch, als er den Telefonhörer eingehängt und sich die Frist bis zum Abend verschafft hatte. Eine Frist bis zum Abend – was nützt sie und wem nützt sie: dem verdächtigen Menschen? Man soll sich nicht täuschen; und Herrn Regierungsrat Schmidt, der einen Augenblick geneigt gewesen zu sein schien, den Geheimagenten und Provokateur gegen die höchste Verwaltungsstelle der Staatsordnung zu machen, möge die Schamröte im fetten Nacken stocken.

 

Gewiß, es kam dann doch der gefürchtete Augenblick, wo er, Graf Bonde, der die Polizei nicht liebte und keinen Triumph erbärmlicher fand als den des gesetzlichen Menschenjägers, wenn er den gejagten Menschen stellte, der Gräfin Bonde die Hand küßte und sie dann ansah, einen guten Abend wünschend. Adelina war recht blaß, und auf ihr zartes und verquältes Stirnchen gehörte ein zarter Kuß, als sie tapfer log, wie gut es ihr schon wieder ginge. Matthias küßte sie auf die Stirn – es war doch kein Judaskuß, Mitleid ist nicht Verräterei, o nein, es ist der natürlichste Weg, den Anstand zu wahren und das Zartgefühl, und alles zu umgehen, was polizeilich klingt wie das Wort: Vernehmung. Mitleid ist besser als Liebe, besser für den, der sich seit sechs Jahren fragt, ob er seine Frau liebe, und nur zu gerne die ungenaue Antwort bereit hielt, daß ihn seine Frau niemals geliebt habe. Ob denn Adelina, kühle Braut, kühle Frau des kühlen Mannes – und immer seltener ist die Zärtlichkeit zwischen ihnen geworden, gleichsam immer unziemlicher die körperliche Nähe im höflich freundschaftlichen Nebeneinander des Lebens –: ob sie denn überhaupt lieben könne? O ja, sie kann es! Und woher weiß er es – nur aus dem selbstischen Grunde, daß auch er es könnte?

Es gehörte zur hinlänglich erprobten Formel dieser Ehe, daß auch das tägliche Leben mit einer fröstelnden und ein wenig unsinnigen Feierlichkeit umgeben wurde und gesellschaftliche Vorschrift in Kraft blieb, selbst wenn sie ohne Gäste waren: und sieh, es konnte für einen gesetzlichen Menschenjäger, der die Amtspflicht abscheulich fand und schamhaft mit dem Mitleid operierte, nichts Angenehmeres geben als das herkömmliche Souper zu zweit, mit dem befrackten Diener Michael in hoffärtiger Starre hinter dem Stuhl und dem schönen alten Meißener Tafelaufsatz voller Zyklamen zwischen sich und der Erbarmungswürdigen. Der ausladende elektrische Lüster brannte nicht, aber bedrohte noch mit seinem blinden Pomp die vorgeschriebene Intimität; die Kandelaber an den roten Damastwänden täuschten mit künstlich betropften Wachskerzen und als erstarrte Flamme gewundenen Glühbirnen das Licht von Kerzen vor: doch auf dem Eßtisch standen Porzellanleuchter mit echten Kerzen und echtem milden Schein und schmeichelten der Dame. Der Herr sprach höflich und verhalten, wie es sich, soupierend, zwischen Dienerfrack und Kerzenflammen gehörte, und was sich zur kleinen Musik von Glas, Porzellan und silbernem Besteck geziemte: »Mein alter Geheimrat Brendel – du weißt doch, der langjährige Leiter der Abteilung B – hat um seine Pensionierung eingegeben. Tüchtiger Beamter – schade.«

»Schade«, wiederholte in höflicher Überzeugung die Dame, und an ihren langen dunklen Wimpern, die sich nicht ganz hoben, hing sich das Lichtspiel der Kerze, welche im winzigen Luftzug des Wortes flackerte und zitterte, höflich bedauernd auch sie. Es gab nichts Angenehmeres für Graf Bonde als die eingefahrene Straße der allabendlichen Festlichkeit – und zu dem gewählten Mitleid mit der Gräfin Bonde fügte sich die Rücksichtnahme auf den beruflich anwesenden Diener Michael ganz wie von ungefähr.

Aber das Abendessen zu zweit dauerte nur vierzig Minuten, nicht mehr und nicht weniger, und der Haushalt war zu gut organisiert, um auf Verzögerungen rechnen zu können. Übrigens brauchte Bonde, dessen systematischer Kopf während dieser vierzig Minuten Zeit genug hatte, über die fortzusetzende und gleichzeitig zielfördernde Methode der Barmherzigkeit nachzudenken, keine Verschleppung mehr. Er verschmähte sogar die Reserve des allabendlichen Béziquespieles, das die Neutralität der kleinen Essensstunde zwanglos verlängert hätte. Wohl gingen sie, wie gewohnt, aus dem Speisesaal ins kleine Wohnzimmer, auch »grünes Zimmer« genannt, weil seine Plüschmöbel, Decken, Kissen, Quasten, Lampenschirme, Vorhänge und der Grundton der Teppiche grün waren, wenn auch von so unterschiedlichem Grün, daß es bunt und unruhig wirkte – aber Bonde setzte sich nicht, wie Adelina, an den ovalen Tisch, sondern sagte: »Einen Augenblick, bitte«, und ging weiter in sein Arbeitskabinett. Hätte er die Tür nicht offengelassen und wäre nicht die tiefe Unruhe in ihrem Herzen, so stünde hinter seinem Verschwinden nichts Ungewöhnliches, vielleicht nur eine Notiz zu den Akten oder ein Telefongespräch mit einem Referenten. So aber starrte Adelina ihm nach und hielt den Atem an, in sonderbarer Gewißheit, daß er anders zurückkehren würde, als er gegangen sei: daß er jetzt das Schicksal, welches sich beharrlich und beängstigend versteckte, so nahe es war, an den Haaren herbeizog. Das war wieder einmal ein zu grobes Bild für den höflichen Mann, aber dennoch – wer kennt sich bei ihm aus? – kein falsches. Es dauerte nur den Atemzug lang, den Adelina unterdrückte: dann erschien Bonde wieder in der Tür, die er mit sonderbar verlegener Langsamkeit hinter sich schloß, den Blick ganz hoch zur Zimmerdecke hebend, als überlege er, ob er etwas vergessen habe, oder als lausche er auf fernes Geräusch oder als bedenke er jetzt erst, was er eigentlich beabsichtige, und dabei lächelte er verlegen und hölzern, fast ein wenig töricht. Unter dem Arm – unter dem angepreßten Arm, wie wenn er fürchte, er könne sie verlieren oder man wollte sie ihm entreißen – trug er die Aktenmappe.

Er kam an den Tisch, und da er, aus Barmherzigkeit, seine Frau keineswegs ansehen wollte, blickte er auf die Mappe, verloren lächelnd, angelte, sich setzend, in der Westentasche nach dem Schlüsselchen und drehte es versonnen zweimal in dem kleinen Nickelschloß um. Es gab zwei winzig schnappende Geräusche: es mußte sehr still im Zimmer sein, daß sie so deutlich wurden. Wie hatte Adelina gestern nacht, fiebrig und entscheidungssüchtig in die Bibliothek eindringend, die Mappe angeredet? »Verschlossen wie der Herr …« Gut, jetzt war die Mappe offen und der Herr hatte den Vorwurf begriffen. »Ach, so hör doch mal ein bißchen zu, liebes Kind«, sprach er jetzt ganz beiläufig, in den Akten blätternd, »ich habe da wieder dieses Dossier … ich erzählte dir doch schon, irre ich mich nicht, von dieser erstaunlichen Sache, die den Psychologen und den Soziologen gleicherweise interessiert und möglicherweise selbst dich …« Er sah sie nicht an, in seiner freundlichen, ein wenig hastigen Rede, er schilderte die Einrichtung und Geschäftsgebarung des »Volkskredits«, seinen fatalen Aufschwung, der bereits eine Krise der ländlichen Sparkassen und Genossenschaftsbanken zur Folge habe – man wußte nicht recht, ob er aus den Akten vorlas oder an Hand der Akten referierte; denn er hob nicht die Augen von den Papieren, und jetzt lachte er sogar leise, eine Seite glatt streichend: »Hör dir dies an, Ada, aus einem Bericht des neunten Polizeibezirkes über die tägliche turbulente Szene … ›Es ist zu vermelden, daß die Straßenruhe und -ordnung schon in den frühen Morgenstunden, bis zu drei Stunden vor Schalteröffnung, von der zumeist ländlichen Kundschaft des »Volkskredits« gestört wird (siehe Anlagen: Klagen der Straßenanwohner) und daß besagte Kundschaft durch das der Inhaberin des »Volkskredits« gehörige Animierlokal »Goldquelle« vermittels Freibierausschank in eine unziemliche Lärmhaftigkeit versetzt wird, obzwar Trunkenheitsexzesse durch die Rationierung des Freibiers zu dieser Stunde amtlicherseits noch nicht zur Vermerkung gelangt sind. Besagte Anhäufung auf dem öffentlichen Geh- und Fahrweg steigert sich, bis der livrierte Portier das Tor der Bank öffnet und eine wahrnehmbare Mühe hat, um dem Sturm der Einleger standzuhalten. Hat ein Einleger vor und innerhalb des Banklokals einmal seinen Posten erkämpft, so ist er durch keine Macht mehr fortzubringen, selbst nicht durch polizeiliche Aufforderung, wobei es des öfteren zum Widerstand gegen die Staatsgewalt gekommen ist (siehe Beilage), Personen weiblichen Geschlechtes zumal treiben die Beharrlichkeit so weit, daß es mitunter zu groben Verunreinigungen des Banklokals kommt …‹ – Verzeihung, Ada, es gehört zur Milieuschilderung. – ›Wenn nötig, erscheint die Vio Franziska, Bankinhaberin, persönlich im Schalterraum oder zeigt sich auf der oberen Galerie und stellt durch das Gewicht ihrer Persönlichkeit schnell die Ruhe wieder her, wenn bei zu großem Andrang das Aufsichtspersonal und sogar die Polizei mit Schwierigkeiten kämpft‹, und so weiter –: ›Kniefällig und mit aufgehobenen Händen sind der Vio Franziska, die persönlich niemals zur Geldeinlage animiert, sondern im Gegenteil vor zu hohen Depots zu warnen pflegt, die Gelder aufgedrängt worden, wie der berichterstattende Oberwachtmeister mit eigenen Augen gesehen hat …‹«

Bonde schwieg, blätterte noch ein wenig in den Akten – und dann, plötzlich, sah er auf, mit einem Ruck. »Eine Volksbetrügerin?« fragte er. Adelina schaute ihn an. Es war gewiß, daß sie ihn die ganze Zeit angesehen hatte, so auf ihn eingestellt und festgefahren war ihr Blick – so seltsam erfahren und bereichert und gleichsam vollgesogen von Erkenntnissen, sagte er sich und wußte sofort, daß sie ihm nicht antworten würde.

»Ich habe ja hier die Freiheit«, sprach er leise und schaute an ihr vorbei, »den Fall dieser merkwürdigen Frau, die von stadtbekannter Wohltätigkeit ist, Suppenanstalten und Kindergärten unterhält und immer Zeit und Geld, gewiß nicht ihr Geld, für gute Zwecke übrig hat, von einem nichtamtlichen Gesichtspunkt zu sehen – begreifst du?«

Warum fragt er sie schon wieder? Sie antwortet doch nicht, sie blickt ihn nur an und lernt ihn kennen, fühlt er und weiß ganz und gar nicht, ob sie ihn noch niemals so verachtet hat oder noch niemals so hochgeschätzt …

»Vielleicht«, redete er wieder und atmete rascher, so als strenge das Reden an wie Treppensteigen, »wenn man sich die Freiheit nimmt, Amt und Pflicht aus dem Spiel zu lassen – vielleicht kann man dann diese Frau auch anders sehen … – vielleicht stammt ihre Warnung vor sich selber und ihre Wohltätigkeit aus dem Oppositionswinkel einer immer noch sauberen Seele, die gegen die tolle Vergewaltigung durch die allgemeine Habgier protestiert. Ach, ich weiß nicht, ob ich mich sehr verständlich ausdrücke, Adelina, wir befinden uns da wohl beide auf unvertrautem Gebiet … Ja, vielleicht ist diese Frau sozusagen nur der mediale Ausdruck dieser allgemeinen Habsucht und ihr Schicksal die scheinbare Erfüllung eines Massenwunsches – eine Phantasmagorie vulgärer Sehnsucht. Möglicherweise ist sie nicht Betrügerin, sondern Betrogene – ist sie das Opfer und anzuklagen die Stupidität der Masse, Geldgier und Wundersucht. Hältst du das für eine sehr verstiegene Auslegung, Adelina?« Er war so hartnäckig im Fragen wie sie im Schweigen; aber jetzt gab er sich nicht mehr damit zufrieden, ins Leere zu reden. Er strich mit den Fingerspitzen die Augenbrauen entlang, wie abgespannt und sagte leise, mit gesenkter Stirn: »Ich wäre dir dankbar, Adelina, wenn du ein Wort sagen würdest.«

Sie sprach gehorsam: »Da du auf meine Ansicht Wert legst, Matthias – ich halte es weniger für eine verstiegene als für eine unaufrichtige Auslegung.«

Er war fünfzig Jahre alt, sie fünfundzwanzig. Er war bekanntlich der jüngste Innenminister in der neueren Verwaltungsgeschichte des Landes – man hatte es in der Presse bei seinem Amtsantritt als eine der Tugenden des neuen Mannes gerühmt, als endliche Verjüngung des Regierungskörpers, und andererseits innerhalb der Administration nicht zu beklagen gehabt, der Befürchtung der Regierungsgreise zum Trotz: denn Minister Bonde zeigte sich abgeklärt wie sie, ganz ohne jugendlichen Überschwang. Doch als Ehemann war er immer zu alt gewesen: zu hoch ist seine Jahressäule, doppelt hoch neben der ihren, zu weit von seinem Alter zu ihrer Jugend, nicht zu erklimmende Stufe. Dies war es wohl, was die Liebe nicht aufkommen ließ, nicht zu ihm heraufkommen ließ – eine gültige Erklärung, eine Regel, von Ausnahmen nur bestätigt, schließlich sogar eine tröstliche Einsicht, ein einsichtiger Trost: und so behandelte man sie und die Ehe danach, nach dem unumstößlichen Gesetz des Altersunterschiedes, so wie ein Verwaltungsjurist Gesetze achtet, und man nannte sie oft und gerne: mein Kind.

Aber was war das jetzt mit ihrer verwirrend verzögerten und sparsamen Antwort nach so langer, kluger, reiflich abgewogener Rede des väterlichen Mannes? Was war es mit diesem ganzen bösen Tag, der demütigte und auf tückisch lehrmeisterliche Art mit dem Finger drohte und auf ungeahnte Geheimnisse nahe neben seinem klaren und ordentlichen Dasein hinwies, auf schwarze, unentdeckte Flecke in der vorbildlichen und der Allgemeinheit dienenden Landkarte seines Lebens? Wer ist denn Lehrer hier und wer Schüler? Bonde strich sich über die Stirn, immerzu, und fand keinen Übergang. Und weil er nun schwieg, schob die sonderbare Disharmonie, die über dem Gespräch herrschte, wiederum ihr das Wort zu, das unverlangte. Sie sagte vor sich hin: »Ach Gott, Bonde, mir geht es ja nicht besser …« Befremdliches Wort in seiner ungewissen Bezüglichkeit: nicht besser als ihm oder als jener anderen Frau, von der die verstiegene und unaufrichtige Rede ist? Und dann – Bonde preßte die Lippen zusammen –: war es nicht beinahe das gleiche Wort wie jenes der Vio, als sie ging?

Er streckte vorsichtig den Arm über den Tisch aus und berührte ihre Hand. Sie ließ es geschehen. Er sagte leise: »Mein Kind …« Sie ließ sich die Anrede gefallen. Er hatte noch Zeit zu sagen: »Du tust mir so leid …« Dann klingelte das Telefon.

Der Hauptapparat war auf der Eingangsdiele, einem ziemlich entfernten Raum, und das Signal schnarrte nur leise in das Wohnzimmer; aber es trennte die Gatten sofort, es trennte auch ihre Hände, sie starrten sich entgeistert an, wie zwei ertappte Schulkinder, zwischen sich den Tisch und die Mappe und die Akten. Beide hätten sich fragen können, warum sie so sehr vor dem Telefon erschraken, das doch nicht selten zu dieser Abendstunde zu läuten pflegte und die Mitglieder ihres exklusiven Gesellschaftskreises zu Worte kommen ließ – beide hätten eher über den Spannungsgrad ihrer Nerven erschrecken sollen, möchte man meinen. Aber es war ein böser und unberechenbarer Tag voller dunkler Winkel und Hinterhalte: sie konnten nicht anders als zusammenfahren und auf das Verhängnis lauschen.

Es kam der Diener Michael, nicht mehr im Frack, sondern in gestreifter Leinenjacke, und verkündete auf seine gemessene Art: »Frau Franziska Vio in Firma ›Volkskredit Vio‹ wünscht Eure Exzellenz zu sprechen. Sind Exzellenz zu Hause?« Der Zusatz war keine eigenmächtige Formulierung Michaels, sondern entsprach der vorgeschriebenen Telefonformel, einem Anruf zunächst mit der dilatorischen Antwort zu begegnen, man werde sehen, ob Exzellenz zu Hause sei. Man sah dann hin und wieder, daß Exzellenz nicht zu Hause sei, und zog sich auf das Höflichste aus einer nicht genehmen Gesprächsschlinge. Gab es etwas Einfacheres als dieses bewährte Ausfluchtsmittel? Gäbe es dazu nicht ein überaus hoffärtiges und abweisendes Heben der Augenbrauen, sogar ein deutliches Wort der Beziehungslosigkeit zur Anruferin, das solchen ungeheuerlichen Kompromittierungsversuch, den zweiten an diesem Tage, im Keime erstickte und die Gefahr vermied, den Diener Michael in eine fatale Reihe mit dem Regierungsrat Schmidt zu bringen?

Bondes Gesicht vereiste in der amtlichen Gewohnheit, bei mißlichen Gelegenheiten vor dem Untergebenen zugleich undurchdringlich und einschüchternd zu erscheinen – und das Gesicht galt eigentlich dem Diener Michael; aber es war Adelina zugewandt, die es nicht kannte und unter seiner jähen Strenge verzweifelt und hilflos die Schultern hob. »Soll ich mit ihr …« flüsterte sie; ihre Augen waren vor Angst groß und kindlich.

Bonde fuhr rasch dazwischen, mit einem Ruck des Kopfes, mit einem scharfen Befehl über die Schulter: »Verbinden Sie mit der Bibliothek!« Michael zog sich zurück, eine Verbeugung andeutend. Bonde stand auf und zögerte einen Augenblick, auf seine Frau herabsehend, so als wollte er ihr noch ein Wort sagen, ein strenges jedenfalls; aber dann ging er stumm in die Bibliothek und ließ die Tür offen. Adelina starrte auf den Tisch und hakte die Finger ineinander, so fest, daß die Hände kaum noch zitterten.

 

Der Minister sprach in die Telefonmuschel: »Ja?« Franziskas schöne Stimme klang im Hörer dunkler noch, fast wie eine weiche Männerstimme – sehr ruhig und sicher: »Ich spreche mit Exzellenz Bonde?«

»Ja.«

»Ich habe Ihnen folgendes mitzuteilen: ich höre soeben vertraulich aus einer befreundeten Zeitungsredaktion, daß ihr heute abend als Auflagenachricht die ministerielle Warnung vor meinem Finanzinstitut zugegangen ist.« Sie machte eine Pause, sie gab ihm wohl Gelegenheit, ein Wort dazu zu äußern. Doch er hatte die Lippen so streng geschlossen, daß sie nur noch ein schmaler grauer Strich waren, er verschloß die Antwort, daß er davon nichts wisse, und die Wutader auf seiner Stirn konnte sie nicht sehen. Sie hüstelte jetzt, sie erregte sich wohl an seinem Schweigen, das ihr so etwas wie eine amtliche Bestätigung bedeutete; doch als sie dann weiter sprach, war ihre Stimme wohl schärfer, aber zugleich auch kälter: »Ich mache Sie darauf aufmerksam, Herr Graf, daß nicht nur meine Interessen auf dem Spiel stehen, sondern auch die Interessen der mit mir in Verbindung stehenden Menschen. Wer dazu gehört, wissen Sie wohl schon aus den Andeutungen, die ich Ihnen heute vormittag machte. Vielleicht haben Sie sich inzwischen genügend orientiert. Wenn nicht, so versäumen Sie keine Minute mehr. Sie können mich jederzeit anrufen, während der ganzen Nacht. Meine Nummer ist siebenundvierzig-siebenundvierzig, einfach zu behalten, aber nicht im Telefonbuch. Übrigens kennt sie Adelina …« Wieder schwieg sie und wartete, ob der letzte Satz, den sie gegen ihn abschoß, ihm nicht einen Laut entlockte. Sie fragte enttäuscht: »Sind Sie noch da?«

Er öffnete die Lippen, aber nicht die Zähne, die aufeinandergebissenen, und sagte herrisch: »Bleiben Sie am Apparat!« Er legte den Hörer auf den Schreibtisch, trat in die Tür zum Wohnzimmer und sagte: »Bitte, Adelina!«, mit dem Daumen über seine Schulter weisend. Sie begriff ihn sofort, stand schnell auf und ging an ihm vorbei in die Bibliothek. Sie sah ihn nicht an, sie war sehr blaß. Bonde folgte ihr nicht, sondern schloß hinter ihr die Tür.

Es war fast so, als übertreibe er seinen Takt; denn obgleich von dem Telefongespräch nebenan kaum ein Laut herüberdrang, kaum der Klang von Adelinas leisen und sparsamen Worten, blieb er auch nicht im Wohnzimmer. Er durchschritt mit strengem Blick und Mund den Eßsaal und die Diele. Wollte er den Hauptapparat beaufsichtigen, daß Michael sich nicht an ihm zu schaffen mache, das Gespräch abhorchend?

Aber wußte er nicht, daß nach der Umschaltung auf einen der vier Nebenapparate in der Bibliothek, in Adelinas Boudoir und in ihren beiden Schlafzimmern kein Mithören mehr möglich war – wußte er es nicht am besten, der schon aus dienstlichen Gründen für die Abdichtung der Leitungen gesorgt hatte? Übrigens – und hier blieb er einen Augenblick stehen, mitten in der Diele – hatte nicht auch er, Minister Bonde, eine geheime Telefonnummer, so gut wie diese Frau (4747 summte es töricht und quälend in seinem Kopf)? Er ging weiter: was wunderte er sich noch über die kleinen und großen Kenntnisse dieser Frau und was stellte er Fragen? Er wußte nun doch, aus welcher Quelle alles dies gespeist wurde, alles dies …

Er streifte das scheinheilig stumme Telefon in der Diele mit keinem Blick, aber er sah sich um, in den kleinen Nebenraum der Kleiderablage tretend, und dabei machte er verlegene Augen, wie ein Schüler, der entwischen will und Angst hat, ertappt zu werden – sonderbare Augen im strengen Gesicht. Es sah ihn keiner, aus der Anrichte kam das schleifende Geräusch der Messerputzmaschine, Michael oblag der gemäßen Beschäftigung dieser Stunde, von noch weiter her tönte das falsche Singen eines Küchenmädchens, ein unstatthaftes, aber in diesem Augenblick beruhigendes Verhalten. Bonde in Hut und Mantel schritt auf leisen Sohlen durch das Treppenhaus. Der Hausmeister, nur verpflichtet, bis zehn Uhr abends in seiner Loge zu sein, schlief schon. Es war also bereits zehn Uhr vorbei. Der Minister ließ vorsichtig die schwere Haustür hinter sich ins Schloß schnappen und machte kein Licht im Vorgarten.

 

Der Droschkenhalteplatz war hinter dem Triumphbogen, der Kutscher schlief im Fond, Bonde hatte schon die Hand am Griff der Wagentür – jetzt zog er sie zurück. War es nicht, im Grunde genommen, eine Unbesonnenheit, mehr noch: ein taktischer Fehler, den Regierungsrat Schmidt zu nachtschlafender Zeit zu überfallen und Aufklärung für eine Eigenmächtigkeit zu verlangen, die der Minister nun keineswegs auf dem Dienstweg erfahren hatte? Wäre es nicht besser – statt diesem gefährlichen Bürokraten geradenwegs in die Netze zu laufen – wäre es nicht klüger, heimzukehren und mit der Aufklärung bei Adelina zu beginnen – oder fortzufahren?

Er wandte sich von der Droschke ab, der abgerackerte Gaul, schiefbeinig zwischen der Deichsel, kehrte ihm den traurigen Kopf zu, ein weißes und ein dunkles Auge. Bonde strich ihm mit der Hand über die Nüstern, das Pferd entblößte die alten gelben vorstehenden Zähne und winkte mit dem Kopf. Bonde suchte in der Tasche, um das Tier von seinem guten Willen zu überzeugen – er wußte doch, daß er keinen Zucker bei sich hatte. So bin ich nun einmal, dachte er und ging rasch weiter.

Er ging weiter, er kehrte nicht um, die Aufklärung betrieb zu Hause die Rufnummer 4747 auf ihre Weise, und ihn drängte es in die andere Richtung. Es ist peinlich zu Hause, es ist genau so peinlich, mit der Überführten zu sprechen als mit der Verstockten, die Beichte macht die abscheuliche Unordnung, die er sich nicht vorstellen kann oder noch nicht vorstellen will, zur Tatsache. Noch ist es sozusagen eine tolldreiste Behauptung des Schicksals, kein Beweis; noch ist es … ja, was ist es, zum Teufel, was Reizvolles ist es bei alledem, was unglaubhaft Außerordentliches wie dieser plötzlich ziellose Nachtspaziergang, der die eiserne Ordnung des Tages zerreißt wie eine Hülle aus Seidenpapier, so leise, leicht, ganz ohne Anstrengung? Noch ist es abenteuerlich.

Die breite Prachtstraße lag vor ihm, unter den Nachtsonnen der Bogenlampen, Strahlenschnur hoch über der Mitte mit immer enger aufgereihten Leuchtperlen. Die glatten Hausfassaden bekamen ihren zugemessenen Teil vom Glanze ab, der gemach abnahm und wieder anschwoll, von Bogenlampe zu Bogenlampe, im angenehmen Schwung der Regelmäßigkeit. Nur die Kirche mitten in der linken Straßenzeile durchstach den vertikalen Pinselstrich des Lichtscheins mit den beiden Zwiebeltürmen, die zuerst silberblau und dann grau und immer grauer, mit zerfließenden Umrissen in den Nachthimmel fuhren.

Warum nur – die Frage pocht hartnäckig und mit feinem Stich durchs Hirn, die Augen schauen dabei ganz ruhig die schöne Straße entlang und in der wunderbaren Vielfalt und Gleichzeitigkeit der Empfindungen gab es dann noch die ganz heimliche Lust an dem Ausnahmezustand des nächtlich spazierenden Körpers und der aufgerüttelten Seele – warum nur brauchte Adelina Geld, die Tochter aus wohlhabendem Hause, die Frau eines Erben alten Reichtums, dessen Ministergehalt nicht die Hälfte der jährlichen Vermögenseinkünfte ausmachte und der sich nicht entsinnen konnte, der gewiß Anspruchsvollen, aber keinesfalls Verschwenderischen jemals einen Wunsch abgeschlagen zu haben? Denn wenn es nur Freundschaft war, die sie mit der anderen Frau verband, heimliche Freundschaft, rätselhaft in ihrer Entstehung, unbegreiflich aber nur für den, der die merkwürdige Freundin noch niemals sah, die grünäugige – wenn es nur Freundschaft war und nicht schwarz auf weiß in den Bankkonten stand: wie konnte dann die Magierin des Volkskredits mit gemeinsamen Interessen drohen, die auf dem Spiele stünden?

Auf der Höhe der Kirche überquerte Bonde die Straße, ohne Anlaß von der rechten auf die linke Seite hinüberwechselnd. Nun ja, es hatte einmal einen Anlaß gegeben, daß der Ministerialrat Bonde der linken Straßenseite zustrebte – ach Gott, es war schon lange her und der Anlaß von damals ist einer kleinen Wehmut wert, der Mann lächelte in der plötzlichen Erinnerung: das liebe Mädchen mit dem zugleich zierlichen und festen Körper und der unumwundenen Liebesbereitschaft hieß Friedel und hatte für ihn keinen Nachnamen, überhaupt kein bürgerliches Leben, ja, sie besaß für ihn nicht einmal eine Verbindung mit dem hellen Tag: denn er sah sie nur nachts, genau gesagt von elf bis ein Uhr, zweimal wöchentlich, Dienstags und Freitags, er war ein ordentlicher Liebhaber und gleichzeitig ein tunlichst anonymer: er schämte sich ihrer. Und sie nahm es artig und sogar geschmackvoll hin, er war nun einmal ein etwas überirdischer Herr und betäubend freigebig, das Ganze war ein Glückszufall, beginnend in jener Redoutennacht, an der sie nicht etwa als Tanzende teilnahm – es war ja die Adelsredoute, vornehmste und langweiligste Veranstaltung des Winters – sondern als Garderobiere oder sogar nur als Hilfe der Garderobenfrau, außerdem allerdings auch als Blumenmädchen, und sie hing sich ihm sozusagen zusammen mit seinem Frackmantel an; er war ein klein wenig angeheitert, inszenierte ihre Entführung mit drei Flüsterworten und wartete dann im Fiaker an der angegebenen Straßenecke, die nicht gerade in der Nähe war. Und er hatte plötzlich wilde Augen im einschüchternd adligen und kühlen Gesicht. Ein Graf, das wußte sie, ein echter Graf! Sie tat, was sie konnte, sie war dankbar und immer etwas benommen. Sie bewohnte ein sauberes Zimmerchen im vierten Stock irgendeines Hauses in der Gasse, welche zwischen der Prachtstraße und dem Stadtpark ebenfalls von Norden nach Süden lief. Der Ministerialrat, kurz vor elf die Straße überquerend und sich auf Friedels Gassenseite schlagend, freute sich auf sie, er freute sich immer auf sie, es gab keine Enttäuschung bei ihr, keine Laune – selbst sein sehr feines Gefühl, welches ihm nicht vorenthielt, daß ihre Art um etliches lauterer und klarer war als seine mit der Tarnkappe, blieb ein leises Gefühl und verlangte keine Rechenschaft, so dankbar war sie, so frisch verliebt in sein Wunder. Und nicht einmal der Abschied war peinlich, als er sich verlobte und als korrekter Mann selbst diesen Liebeswinkel sperrte. Sie sah staunend in das große gelbe Kuvert mit den zehn Tausendmarkscheinen und schüttelte den Kopf, immerzu, sie spielte mit dem Kuvert und dann mit seinen Fingern, kopfschüttelnd, sie sah ihn an und fuhr mit der Hand, die ein wenig hart und dennoch angenehm war, langsam und innig sein Gesicht ab, als könne sie es sich so besser merken, sie sagte langsam und innig: »So ein feiner Hund …« – und das war genau so wie das Streicheln ihrer Hand.

Ein genagelter Militärstiefel schlägt anders auf das Trottoir als die zivilen Sohlen der wenigen Menschen, die dem gemächlichen Spaziergänger entgegen kamen oder ihn überholten. Bonde schaute auf und schritt mit sonderbar steifer Kopfhaltung weiter, ohne auch nur um ein Geringes nach rechts auszuweichen. Zur Linken paradierte die strenge Front des Kriegsministeriums, und der Wachtposten schritt sie klirrend ab, bei der Kehrtwendung ganz für sich und etwas lächerlich einen forschen hackenknallenden Schwung um die eigene Achse zum besten gebend. Die Helmspitze und der Lauf des geschulterten Gewehrs blitzten noch in den Glanzstreifen der Straße hinein, das Gesicht war vom Schatten der Pickelhaube ausgewischt. Bonde fand es spaßhaft, daß er seinen Mut zusammennehmen mußte, um nicht auszuweichen – daß er also irgendeinem braven Musketier zutraute, in der Person des Vorüberschreitenden den Herrn Minister des Innern zu erkennen. Er ging hart an dem Soldaten vorbei, mit vorgerecktem Kinn und schlechtem Gewissen, er will es bei jedem Schutzmann tun, dem er begegnen würde – es gehörte zum Abenteuer. Zu denken, daß sein Kollege und Vetter zweiten Grades, der Herr Kriegsminister, der alter Übung gemäß auch im Ministerium wohnte, durch irgendeine Regie des Zufalls auf den einsamen Straßenpassanten, den Herrn Minister des Innern, stieße! Bonde fand es zu denken spaßhaft. Wenn nach der umlaufenden Legende noch keine Erschütterung des Weltenlaufs das berühmte Monokel des Kriegsministers hatte aus den Scharnieren des feudal verrosteten Rennreitergesichts heben können: vielleicht vermöchte es der Anblick des Irrwischs, Bonde, Exzellenz und Gatten einer Volkskredits-Kundin …

Hinter dem Kriegsministerium mündete die stille Straße, die, der Querfront des mächtigen Gebäudes folgend, von der Hauptstraße bis in den Stadtpark führte. Bonde bog in sie ein, ohne zu zögern. Es war der alte Weg zu Friedel. Das Abenteuer also wurde eine sentimentale Promenade der Erinnerung? Nein, es ist ja nicht Wehmut, die ihn treibt und leise stachelt, es ist ganz etwas anderes und Gegensätzliches, eine eigentümliche Keckheit eher, ein unwägbares Gefühl der Widerstandsfreudigkeit gegen das Exzellente seines Lebens, gegen die Exzellenz. Das Abenteuer hat also nichts mit der Vergangenheit zu tun, Friedel war schon vergessen, es blieb von ihr nur eine Zärtlichkeit im Herzen zurück, eine liebliche Gewißheit, zärtlich sein zu können; und das vertrug sich nicht schlecht mit der neuen Keckheit. Friedel war so sehr vergessen, daß er ihre Gasse übersah, die jetzt bescheiden zur Linken der Rückfront des Kriegsministeriums entlang lief. Bonde überquerte sie, ohne einen Blick für sie seiner Straße folgend, deren Schild von der nächsten Gaslaterne erleuchtet war: und hier blieb er stehen, mit der Schulter den Kandelaber berührend, und las den Namen der Straße, die er entlang gegangen war. »Merkwürdig!« sagte er laut. Er schaute streng die Straße hinunter, so als sei sie ihm plötzlich fremd und verdächtig und der Spaziergang ein Patrouillengang – und mit anderen Schritten auch ging er weiter, schneller und gespannter, ein Mann mit einem Ziel. Zur Rechten sonderte sich das stattliche gelbe Haus von der schlichten Nachtfarbe der anderen Häuser ab. Zur Linken, auf seiner Seite und auf der Höhe des gelben Hauses, leuchtete ein Wirtshausschild.

In der »Goldquelle« saßen wenig Menschen, ein paar zufällige Passanten, die von der Abneigung des Viertels gegen das Lokal nichts wußten, ein paar Liebespaare, die sich entweder für die Stadtparkpromenade stärkten oder von ihr erholten. Daß die »Goldquelle« auch des Abends offen hielt, obgleich ihre Aufgabe eine Stunde nach Schalterschluß des »Volkskredits« erfüllt zu sein pflegte, geschah eigentlich nur, um den Schein der Unabhängigkeit von dem gelben Haus auf der anderen Straßenseite zu wahren, und weniger, um die Konzession auszunützen; denn der Abend brachte nichts ein. So hatte für Kenner der Verhältnisse, zum Beispiel für den Prokuristen Leitschuh, der Anblick der stillen und gedämpft beleuchteten Wirtsstube, die zudem noch die nackten Tische des Tagesbetriebs mit sauberen, rot und weiß karierten Decken schmückte, etwas Scheinheiliges und Hinterhältiges – es fehlte nur noch eine heimliche Treppe zu einem Oberstock der heimlichen Liebe, pflegte Herr Leitschuh zu sagen, bekanntlich ein Zyniker und Jettatore.

Der Stammtisch des Prokuristen zeichnete sich durch einen großen zinnernen Aschenbecher aus, auf dessen Rand ein sprungbereites Teufelchen hockte. Das Teufelchen trug außer den Hörnern noch einen anderen Kopfschmuck, nämlich ein Schild mit der Aufschrift: Reserviert – eine Warnung, die bei den vielen leeren Tischen recht überflüssig erschien. Aber der Stammtisch in einer erkerförmigen Nische, von der Wirtsstube durch zwei Stufen abgesondert und erhöht, war der beste Tisch der »Goldquelle«; und da Herr Leitschuh hier nicht nur in Ruhe zu Abend essen, sondern auch ungestört seine gelegentlichen geschäftlichen Besprechungen abhalten wollte, wußte er, warum er seine Nische unter den Schutz des Zinnteufels stellte. Er wußte immer, was er wollte, und er hatte dabei eine so unkritische Freude an seiner Überzeugung, dem bösen Prinzip verschrieben zu sein, daß er selber die allegorische Tisch-Verwahrung aus Zinn für die »Goldquelle« angeschafft hatte, wenn auch auf Geschäftsunkosten.

Der Erkertisch war geräumig, es konnten bequem acht Personen an ihm sitzen – jetzt saßen dort nur drei: Herr Leitschuh als Tischherr behauptete seinen Stamm- und Ehrenplatz an der Schmalseite, mit dem Blick auf die Wirtsstube. Neben ihm saß ein kleiner, fülliger und dennoch beweglicher Herr, der seinen grauen steifen Filzhut nicht abgenommen, sondern nur aus der Stirn geschoben hatte. Das gab seinem runden und verschmitzt fröhlichen Gesicht einen Ausdruck von lebemännischem Übermut, den der düstere Prokurist als unpassend empfand; denn das Gespräch war ernst, und allein schon die Nähe eines so eindrücklichen und unheimlichen Schädels wie Leitschuhs nackter Geierkopf müßte diesen schwammigen, ganz kommunen, gleichsam von der Straße aufgelesenen kleinen Tunichtgut im Innersten erschauern machen. Hier mietete doch der Teufel einen Beelzebub, nichts weiter; Leitschuh packte das Vollmondgesicht mit seinem nächtigen Blick: »Haben Sie so etwas wie eine Rednergabe, Herr Amann?«

»Ich hab' so etwas«, meinte der Runde, und nicht einmal sein Lächeln war auszulöschen; »aber glauben S' wirklich, Herr Direktor, man könnte eine Panik fortschwätzen?«

Der dritte Mann saß am anderen Ende des Tisches, so unbeteiligt, als sei seine Anwesenheit ein Zufall. Er war etwa vierzigjährig, hatte ein Gesicht, das in der Nähe gealtert und zerrieben aussah, doch schon in kleiner Entfernung von glatter Schönheit war, und schien sich seines Smokings zu schämen; denn er hatte darüber den schwarzen Mantel anbehalten, dessen Knöpfe er nicht öffnete und dessen Kragen hochgeschlagen war. So sah man nur den hohen Eckkragen und eine vollendet gebundene schwarze Schmetterlingskrawatte über dem kleinen Ausschnitt der steifen Hemdbrust. Der Herr sah hin und wieder auf die Uhr, hin und wieder zupfte er an seinem schwarzen Schnurrbärtchen. Weder Herr Leitschuh noch Herr Amann kümmerten sich um ihn.

»Falls morgen«, sagte Herr Leitschuh finster, »die Presse die amtliche Warnung bringt – wir haben da noch eine kleine Chance, die Sache im letzten Augenblick zu verhindern –, verfolgen wir eine doppelte Kampftaktik: eine besondere, die in der Kompromittierung einer hochgestellten Persönlichkeit besteht und die Sie nichts angeht, und eine allgemeine, die sozusagen die Mobilmachung der ländlichen Einlegerschaft vorsieht. Dabei denke ich Sie zu beschäftigen, Herr Amann.«

»Wie kommen S' eigentlich auf mich?« fragte Herr Amann unerwartet.

Leitschuh zog die rechte Augenbraue hoch: »Weil ich bereits die Diagnose gestellt hatte, als Sie neulich die Besucherkarte Nummer eins vorwiesen. Das soll keine Beleidigung sein, lieber Herr.«

»Ich nehm's sogar als Kompliment, Herr Direktor – na, und mit rund zehntausend Mark schaffe ich Ihnen einen erstklassigen Schutzverband der Volkskrediteinleger.«

Herr Leitschuh lächelte belustigt und zeigte dabei ungewöhnlich schadhafte Zähne. »Sie halten mich, verehrter Herr, für harmloser als ich bin. Warum schlagen Sie mir nicht einen Kegelklub vor? Einen mißliebigen Verein löst die Regierung auf oder sie durchsetzt ihn, was noch gefährlicher ist, mit ihren Leuten und macht aus Ihrem Schutzverband eine Organisation, die sich vor dem Volkskredit schützt. So leicht, Herr Amann, verdienen Sie bei uns kein Geld.«

»Glauben S' wirklich, Herr Direktor«, fragte Herr Amann in schöner Offenheit zurück, »ich sitz' hier, weil ich wegen Ihrer Kokoloresaugen kein Geld net verdienen will? Aber gehen S'! Da müßten's schon die Augen von Ihrer Gnädigen sein – ein fesches Weib, bei meiner Seel!«

Herr Amann sah verzückt aus und setzte seinen Hut unternehmungslustig aufs rechte Ohr. Leitschuh betrachtete ihn mit unverhohlener Verachtung. »Sehen Sie sich vor, Verehrter«, knarrte er, »die Gnädige schlägt schnell und kräftig zu.«

»Wissen S' das so genau, Herr Direktor?« erkundigte sich Herr Amann grinsend und traf zudem damit ins Schwarze. Der Prokurist kniff mißtrauisch die Augen zu: »Je länger ich Ihre Visage anschaue, Herr, desto genauer weiß ich es. Aber so kommen wir nicht weiter.«

Der Dritte schaute auf die Uhr und warf mit heller und weicher Stimme ein: »Das scheint mir auch so. Und ich habe bekanntlich noch eine Nebenbeschäftigung.«

Leitschuh bedachte ihn mit einem schwarzen Blick: »Die läuft Ihnen nicht weg, hochverehrter Maestro, und schlimmstenfalls geht es einmal auch ohne Stimmungslieder.« Der Maestro schaute stumm in die Luft. Der Prokurist wandte sich ungnädig an Herrn Amann: »Kurz und gut, ich brauche für den Fall der öffentlichen Warnung einen redebegabten Mann, der nach unserer Einlegerliste das Oberland bereist und die Panik nicht fortschwätzt, sondern steigert, geschickt die bereits vorhandene rabiate Stimmung gegen die Bürokratie ausnützt und den notwendigen Proteststurm gegen eine ebenso klägliche wie schädliche Maßregel entfacht. Nun?«

»Zugeht's!« wunderte sich Herr Amann, heiter versonnen, »und was bieten S' mir für den Auftrag?«

»Spesen und zwanzig Mark pro Tag«, sagte Leitschuh knapp.

»Gehen S' zu!« lachte Herr Amann.

»Bitte nennen Sie Ihre Forderung«, sagte Leitschuh.

Herr Amann schob überraschenderweise den Hut tief in die Stirn: »Nur Spesen und Tagesgelder, sonst gar nix! Aber fünf Prozent von den Werten, die ich ins Ausland schaffe.«

Leitschuh starrte den Runden an und sagte nichts: es verdroß ihn tief, daß dieser hergelaufene Schieber so schwarz in die Volkskreditzukunft schaute wie er selber mit seinem bösen Blick.

So kam es, daß er des fremden Herrn nicht achtete, der in diesem Augenblick die »Goldquelle« betrat. Der fremde Herr wiederum, mit raschen Schritten ans Büfett tretend, übersah die Teufelsnische.

»Kann ich das Telefon benutzen?« fragte er den Pächter der »Goldquelle«, einen ungewöhnlich dicken, dickfelligen und gleichgültigen Mann namens Emil.

Emil zeigte wortlos auf die Telefonkabine.

 

Als Exzellenz Bonde vor dem abweisend verschlossenen Bankgebäude stand, spürte er noch nichts von dem verwegenen Entschluß, der in ihm lauerte, oder vielleicht stellte er sich taub; denn er spürte ja allerlei in sich, unterschiedliche Empfindungen, unglaubhafte Widerspenstigkeiten, ungeahnte Kräfte am dunklen Werk dieses Spaziergangs. Hier stand er also vor dem Haus der Hexe, vor dem Trughaus, vor dem Betrughaus und hatte sich die letzten hundert Schritte eingebildet, er sei nichts als Beamter, nächtlicher Sbirre seiner eigenen Amtsgewalt, Pfadfinder der fahndenden Behörde. Gut und schön; aber was nun? Das versperrte und blinde Haus mit dem schweren Eisengitter vor dem Portal und den eisernen Rolläden vor den langen vornehmen Fenstern sagte nichts aus. Das Firmenschild aus schwarzem Glas und mit goldenen Lettern verlohnte nicht die merkwürdige Mühe dieses Abends. Drehte er sich um und sah er über die Straße auf das stille Wirtshaus mit dem aufdringlich beleuchteten Goldquelle über dem Eingang, so durfte er sich ironische Gedanken und anzügliche Kommentare die Menge machen: aber lüftete er damit das Geheimnis im dienstlichen oder privaten Sinne? War diese kindliche Schau auf den Tatort das Ziel und genügte sie auch nur im kleinsten der starken Bereitschaft, die er in sich fühlte?

– Was ist es denn, das dich hierherzog und dich erregt und dich sonderbar teilnahmslos und kurzsichtig macht gegen die Weiterung des sogenannten Abenteuers, gegen die Gefahr, die Adelina und dir und deinem Namen und deiner Stellung droht – was ist es denn? So gib doch endlich einmal eine aufrichtige Antwort!

Es ist die Nähe der Frau.

Bondes Schultern kamen in Bewegung – es sah aus, als schüttele ihn ein inwendiges Lachen, aber sein Gesicht blieb ernst und immer noch etwas taub. Er war ja im Grunde ein humorloser Mensch, und über die Aufrichtigkeit ist nichts zu lachen, selbst wenn sie sich rar gibt und unerhört. Man kann eher vor ihr erschrecken und davonlaufen – man kann auch aufgeschreckt in sie hineinlaufen: nicht der schlechteste Teil der Männer desertiert aus Angst nach vorne und macht aus der Not eine Tugend der Tapferkeit. Bonde lief geradenwegs über die Straße in die »Goldquelle«.

 

Es sieht nicht nach einer Räuberhöhle aus, und daß sie in den Polizeiakten figuriert, die biedere, langweilige, halbleere Wirtsstube, schmeichelt dem Witz des Unternehmens auf der anderen Straßenseite, nicht aber dem Mut der eindringenden Staatsperson, die Herzklopfen hat, ohne daß sich doch das geringste Interesse zeigt, «welches ihr Inkognito gefährden könnte.

Eine Telefonkabine ist eine wohltätige Einrichtung, ein winziges Fort der Diskretion, man schließt die Polstertür und ist mit dem Apparat allein und so nahe allen vier Wänden, daß man sich anlehnen kann, wo man will, und sprechen kann, ungehört und wohlverwahrt im Bollwerk gegen die Neugierde. Die Zeit ist ganz nahe, man weiß es, wo nichts sein wird als Neugierde auf die große und die kleine Goldquelle, vielleicht auch auf den Benutzer der Kabine. Aber noch steckt man unter der Tarnkappe der zutunlichen Technik und dreht hier die Kurbel – die Außenwelt merkt nichts, was wert der Neugier wäre.

Das Amt läßt auf sich warten. Bonde stützt den Arm, der den Hörer trägt, auf das kleine Pult, das unter dem Apparat hängt, und sieht durch das Fensterchen in der rechten Seitenwand der Kabine. Er sieht das Lokal im schmalen Ausschnitt, eingeengt wie durch Scheuklappen, und vom Teufelstisch in der Nische sieht er gerade noch den abseits sitzenden Dritten im Profil – dicht neben ihm legt sich der Fensterrahmen der Zelle über das Blickfeld. Bonde dreht wieder die Kurbel, er ist nicht ungeduldig, er hat ja Zeit; aber es soll nicht darauf hinauslaufen, daß er sich sagen müßte, er habe keine Verbindung bekommen, und daß er wieder einhänge. Keine Verbindung … alles ist schon zum Doppelsinn bereit. Bonde schaut wieder durch das Guckfenster auf das glatte Profil: die Kontur eines Allerwelts-Beau? Der Herr am Erkertisch, den der Prokurist Leitschuh mit Maestro titulierte, wendete gelangweilt das Gesicht der Wirtsstube zu. Bonde kniff die Augen zusammen: wo habe ich dieses Gesicht schon einmal gesehn?

»Hier Amt.«

»Bitte siebenundvierzig-siebenundvierzig.«

Es sagt sich ganz leicht. Bonde starrte in die Sprechmuschel, die Außenwelt war vergessen, im Höhrrohr knackste es leise, und das stach vom Ohr bis in die Schläfen. Ihre dunkle Stimme meldete sich. »Hier siebenundvierzig-siebenundvierzig.«

»Hier … Wissen Sie, wer spricht?«

»Ich weiß.«

»Ich spreche nicht von zu Hause.«

»Ich weiß.«

»Ich spreche von der ›Goldquelle‹.«

»Von wo? … Ach …« Dann kam ein kleines gedecktes Lachen, so wie wenn man mit geschlossenen Lippen lacht – dann war Schweigen. Bonde preßte die Augen zu, um nichts zu überhören, nicht den kleinsten Laut, und er preßte den Mund zu, um nicht das kleinste Wort zu sagen.

»Sind Sie noch da?« fragte sie, ganz ängstlich mit einemmal.

»Ja«, sagte er und lächelte in die Muschel.

»Sie müssen durch den Durchgang gehen, neben dem Bankhaus, der Eingang ist in der Tannstraße, die Haustür wird offen sein, zweiter Stock …«

»Danke«, sagte er und hängte ein.

Er verließ die Kabine und trat ans Büfett, um die Telefongebühr zu entrichten. Emil, der dickfellige Wirt, sagte: »Nix!«, mit dem Blick ebenso sparsam wie mit dem Wort, und der fremde Herr konnte gehen.

Leitschuh verabschiedete Herrn Amann: »Also melden Sie sich morgen vormittag.« Wenigstens diese Orderausgabe zeigte die Überlegenheit des Chefteufels, der während der Verhandlung infolge der Unangreifbarkeit des runden Mannes nicht Griff fassen konnte. Herr Amann stand denn auch stramm und sagte militärisch: »Zu Befehl, Herr Feldmarschalleutnant.«

Wie ist es nun mit dem Spiel, das der Zufall mit seinen Figuren treibt? Der Zufall will, daß sich der fremde Herr und der runde Herr an der Eingangstür begegnen; und Herr Amann, der Sohn eines titelfreudigen und liebenswürdigen Volks, sagt zu dem anderen: »Nach Ihnen, Herr Baron!« – Er hätte auch »Herr Graf« sagen können, es gehörte zur billigen Titulatur der Höflichkeit und es war nichts dahinter. Mehr riskierte der Zufall nicht. Bonde hob und senkte die Brauen, einen Augenblick nervös, hörte dann schon den beruhigenden Tonfall der nachbarlichen Nation, sah auch ein heiter rundes, durchaus fremdes Gesicht, dankte höflich und ging als erster auf die Straße. Herr Amann schritt fröhlich pfeifend und sein biegsames Stöckchen schwingend der Hauptstraße zu, Bonde verschwand auf der anderen Seite der Straße in dem dunklen Durchgang. Der Zufall spielte harmlos.

Es war dagegen nicht der Zufall gewesen, sondern die Wirkung des gleichsam narkotischen Telefongesprächs, daß der Minister wie mit Scheuklappen durch die Wirtsstube ging und weder Blick noch Gedanken für den Beau am Nebentisch übrig hatte. Der aber, während Herr Amann seine militärische Stellung vor dem vorgesetzten Leitschuh einnahm und ihm den freien Blick auf den Raum versperrte, sah den fremden Herrn vorübergehen: er blinzelte mit den Augen, in der Sucharbeit der Gedanken, und dann, als er nur noch in der Tür den schlanken Rücken sah und daneben den dienernden Herrn Amann, machte er die Augen groß auf.

»Jetzt wir beide!« kommandierte der selbstherrliche Prokurist und zeigte neben sich auf den verlassenen Amann-Stuhl. Der Maestro schaute abwesend und großäugig ins Leere.

»Mein geehrter Herr Spitzeder«, sagte Leitschuh mit Schärfe, »ich bitte nunmehr um Ihr geneigtes Ohr!« Der Angeredete sah auf und rückte näher, ohne Hast. Herr Leitschuh hatte einen unerbittlichen Geierkopf und seine Worte waren scharfe Schnabelhiebe. »Daß der Krach des ›Volkskredits‹ Sie samt Ihrer ›Guillotine‹ ans Messer liefert, um ein kühnes Bild zu gebrauchen – das, mein Lieber, bedarf wohl keines Kommentars.« Spitzeder äußerte sich dazu nicht; er betrachtete seine Fingernägel, die blitzend manikürt, aber unter den Rändern nicht einwandfrei sauber waren – er schien nicht sonderlich betroffen. »Doch wenn Sie wollen«, fuhr Herr Leitschuh fort, die gefährliche Augenbraue hebend, »können Sie heil aus der Geschichte kommen.«

»Aha!« sagte Spitzeder, nichts weiter, und sah nicht auf.

»Aha!« machte Leitschuh nach und hieb wieder mit dem Schnabel zu. »Sie schulden uns fünfundzwanzigtausend Mark und die letzten Quartalszinsen. Das Konto kann ausgeglichen werden, wenn Sie mir erstens ein paar Liebesbriefe der Gräfin Bonde zur Verfügung stellen …«

Spitzeder drehte ihm langsam das Gesicht zu. »Ich habe keine Liebesbriefe«, sagte er ruhig.

Herr Leitschuh zeigte einen Augenblick seine schwarzen Zahnleichen. »Das geht mich verflucht wenig an, lieber Freund, Sie haben sie zu liefern – und zweitens eine gedrängte Darstellung der ganzen Liebesaffäre in Schreibmaschinenschrift mit zwei Durchschlägen, die Erstschrift für mich, einen Durchschlag für den Grafen Bonde und den anderen – falls seine Exzellenz die ihm gestellte Frist nicht einhält – für die Redaktion der ›Wahrheit‹.«

Spitzeder sah den Prokuristen unverwandt an und schien ebenfalls zu den Menschen zu gehören, die gegen den bösen Blick gefeit sind. »Hören Sie mal«, sprach er mit seiner rund und klangvoll ansetzenden Sängerstimme, »diese Schweinerei ist doch auf Ihrem Mist gewachsen?«

»Wie meinen Sie das?« fragte Leitschuh bedrohlich.

»Genau wie ich es sage, Leitschuh. Und ich frage nur, um Franziska auch nicht mit einem Gedanken zu beleidigen.«

»Die Arbeitsteilung, lieber Herr, ist eine interne Geschäftsangelegenheit«, bedeutete Leitschuh streng, »und steht nicht zur Debatte. Zwischen uns geht es allein um die Frage, ob Sie bereit sind, unsere Forderungen zu erfüllen, oder nicht.« Spitzeder beugte sich vor, sein steifes Hemd wölbte sich und auf seiner Stirn erschien eine Ader. »Ich bin bereit, Ihnen die paar Zähne einzuschlagen, die Sie noch haben, Herr Leitschuh.« Herr Leitschuh lehnte sich nobel zurück und hob das ausdrucksvolle Kinn. »Ich nehme Ihre Antwort zur Kenntnis, Herr René Brio, und vermerke, daß sie eine ausweichende ist. Die genaue werde ich mir zur gegebenen Zeit einholen. Jetzt hindert Sie nichts mehr, zu den Freunden Ihrer Kunst zurückzukehren, mein Herr Stimmungssänger …«

Brio-Spitzeder stand auf und fuhr mit der Hand kontrollierend über die geschlossenen Knöpfe des Mantels. Er schlug dem verteufelten Prokuristen nicht die Zähne ein – das war wohl nur eine Redensart –, er sagte aber: »Sie wissen weder, wie lächerlich Sie sind, Leitschuh, noch wissen Sie, wer vorhin durch das Lokal ging.«

»Wer denn?« fragte Leitschuh und hatte für einen Jettatore kläglich unruhige Augen.

»Die Polizei«, sagte mit grausam hellem Ton der Tenor, ein sonderbarer Mensch nach alledem.


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