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Zehntes Kapitel

Der Tag begann wie immer, mit dem lärmenden Aufmarsch der Volkskreditler – das war der Schimpfname der Ansässigen für die Eindringlinge. Die feindseligen Anwohner der ehemals ruhigen Straße machten keine Gradunterschiede, für sie war es der gewöhnliche Lärm, ihrethalben ein besonders lebhafter, besonders ärgerlicher Tag. Erst gegen Mittag wurde der Lärm auffällig und lockte ans Fenster: man sah eine fast verstopfte Straße und eine ungewöhnlich erregte Menge; das lockte auf die Straße, zumal die Sonne schien. Und dann allerdings wurde man Zeuge von Ereignissen, die man sich für diesen Tag nicht hatte träumen lassen und die nicht nur zur Herzerquickung Anlaß gaben, sondern auch zu einer Verbrüderung zwischen Straßenanwohnern und Volkskreditlern, zu einer sozusagen moralischen Hilfskorpsbildung der Unbeteiligten, die uneigennützig und nachbarlich den Beteiligten zur Seite standen und sie anfeuernd in die Seite stießen, schließlich zu einem Wechselgesang der Empörung und zum gemeinsamen Kampfruf.

Der Bankportier war der einzige, der schon in der Frühe eine Abweichung vom Täglichen bemerkte, nämlich die Abwesenheit der beiden uniformierten Schutzleute. Aber auch das war schon vorgekommen, sie erschienen dann eben später; und als es später wurde und sie nicht erschienen, obgleich ausnahmsweise ihr ordnendes Dasein von Nutzen gewesen wäre und allmählich sogar eine Notwendigkeit, hatte der umbrodelte Türhüter keine Zeit mehr, zwischen der unsichtbaren Polizei und der unabsehbaren Stoßtruppe außer Rand und Band Geratener kausale Beziehungen zu entdecken, und auch, trotz geübtester Stimmbänder und altbewährter Brülltechnik stockheiser, keine Stimme mehr, um den überfluteten oder schon ertrunkenen Bankdienern vor der Eingangstür zum Schalterraum allfällige, nun doch schon gänzlich überholte Rückschlüsse dieser Art zur Weitergabe an die Bankleitung mitzuteilen. Emil wiederum, der Pächter der »Goldquelle«, hatte zu seiner Vorstunde das Freibier ausgeschenkt, und da er in der Frühe noch muffiger und dickfelliger war als am Abend, bekümmerte ihn die besondere Erregung seiner Gäste ebensowenig wie die hartnäckige Anwesenheit zweier Männer in steifen Hüten und klobigen Anzügen, welche über den Konsum von je einem Quart Bier nicht hinauskamen, dafür aber um so reger das Telefon benutzten und schließlich mit vorrückendem Tage, die Telefonzelle einfach okkupierten, die Rollen in den Telefondauersprecher und den zwischen Kabine und Straße hin- und herpendelnden Berichterstatter teilend. Nur eine eigentümliche Tatsache verschaffte sich um die Mittagszeit auch in Emils harten Schädel Zutritt: daß nämlich das Anwachsen der Menge draußen in umgekehrtem Verhältnis zur Frequenz seines Lokals stand, ja, daß die »Goldquelle« sträflich vernachlässigt wurde und schließlich gähnend leer stand, während draußen sich die Menge ballte, eine Mauer von Rücken, von der »Goldquelle« aus gesehen, von brüllenden Rücken. Und so trat denn auch Emil auf die Schwelle, nicht sachlich oder moralisch, sondern, als einstiger Amateurathlet und preisgekrönter Gewichtsstemmer, rein körperlich interessiert; denn er raufte gerne, wenn auch nur noch selten.

Die eiserne Wendeltreppe gab zur üblichen Stunde hämmernd kund, daß die Queen ihren Einzug hielt, mit Klinkenschlag und Türenknall. »Leitschuh!«

Sie scheint sich ermannt zu haben, dachte der Prokurist und begab sich ins Privatbüro. Franziska, etwas blaß, gab telegrafische Verkaufsorders, Leitschuh notierte sie mit der schwarzseherischen Bemerkung, man möge nur nicht zu hastig alle Reserven ins Feuer werfen und auch an die eiserne Ration denken, für den eigenen Notfall. Es war blöde Militärsprache, sie wurde aber nicht zurückgewiesen. – Man müsse sich unter allen Umständen instand setzen, die mögliche Vertrauenskrise zu überwinden, bemerkte die Queen. – »Um was zu überwinden, bitte?« fragte Leitschuh. – Franziska antwortete nicht. Aber die Vorsichtsmaßregeln erwiesen sich nicht als überflüssig: Auszahlungen, Auszahlungen, Auszahlungen – Kassenzettel immer der gleichen Farbe flatterten ins Sekretariat. Und es war doch noch nicht elf Uhr, das Schicksal träufelte noch unauffällig ins Stundenglas.

»Um Gott«, fragte die Queen und befühlte nervös die beiden Falten über der kurzen harten Nase, »überhaupt keine Einzahlung bisher?«

»Eine«, antwortete Herr Leitschuh und schnaufte durch die Nase, ein bitteres Lachen andeutend, »oder wenigstens ein Einzahlungs-Avis, fünfundzwanzigtausendfünfhundert Mark, beim Anwalt gegen Aushändigung des Drum und Dran zu erheben – und wissen Sie, Frau Vio, wer einzahlt und sich glatt stellt und sich empfiehlt, wissen Sie, wer?«

»Mir höchst gleichgültig!«

»Haha!« lachte der Jettatore nun denn doch, »der Stimmungssänger! mit der nunmehr leibeigenen Guillotine!«

»Ach«, sagte Franziska nur und sah doch auf, wie gestoßen, und ihre Backenmulden wurden tief, als saugte sie das innere Wangenfleisch zwischen die Zähne, »ach …«

»Die Konterrevolution ist leider um vieles besser organisiert«, bedeutete Leitschuh, und da er noch gar gegen das Licht stand, waren seine Augenhöhlen große schwarze Löcher.

Es waren zwei Fernrufe aus einer Bezirksstadt des Oberlandes gekommen, kurz hintereinander, weiß Gott, von wem, vielleicht von einem Agenten, vielleicht von einem Einleger, jedenfalls von einem Wohlmeinenden, der das einemal: »Wissen Sie denn schon …« sagte, das zweitemal: »Ist es denn wahr, um Gottes Willen …« – und jedesmal dann wurde das Gespräch getrennt. – Wurde also bereits das Telefon überwacht, wie gestern die ländlichen Bahnausgänge? Leitschuh beschloß, seiner Herrin nichts von diesem zerstückelten Vorwort des Schicksals zu sagen, er konnte ja selber nichts damit anfangen, und eine Frau wie die Queen trinkt den Giftbecher auf einmal, nicht tropfenweise. Er beschränkte sich auf die Bemerkung, daß die beängstigende Entwicklung der Lage unmöglich mehr durch die bescheidene Warnung von gestern früh erklärt werden könne. Denn es war schon die Stunde, wo der Zustrom der Abhebenden durch keine Kontrolle und keine Nummernausgabe mehr geregelt werden konnte. Telegramme, Telegramme in drei Sprachen: Verkaufen! Verkaufen! Kabelt Scheck! – Vielleicht kommen wir durch, vielleicht nimmt die Panik ab, Reserven hin, Reserven her, die eiserne Ration für den eigenen Notfall liegt oben hinter dem Bücherschrank im Geheimsafe, hunderttausend Mark in Wertpapieren für den schlimmsten Fall. Was ist der schlimmste Fall? Nicht daran denken … – Draußen fällt Lärm wie ein Wolkenbruch, prasselnd und pausenlos, sie kennt doch ihr Raubtierhaus, und jetzt lärmt es anders wie je, sie kennt die Gier und die Brunst, davon lebt sie ja, aber nicht die Wut, die Wut aus Angst – das ist zum Fürchten. Aber sie sollte es doch versuchen, ihre Furcht zu überwinden und der Angstwut entgegenzutreten, mit ihrer Person, sie hat doch Glück bei Menschen, sie sollte kräftig und kameradschaftlich mit ihnen reden, in ihrer Mundart, mit breitem, backenknochigem, lustigem, bauernschlauem Gesicht, sie vermochte es doch im Nu aufzusetzen, die Fäuste in die Hüften gestemmt – seid's denn ganz narrisch, Leut?!

Franziska verließ ihr Büro und durchschritt das Sekretariat. Fräulein Nebel sah zu ihr auf, mit einem zugleich ängstlichen, barmherzigen und entschuldigenden Lächeln, der Prokurist fehlte. Er fehlte nicht lange. Als Franziska die Tür zum Warteraum öffnete, wo sich sonst die Sprechstundengäste zu versammeln pflegten, und nur noch dieser Raum und seine Gegentür zwischen ihr und der Springflut des Lärms stand, öffnete sich die Tür, Herr Leitschuh trat ein mit einer Lärmwoge. Er warf die Tür zu, wie es die Queen zu tun pflegte, und stellte sich davor, es sah aus, als stemmte er sich dagegen. »Wo wollen Sie hin?« herrschte er die Queen an, als sei er der King, ein Höllenfürst mit ausgemergeltem Geierkopf, nur noch Augen und Nase. Franziska erschrak zum erstenmal vor seinem Anblick.

»Ich wollte nur die Leute zu beruhigen versuchen, zur Vernunft bringen«, entschuldigte sie sich und fühlte eine plötzliche Schwäche in den Beinen.

»Inopportun!« sagte der Unerbittliche, »machen Sie sich lieber mit der Trophäe vertraut, die ich soeben erbeutete.« Er zog hinter dem Rücken ein Zeitungsblatt kleinen Formats hervor, einen befleckten, übel zugerichteten, wie von Fäusten bearbeiteten Wisch, mit Spalten in gellendem Fettdruck. – Franziska las …

 

Wer anders in der Welt weiß, was Haß ist? Wer kann so hassen wie sie, so in ungeheurem Schwung der verratenen Liebe, der innigsten, heimlichsten und unheimlichsten? Das ist nicht die Springflut draußen, die sie einfach mitnimmt, das springt in ihr selber auf, ganz wie gestern nacht, das ist die gleiche Hingabe ans innigste, heimlichste und unheimlichste Gefühl, es ist nur umgekrempelt und schwarz statt weiß – er soll es besser spüren! –

 

Nachmittags um vier Uhr dreißig wurden die Schalter geschlossen. Der Menge nahm es den Atem, oder sie holte Atem für das große Geheul. Diesen Augenblick benutzte die Queen, die an der Galeriebrüstung stand, um in das erstarrte Getümmel im Kassenraum hinunter zu rufen: »Bedankt euch dafür bei dem sauberen Herrn Innenmin …« Sie wurde an der Schulter herumgerissen. Ein klobiger Mann, den steifen Hut auf dem Kopf, sagte barsch: »Halten Sie augenblicklich den Mund, sonst werden Sie abgeführt!« Damit schlug er mit einem Griff, der etwas Schamloses hatte, den Überzieher zurück und ließ unter dem Jackenaufschlag ein kleines rundes Metallschild sehen. Franziska starrte in das massige Gesicht, das zugleich auch melancholisch war; denn alles hing herunter, die Brauen, die Backen, die Nase und der Schnauzbart. Das also war das andere, das subalterne Gesicht des zupackenden Staates, ein trister Nußknacker. Haßte sie es wie jenes Nobelantlitz? Sollte sie ihm in die Wangenlappen schlagen? Es kam nicht mehr drauf an.

»Seien S' doch vernünftig, Frau«, sagte der Klobige in der Mundart des Landes, so als wollte er die harte Schriftsprache seines ersten Satzes wiedergutmachen, und er zuckte mit den breiten Schultern, die so waagrecht und eckig waren, als trüge er unter dem Mantel Epauletten.

Jetzt brüllte von unten eine Stimme: »Mein Geld will i ham, rothaarete Hex!« – es war doch der gleiche derbhübsche Dialekt, den der Kriminalbeamte sprach und sie selber sprechen wollte, der vertraute, gemeisterte und meisternde, und dies gerade war das Signal. Ein Tintenfaß, jedenfalls von einem der Schreibpulte genommen, flog gegen die steinerne Balustrade, in die Tiefe klecksend, wie ein Stein zurückfallend und dann erst zersplitternd. Ob es jener warf, der hinaufgerufen hatte, oder ob ein anderer gegen die Hexe zielte, wie Luther gegen den Teufel, war nicht mehr zu unterscheiden. Denn die erste Stimme entfesselte das Gebrüll, die erste Schleuderhand das Geklirr. »Verschwinden S'!« raunte beinahe vertraulich der Kriminalbeamte und zog Franziska von der Galerie fort, »Sie reizen die Leut auf!«

Franziska reizte die Menschen auf. Sie stand in der offenen Tür des Sekretariats, hielt sich an den Pfosten und lachte. Es war ein böses Lachen oder überhaupt nur kurze trockene Schreie. Die Menschen unten brüllten, was es an Schimpfworten gab, und zerschlugen, was es an Glas gab, Fensterscheiben, Schalterscheiben, Lampenglocken, jedenfalls auch die Spucknäpfe. Es brüllte und splitterte – lachte Franziska über die Wut, die so lärmend vernichtete? Dann gab es Trillerpfiffe, Laufschritte geschlossener Formationen, Kommandos, Gewoge, Gebalge – dann wurde es im Haus still, aber auf der Straße tobte es; dann ertönte Hufgeklapper Berittener, gleich doch vom Lärm überschwemmt, schließlich läutete die Feuerwehr. Die Feuerwehr! Franziska lachte: wo brennt es denn? Es brannte nirgends, man spritzte nur die Volkswut auseinander, man löschte den Radau, sehr schnell.

Franziska ließ die Arme sinken, verließ still die Tür und setzte sich auf Fräulein Nebels Platz, vor die Schreibmaschine, den Kopf zwischen den beiden Händen, die Arme auf die Knie gestützt. Die Nebel, das gute Herz, strich ihr ganz sanft und etwas ängstlich über das Haar. Herr Leitschuh saß mit gekreuzten Armen auf seinem Schreibtisch, einen Fuß auf dem Schreibtischstuhl, ein düsteres, aber selbstgewisses Bild.

Ein schwarzgekleideter Herr betrat das Sekretariat, kein klobiger Polizist und kein Graf, ein blonder Romantiker mit einem wie feierlich erstarrten Gesicht, bei näherem Zusehen mit grauen Schläfen – der zupackende Staat schien seine Gesichter gerne zu variieren. Der Herr zog höflich den schwarzen weichen Filzhut und stellte sich vor: »Regierungsrat Krieger vom Polizeipräsidium.«


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