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Sechstes Kapitel

Die Haustür war nur angelehnt und die elektrische Treppenbeleuchtung eingeschaltet. Das zugleich Zutunliche und Verstohlene dieser Vorbereitung, obgleich doch telefonisch angekündigt, bereitete dem Minister ein gewisses Unbehagen, weil es ihn an die recht ähnliche Empfangsregie des Mädchens Friedel erinnerte und weil sich diese zweite Erinnerung an das Idyll noch ungelegener und verdächtiger einstellte als die erste, die vor einer halben Stunde auftauchte und versank. Eine halbe Stunde kann eine lange Zeit sein, geräumig genug für Wendungen und Entscheidungen aller Art; und was einen vor dreißig Minuten nur lieblich streifte und wehmütig stimmte, kann jetzt erniedrigen, weil das Liebliche und Wehmütige in eine unsaubere Ecke der Seele kroch und dort vielleicht zur Schamlosigkeit gedieh.

Das Unbehagen also, das Bonde mit sich über die läuferbelegten Treppen trug, war fast schon wieder ein Gewinn, zurecht besehen; denn nur was man erkennt, kann man bekämpfen. Die Türen im Erdgeschoß und im ersten Stock waren aus Eisen, fensterlos und ohne Namensschilder, es waren jedenfalls Nebeneingänge oder Notausgänge des Bankhauses. Daß hier außer der Dame, selber niemand zu wohnen schien, war eine erfreuliche Feststellung. Es blieben noch zwei Mutmaßungen peinlicher Art: daß nämlich die Dame, die es bisher sowohl bei ihrer Audienz als auch bei ihrem Anruf im Hause Bonde offensichtlich auf die Kompromittierung des Ministers angelegt hatte, ihr Gesinde nicht entfernt hat, und dann – nun ja: daß sie die Nachtstunde ausnützt und sich im Negligée präsentiert. Denn sie war doch eine Spekulantin.

Frau Vio stand in der offenen Wohnungstür. Sie war angezogen, als wäre es Tag, Arbeitstag, sie trug Rock und Bluse und darüber eine knappe Strickweste, die Bluse war bis zum Hals geschlossen, unter dem weichen Kragen saß eine Krawatte, über der Weste ein Ledergürtel – nein, sie hatte sich nicht schön gemacht, sie war taktvoll, sie war durchtrieben taktvoll und präsentierte sich ein wenig als Amazone des »Volkskredits «. Sie drückte dem Besucher kräftig die Hand; dann ging sie, mit ganz geschäftlichem »Bitte!«, über die kleine Diele in ein Zimmer, dessen Tür offen stand. Bonde folgte ihr – er sah keinen Dienstboten.

Der Raum sah aus wie das Privatbüro eines wohlsituierten Rechtsanwalts: ein großer Mahagonischreibtisch, Klubsessel, Rauchtischchen, ein großer wertvoller Teppich, an den Wänden weniger wertvolle Landschaften, ein verschlossener und wahrscheinlich selten geöffneter Bücherschrank. Es brannten die Schreibtischlampe und eine Stehlampe mit überreich geschnitztem Holzfuß, beide mit grünen Schirmen. Franziska schloß die Tür und ging an den Schreibtisch. Gibt jetzt sie die Audienz? fragte sich Bonde. Vielleicht spürte auch Franziska die Travestie des Ministerial-Schreibtisches: sie drehte sich unvermutet um und setzte sich in einen Sessel neben der Stehlampe. »Bitte«, sagte sie wieder und wies auf den anderen Sessel. Zwischen ihnen war ein unsolides, auf drei geschnitzten Ebenholzbeinen stehendes Messingtablett mit Zigaretten und gehämmerten Aschenschalen. Franziska rauchte. »Also wollen wir verhandeln?« fragte sie.

»Nein«, antwortete er ruhig, »wir wollen dies und das aufklären.«

»Das nützt doch weder Ihnen noch mir«, sagte sie. Er sah sie schweigend an, sie gefiel ihm ohne Hut noch besser, er liebte Frauen mit freier Stirn, glattem Haar und schlichtem Scheitel. Das gesammelte Licht der Stehlampe, aus kleiner Höhe auf sie fallend, spielte das Haarrot in eine metallische Kappe aus dunklem Gold hinüber, unter den Backenknochen saßen weiche Schatten. Er fand sie schön. »Hoffentlich verleitet Sie mein Besuch nicht zu Illusionen«, sagte er unerwartet – er wußte selbst nicht, wie es kam, daß er es sagte; es war wohl ein blitzschneller Schachzug des Gewissens gegen das Auge, das ihre Schönheit feststellte.

Sie sagte: »Natürlich habe ich mir Illusionen gemacht, wenn man es so nennen will, und ich mache sie mir noch. Ihr Besuch revidiert, ob Sie wollen oder nicht, die schlechte Meinung, die ich von Ihrer Vernunft gewann, als Sie sozusagen als Antwort auf meine vormittägliche Bemühung den Pressekampf gegen mich eröffneten.« Er schüttelte den Kopf. »Fangen wir es anders an, Frau Vio, ich bitte Sie! Hier sitzt nicht der Beamte von heute vormittag, sondern der Mann Adelinas …«

»Da mache ich ja eben keinen Unterschied«, unterbrach sie und lächelte, »die Identität bedeutet alles für mich!«

Daß man bei erpresserischen Worten sanft und hübsch lächeln kann! staunte er; ja, daß man sie graziös aussprechen kann wie ein Kompliment! »Bauen Sie nicht so viel darauf«, sagte er leise, »die Identität ist ja nicht unveränderlich.«

Franziska hob schnell den Kopf. »Das will sagen …« begann sie und dachte nach; »also der Beamte trennt sich im Notfall von Adelinas Mann?«

»Selbstverständlich.«

»Oder noch selbstverständlicher: der Würdenträger trennt sich von Adelina?«

Dieser Gedanke war ihm noch nicht gekommen. Im Wirbel des außerordentlichen Tages war vieles in ihm aufgetaucht, was ihn fremd machte vor sich selber, sogar verdächtig und häßlich: aber dieser Gedanke war nicht dabei gewesen. Er schüttelte den Kopf: »Ich möchte mich eher Würdenträger nennen, wenn ich das Amt und nicht Adelina verließe.«

Franziska sagte einfach: »Man kann sich in Ihnen täuschen.«

Bonde machte mit der Hand eine unbestimmte Bewegung, es konnte ein Abwinken sein, auch ein Zeichen der Ungeduld. »Hören Sie, Frau Vio, was mich am meisten belastet und wofür ich keine Erklärung finde, ist dies: was konnte meine Frau, deren Mittel wirklich nicht beschränkt sind, veranlaßt haben, bei Ihnen finanzielle Hilfe zu suchen?«

»Warum«, fragte Franziska zurück, »verlangen Sie die Erklärung von mir? Ich brauche die Gründe ja nicht einmal zu kennen.«

»Sie kennen sie«, sagte Bonde mit Bestimmtheit, »und da das Ihre Waffe ist, kann angenommen werden, daß Sie meine Frau so wenig schonen wie mich, auch in der Debatte mit mir. Ich wende mich also lieber gleich an den Feind – zwar nennen Sie sie mit ihrem Vornamen …«

»Ja«, fiel Franziska ein, »eine Freundin nennt man beim Vornamen, ich kenne sie länger, als sie Ihre Frau ist – und möglicherweise wäre sie ohne meinen Rat gar nicht Ihre Frau geworden. Aber ich will mit dieser Indiskretion nicht meine Position stärken, auch nicht Ihre schwächen, sondern nur Ihr Wort von der Feindschaft kommentieren. Sie wissen ja nichts, Herr Graf, und selbst wenn Sie nichts wissen wollen, bleiben Sie ein sonderbarer Heiliger. Als mich vorhin Adelina anrief, zehn Minuten nach unserem ersten Gespräch, sicherlich zehn qualvolle Minuten, und mir sagte, daß Sie fortgegangen seien, ohne ein Wort, ohne eine Frage, ohne Zorn oder Träne oder die gewöhnlichste, die natürlichste Neugierde, da tat sie mir so leid wie noch nie – und sie tat mir schon oft leid, nicht erst seit heute. Es gibt nämlich einen Anstand, Exzellenz, der mörderisch ist.«

Bonde lauschte auch noch in das Schweigen hinein, das ihren Worten folgte. Denn noch in der Stille tönte ihre Stimme und ihr Verdikt, jedes Wort blieb ihm im Ohr – und wenn er ganz angespannt lauschte, so sagten sie vielleicht noch mehr aus, immer noch mehr. »Aber mir tat sie doch auch leid«, sagte er schließlich wie eine Entschuldigung, »es mag vielleicht nur eine andere Auffassung von Mitleid sein, und ich kenne ihr Leid ja nicht oder ihre Schuld, im Gegensatz zu Ihnen.«

»Dann muß man eben fragen, meinethalben in aller Behutsamkeit, und selbst ohne Erfolg, aber sich nicht drücken.«

»Ich bin ja bei Ihnen, Frau Vio, ich drücke mich ja nicht.« Sie schwieg. Er fragte: »Hätte sie mir denn gebeichtet – um dies Wort zu gebrauchen – oder hätte sie geleugnet?« Sie hob die Achsel. Er fragte: »Würden Sie an Adelinas Stelle mir gebeichtet haben?«

»Nein«, sagte sie ohne weiteres; »denn Sie reizen nicht zur Offenherzigkeit, im Gegenteil.«

»Na also«, meinte Bonde ruhig, »dann können Sie mein Verhalten auch nicht tadeln. Und was haben Sie meiner Frau geraten, aus Mitleid?«

»Wegzufahren.«

»Aus Mitleid?« flüsterte er und hüstelte und hakte die Finger ineinander, daß die Gelenke knackten, »oder um allein zu sein mit … mit dem Feind …«

»Wir sind ja schon allein«, sagte sie und sah ihn ernst an.

Jetzt senkte er den Kopf – o nein, sie lockte nicht. Da sie sich etwas vorgebeugt hatte, waren ihre Augen im Schatten, und sie machten seinen Blick haltlos. Sah sie einen haltlosen Mann, den sie mit Wort und Blick zurückweisen konnte – – sah sie schon das Unsaubere in ihm? »Um weiter zu kommen«, sprach er langsam, »ich bin selbstverständlich bereit, die Schulden meiner Frau zu regeln. Ich könnte sofort bis zu hunderttausend Mark flüssig machen. Es ist unwahrscheinlich, daß sich Adelinas Debetsaldo noch höher beliefe.«

Franziska schüttelte den Kopf. »Ein Mißverständnis, Exzellenz. Ich verlange doch keine Zahlung! Ich kämpfe doch um die Existenz meines Unternehmens und zugleich um die meiner Klientel – begreifen Sie das nicht? Sie können mir die Waffe, die ich gegen Ihren Staat habe, nicht mit Gold aufwiegen. Aber Sie können den Skandal vermeiden – das bedeutet im Augenblick die Zurückhaltung der amtlichen Warnung. Und wenn sie nicht mehr zurückzuhalten ist, so müssen Sie ihr in der Abendpresse ein amtliches Dementi folgen lassen.«

»Nein«, sagte der Minister.

»Gut, Exzellenz, dann müssen wir eben beide die Folgen tragen.«

»Aber Frau Vio, das sind doch beinahe kindliche Erpressungsversuche! Ich kann Sie ja noch heute nacht verhaften lassen und brauchte mich nicht im geringsten zu scheuen, den Verlauf dieses Tags und seiner Gespräche unter Eid auszusagen!«

»Nicht im geringsten?« wiederholte Franziska und beugte sich über das Rauchtischchen ihm zu. Er reckte nur ein wenig das Kinn, aber wich nicht zurück. Er sah sie so nahe wie noch nie, ihre Stirn war in der Höhe seiner Augen, sie sah ihn aufgehobenen Gesichts von unten an, mit schmalen Augen, und ihr Haar duftete. Ihm war, als schaute sie auf seinen Mund; er preßte die Lippen zusammen. Er hatte Angst vor seinem Gesicht und der Verräterei des Herzens, das bis zum Halse schlug, bis zu den Schläfen. »Gut«, sagte sie und lehnte sich wieder zurück, »nehmen wir es an, Verhaftung und Eid. Aber lassen Sie sich gesagt sein, Graf: wenn Sie mich fallen lassen, müssen Sie auch Adelina fallen lassen – da hilft nichts, da kommen die Zusammenhänge 'raus, die Zusammenhänge von Schulden und Schuld. Und dann bleibt es eben doch bei dem Würdenträger, wie ich ihn auffasse.«

Das war schon deutlicher, ob die Frau es beabsichtigte oder nicht – das war auch bei ihr schon ein kleiner Schritt zum Verrat. »Schulden und Schuld« – den simpelsten Zusammenhang sähe der betrogene Mann. Also das ist es. Und gesagt ist es in einem Augenblick, wo Kirke die Männer in Schweine verwandelt. Man lockt die Seele in den Schmutz, indem man dartut, daß alle Seelen schmutzig sind: wie du mir, so ich dir … Bonde wurde plötzlich ruhiger und sicherer. Er gehörte zu den sittlich bequemen Menschen, die die eigene Moral eigentlich nur aus der Wechselbeziehung zur unmoralischen Umwelt gewinnen. Diese Menschen also sagen nicht: ich bin anständig, sondern folgern von Fall zu Fall, je nach Bedürfnis: ich bin anständiger als du. Bonde schwankte bedenklich, weil er vor dem Rätsel Adelinas nicht wußte, an was sich halten. Jetzt stand er fester, weil es sich zu erweisen schien, daß Adelina ausgeglitten war. Man kann es kein christliches Ethos nennen.

Bonde schlug die Beine übereinander und legte die gefalteten Hände um das Knie. »Verzeihung, Frau Vio, wenn ich von etwas anderem spreche. Sie führten sich doch heute bei mir unter dem Namen Spitzer oder so ähnlich ein.«

»So ähnlich«, sagte Franziska und hob die Brauen.

»Sie sagten mir, wenn ich nicht irre, daß es der abgelegte Name aus der geschiedenen Ehe sei. Darf ich fragen, unter welchem Namen Adelina Sie kennengelernt hat?«

»Unter dem gleichen wie Sie.«

»Also unter dem Namen Ihres Mannes. Und wer war Ihr Mann?«

Franziska fuhr auf: »Ist das bereits das Verhör, Exzellenz?« Sie sprach scharf, weil sie plötzlich Angst bekam, vor ihm. Wie gelangte dieser Mann, der ihr bisher wahrhaftig nicht fürchterlich erschien, so mit einemmal, mit einer winzigen Wendung und tückisch mühelos auf die richtige Fährte? Über ihrer kurzen Nase standen zwei böse Falten.

»Verzeihung«, sagte Bonde lächelnd und winkte begütigend ab. Die Fragen waren ihr bemerkenswert unangenehm, mehr brauchte es nicht. Man konnte sie getrost in Ruhe lassen und sich morgen vom Regierungsrat Krieger die dokumentarischen Antworten geben lassen. Und man konnte dann den Gedankenirrwisch, der um ganz undeutliche und andeutende Erinnerung und einem allerjüngsten Augenblicksbild tanzte, vielleicht zur aufklärenden Entwicklung bringen. Es war ein Spüreifer in ihm, ein Polizeieifer – was tut's? Stand er nicht fest in seinem Anstand? »Aber es muß mich doch wundern, gnädige Frau«, fuhr er fort, »daß Sie sich eine Freundin Adelinas nennen und dennoch bereit sind, sie auf so … so überaus häßliche und brutale Art zu opfern …«

»Und Sie?« unterbrach Franziska und hob und senkte unruhig die Brauen, »Sie benützten meine erste Andeutung von heute vormittag, meine vorsichtigste Anspielung auf Adelina, um gleich das gröbste Geschütz aufzufahren und die Sache zu dramatisieren.«

»Merkwürdig«, meinte Bonde, »wie Ihr Temperament mit den Gesetzen von Ursache und Wirkung umgeht. Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen – und im Innenministerium nicht mit Visitenkarten …«

Vielleicht war sie müde oder plötzlich hoffnungslos. Sie lehnte den Kopf gegen die Rückwand des Sessels und schloß die Augen. »Ach Gott«, flüsterte sie, »es ist Ihnen wohl gleichgültig, ob Sie mir abscheulich vorkommen wie ein Henker oder nicht, Bonde?«

Sie nannte ihn beim nackten Namen, und es war ihm, als habe sie ihn berührt. »Hören Sie …«, begann er leise und kämpfte noch – hart neben dem festen Weg ist der Sumpf, ihre Stimme ist der Sumpf, sie macht ihn mit einem Wort nackt und sich auch, und er sieht sie in der Hingabe, die Hexe, und brennt vor Begierde – er kämpfte gegen das Bekenntnis, daß er es nicht gewesen sei, der die Henkersbotschaft an die Zeitungen gegeben habe, er nicht! Daß er im Gegenteil … Er schluckte und sagte mit Anstrengung: »Es muß mir leider gleichgültig sein, was Sie von mir denken.«

Sie öffnete die Augen und schaute ihn an, angelehnten Kopfes, ein wenig von oben. Ihre schrägen Augen waren im Lichtschein von schwer zu bestimmender Farbe, sie konnten grün, blau oder grau sein, sogar gelb – sie waren hell wie Mondstein. »Jetzt fehlt doch nur noch ein Wort von der Pflicht, Exzellenz, von der Amtspflicht – was?«

Bonde stand. »Es erübrigt sich«, sagte er und kam sich jämmerlich vor. Vielleicht war er nur lächerlich; denn sie lächelte nun, mit starken weißen Zähnen.

Sie gaben sich füglich nicht die Hand zum Abschied. Aber als er draußen war, seine Tritte immer leiser aus dem Treppenhaus zu hören waren, immer entfernter, und als dann die Haustür ins Schloß fiel, preßte Franziska die Fäuste gegen die Schläfen und sah verzweifelt um sich wie eine Eingesperrte.


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