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Drittes Kapitel

Es sei dringend, hatte Fräulein Nebel gesagt und es mit zierlicher Bewegung der Schultern zugleich bekräftigt und entschuldigt. Aber was gibt es Dringendes in dieser wohltemperierten und neutralisierten Beziehung, deren zweiseitige Bedingung eben das Unaufdringliche war, das Takt- und Rücksichtsvolle, die Beachtung der gezogenen Grenze, hinter der das Eigene lebte und auch das Tägliche sich abspielte, gerade das Tägliche, in diesem Falle die Zeit des Geschäftes, die Bürostunde. In Adelinas doppelschichtigem Dasein, auf das Franziska nicht neugierig war, rührte erfahrungsgemäß nur die untere Schicht eine gelegentliche Dringlichkeit auf, über den Freundschaftswall hinweg: sollte also Adelina die Störung, die doch schon fast ein Vertragsbruch war, wahrhaftig für den Mitinhaber der »Guillotine« wagen, für den Halsabschneider, dem man seinerseits die Kehle zuschnüren konnte, so war die Stunde schlecht gewählt, sehr schlecht. Franziska sah böse aus, Fräulein Nebel lächelte noch freundlicher: »Oder wollen Sie noch rasch Nummer vier drannehmen, Frau Vio, eine Dame mit Visitenkarte …«

Doch das war es nicht, was die Queen überlegte. Sie bedachte etwas anderes, ihr kam ein schneller spitzer Gedanke, der ganz folgerichtig und harmlos tat, aber im Grunde eine Strafe bedeutete oder gar noch mehr, ein unguter Gedanke: wer mich jetzt sprechen will, der muß zu mir ins Büro kommen. Franziska, eine Frau des schnellen, oft auch hitzigen Entschlusses, setzte sich wieder an den Schreibtisch und sagte: »Nummer vier soll warten. Laufen Sie hinauf und bitten Sie Frau Adelina, sich herzubemühen.«

Fräulein Nebel tat die Puppenaugen auf, bewegte wieder die Schultern, doch nicht mehr zierlich, sondern gewunden oder so, als kitzele es sie im Rücken, und wurde merkwürdigerweise rot. »Aber, Frau Vio …«, flüsterte sie.

»Was: aber?« unterbrach die Queen streng, und Fräulein Nebel hatte zu gehorchen. Sie hatte einen leichten Gang, die zierliche und leichte Person: dennoch läutete draußen, hinter der Bürowand, die eiserne Wendeltreppe unter den Stöckelschuhen der Hinaufhuschenden, ein ungewöhnliches Geräusch für Franziska. Ein folgerichtiger Gedanke: den Verstoß gegen die Regel durch den Gegenstoß zu bestrafen, durch den Umstoß der Schutzmauer? Und »Aber …« flüsterte das Fräulein Nebel, Freundin Leitschuhs, des »Guillotine«-Kontrolleurs, der selbstverständlich alles wußte? Wieviel also drang im nächsten Augenblick schon durch die jähzornig aufgebrochene Lücke ins Tägliche? Ja, ist denn dieser Tag noch das Tägliche, die Regel noch das Gültige und Adelinas Dringlichkeit das vermutbar Strafwürdige?

Die Wendeltreppe klingelte jetzt unter doppeltem Anschlag, unregelmäßig und ganz zerfahren. »Es tut mir ja schon leid«, flüsterte Franziska für sich. Doch sie stand nicht auf und sprang nicht fort, um die Freundin noch vor dem Vorraum abzufangen und wieder die Treppe hinaufzuführen, in die gewohnte Wohnungsheimlichkeit. Sie blieb sitzen, festgebannt und plötzlich mit Herzklopfen. Fräulein Nebel, die fühlsame Seele, hatte schon vor dem Hinaufgehen einen äußerst ungewöhnlichen, vielleicht ihren ersten Beweis von Umsicht und selbständiger Tatkraft abgegeben – eine um so anerkennenswertere Leistung, als sie darauf angelegt war, ungesehen und also auch unbelohnt zu bleiben: indem sie nämlich im Vorraum die Milchglastür zum Sekretariat nicht nur schloß, sondern auch leise verriegelte. Sie hatte sich also die Gewißheit verschafft, den umraunten Decknamen, der doch eben für sie oder für Herrn Leitschuh (es war das gleiche) kostbar war, weil man wußte, was dahinter steckte, in seiner plötzlichen, aber beileibe nicht angeglotzten Sichtbarkeit doch wiederum unsichtbar zur ungestüm leichtsinnigen Herrin zu schaffen. Und so diskret schloß sich jetzt hinter der Eintretenden die Tür des Privatbüros, daß sich Adelina rasch umschaute, ob sie denn allein gekommen oder überhaupt begleitet worden sei.

Sie war indessen, dem Anschein nach, weder verlegen noch beklommen, hier zu sein, im Unbekannten und Verbotenen. Vielleicht war es die Erziehung durch die große Stellung, vielleicht war es die Erziehung durch Franziska, daß sie unbefangen blieb und den kargen Raum, der, von der Wohnung oben gänzlich unterschieden, dem Tagesgeschäft der Freundin diente, nicht einmal musterte. Franziska spürte eine jähe und starke Freude an ihr und dennoch das Herzklopfen.

»Es tut mir ja so leid«, sagte sie schuldbewußt und küßte sie auf die Wange, »daß ich dich hier in diesem abscheulichen Büro empfangen muß, Ada-Kind, aber du verstehst schon, in dieser Stunde …«

»Natürlich versteh ich«, versicherte Adelina, »es ist ja auch nichts dabei, Ziska, und ich wäre ja auch niemals um diese Stunde gekommen und hätte dich gestört, wenn nicht … wenn nicht …« Nun fand sie doch nicht das richtige Wort und schwieg. Aber Franziska kannte sie gut: sie stockte nicht aus Verlegenheit und nicht aus Bedrängnis über die eigene Sache, die alte peinliche Geschichte, sie wandte sich um, nahm den Besucherstuhl, der neben dem Schreibtisch stand, und zog ihn nahe zur Freundin heran, sie setzte sich und legte die Hand sanft auf Franziskas Knie – ja, sie stockte nicht in eigener Sache, sondern aus Schonung für die andere. »Also«, fragte Franziska, viel zu ernst und leise für die Vorspiegelung der falschen Tatsache, »was haben wir für Schmerzen, Kindchen?«

Adelina ging darauf nicht ein, aber sie berichtigte auch nicht. Sie wußte nur nicht, ob sie, um Franziskas willen, nicht ein wenig lächeln sollte, so als handelte es sich um ein Anliegen, oder ob es sich doch verbot zu lächeln. So kam eine Ungewißheit in ihr zartes Gesicht, ein Zucken um den Mund nur, und Franziska hatte Angst.

»Denk dir, Ziska«, sagte Adelina, »heute beim Frühstück wurde vom ›Volkskredit‹ gesprochen.«

»Wer sprach?« unterbrach Franziska.

Was war das für eine Frage? Adelina streichelte das Knie der Freundin. »Mein Mann«, sprach sie, »erzählt mir ganz gerne Berufliches, es ist das einfachste für ihn – zumeist allerdings nur Personelles, von Geheimräten und Regierungsräten oder auch von angenehmen und unangenehmen Kollegen und Abgeordneten und so …«

»Ja«, unterbrach Franziska, »von dem Warnungszirkular der Regierung an die Bezirksämter weiß ich bereits.«

»Warnungszirkular …«, wiederholte Adelina und schien unsicher.

»Nun ja, die Warnung vor dem ›Volkskredit‹«, erklärte Franziska, schluckte und fügte dann hochmütig hinzu: »Aber du kannst dich beruhigen, Kindchen, sie hat gar keine Wirkung, Gott sei Dank, gar keine!«

»Aber …«, meinte Adelina nachdenklich, »ich verstehe nicht ganz, Ziska – deshalb komme ich ja! Die Warnung soll doch erst publiziert werden …« Sie schwieg; denn unter ihrer Hand preßten sich Franziskas Knie zusammen.

»Publiziert?« fragte Franziska. Ihr Gesicht übrigens sah ruhig aus.

»Ja, in der Presse.«

»Aber man kann doch die Presse, die mir zum Teil ganz wohlgesinnt ist, nicht zwingen, gegen mich zu schreiben!«

»Auflagenachricht, Ziska, ›Das Ministerium des Innern teilt mit‹, und dann kommt die Mitteilung, in allen Blättern.«

»So«, sagte Franziska und langte nach einer Zigarette, mit heftiger Hand. Sie vergaß, die Schachtel der Freundin anzubieten. Sie zerbrach zwei Zündhölzchen an der Reibfläche, das dritte erst gab das Flämmchen.

»Was kann man dir denn eigentlich tun?« fragte Adelina leise und vorsichtig.

»Gar nichts!«

Adelina schüttelte den Kopf. »Aber man glaubt doch offenbar, Handhaben gegen dich zu besitzen; denn die Warnungspublikation sei nur die Vorbereitung zur Operation, sagte Bonde; dann werde zugepackt und geschnitten, ohne Chloroform. Er liebt manchmal solche rohe Bilder, obgleich sie gar nicht zu ihm passen.«

»Ja, sehr roh«, sagte Franziska mit ganz tiefer Stimme, sie knurrte es fast, die Zigarette zwischen den Lippen. Dann rauchte sie schweigend, die Augen beinahe geschlossen.

Jetzt schlug eine Lärmwelle vom Schalterraum herein und ebbte gleich wieder zurück. Vielleicht war Leitschuh in den Vorraum getreten, vielleicht kommt er jetzt herein, kaum anklopfend, wie es sein Recht ist. Franziska blinzelte zur Tür. Warum sollte er nicht hereinkommen, der Teufelskerl, es gäbe dies und das zu erledigen, es gibt immer einen Anlaß für den Prokuristen zu erscheinen. Und wie verhält sich Adelina zu dem Sekundenausschnitt aus dem täglichen Brausen, das sie doch nicht kennt und sie wohl erschrecken müßte? Franziska prüfte aus den Augenwinkeln: ja, die kleine Gräfin und Ministersfrau warf den Kopf zurück und sah zur Decke, als ob der Lärm von oben käme.

»Kleines Gebrüll aus dem Raubtierhaus«, sagte Franziska und sah wieder zur Tür; aber niemand kam, er kam nicht, der unzulängliche Jettatore, der Pseudo-Mephisto, und ihn zu zitieren, geht wohl nicht an.

Adelina betrachtete jetzt Franziskas Profil, das weich und hart sein konnte, wie das bewunderte Gesicht, und jetzt hart war, mit kurzer böser Nase und starkem bösem Kinn. »Ja«, meinte sie benommen, »es klingt schon so, als wenn sie alle hungrig wären.«

Franziska entblößte etwas die starken Zähne, ohne doch zu lächeln, und fragte: »Wann will er mich denn schlachten, der hohe Herr?«

Adelina zog die Schultern hoch. »Das sagte er nicht«, antwortete sie verschüchtert.

»Und wann gibt er die Auflagenachricht in die Presse?«

»Wohl sehr bald, denk ich …«

»Wann? An welchem Tag? Zu welcher Stunde?«

»Das weiß ich nicht …«, flüsterte Adelina.

»Aber das ist doch das Wichtigste!« rief Franziska mit Schärfe, »danach wenigstens hättest du doch fragen können!«

Adelina wurde blaß. »Wie behandelst du mich denn, Franziska?« flüsterte sie.

Franziska wandte ihr das Gesicht zu und dann auch den Körper; denn sie drehte den nachgiebigen Schreibtischstuhl mit einem kleinen Ruck in ihre Richtung; sie lächelte jetzt, die Augen aber blieben zornig. »Na, sei nicht böse, Kindchen, es ist ja schließlich einzusehen, daß du nicht gerade fragelustig aufgelegt warst.« Sie betonte das »Du«.

Adelina war nicht böse; aber sie bewunderte auch nicht das Lächeln, das nicht recht am Platze war, so wenig wie die Betonung in der Antwort. »Ich?« fragte sie verblüfft.

»Adalein!« rief die Freundin, Grübchen in den Wangen, und griff nach Adelinas Hand, »was magst du wohl für ein Gesicht dabei gemacht haben! Oder sieht dich dein Mann nicht an, wenn er dir Personelles erzählt?«

»Warum soll er mich denn nicht ansehen, Franziska, und warum soll ich denn im Gesicht …«

»Na, Kindchen«, ermunterte Franziska, als nehme sie die Beichte ab, »du hast doch Angst gehabt.«

»Gewiß habe ich um dich Angst gehabt, ganz im Innern …«

»Ach, nur um mich«, unterbrach Franziska, und so erstaunt schien sie, daß sie es wiederholte: »Nur um mich …«

Sie ließ auch die Hand der Freundin fahren, oder Adelina entzog sie ihr; denn sie wollte von hier fort, so schnell wie möglich. »Ich habe es dir also nun gesagt, Franziska, ich will nicht mehr stören.« Sie stand auf, Franziska blieb sitzen. »Danke, danke«, sprach sie nachdenklich und sah sie nun von unten an; »lieb von dir, sehr lieb, Ada – aber du hast eben, wie die Dinge zu liegen scheinen, gar keinen Einfluß auf deinen Mann – oder doch?«

»Ich? Ich?« fragte Adelina entsetzt.

»Du könntest auch nicht, Ada, einen Einfluß auf ihn gewinnen, oder sagen wir: erobern – nein? Aus Not und Notwehr entstehen einem bekanntlich ganz neue und kaum glaubliche Kräfte …«

Adelina hielt sich nicht mehr, sie schluchzte auf: »Was willst du denn immer mit mir, immerzu mit mir

Franziska hatte sich aufs neue zu wundern: »Aber Kindchen, es geht nun doch auf Spitz und Knopf!« sprach sie kopfschüttelnd.

Als sie dann den Arm ausstreckte, um zu klingeln, hielt ihr Adelina die Hand fest und sagte ganz schnell: »Bitte nein! Bitte nein!«

»Aber Fräulein Nebel, eine vollkommen zuverlässige Person, hat dich doch auch heruntergeführt!« Sie stand jedoch auf, nahm Adelinas Arm und sagte weich: »Also dann komm mit mir, Kindchen.« Sie ging auch als erste durch die Tür ins Vorzimmer, weil die Freundin es wünschte. Der Raum war leer, die Glastür zum Sekretariat geschlossen. Auf der Wendeltreppe sah Adelina über sich die schönen schlanken Beine der Freundin; denn Franziska hatte den Rock gerafft und nahm zwei Stufen auf einmal, sie hatte es eilig. Ich will es sie oben bitten, dachte Adelina, oben wird sie anders sein … Doch oben, in der kleinen lautlosen Diele, mit Teppichen am Boden und an den Wänden und mit Franziskas Parfüm in der Luft, hielt ihr die Freundin schon die Hand hin. »Seh ich dich bald, Kindchen?« fragte sie, wie immer zum Abschied.

»Ja«, flüsterte Adelina und wurde rot. Denn das war eine Lüge.

 

Frau Vio polterte die Wendeltreppe hinunter – der Prokurist und Fräulein Nebel sahen sich an. »Leitschuh!« tönte es nach dem Klinkenschlag aus dem Vorzimmer. Der Prokurist lief ins Privatbüro, wo die Queen mit kleinen schnellen wuchtigen Schritten hin und her ging. Ob er wisse, wer eben da gewesen sei, fragte sie im Gehen. Er räusperte sich. »Natürlich wissen Sie es!« schrie sie ihn an, stehenbleibend.

»Natürlich weiß ich es«, wiederholte er mit Ruhe.

»Und neugierig waren Sie doch wohl auch, warum sie kam?«

»Neugierig …«, machte Herr Leitschuh unbestimmt und grinste.

»Und wenn Sie schon das Kombinationsgenie sind, das Sie zu sein vorgeben: warum sind Sie dann nicht hineingestolpert und mit einer Entschuldigung wieder verschwunden?«

Herr Leitschuh sah sie überrascht an und sagte nur: »Bewundernswert!«

»Sie nicht, mein Lieber!«

»Ich nicht«, meinte er bescheiden, »ich stand ja nur im Vorraum hinter der Tür und hörte zu – ungefähr bis auf ›Spitz und Knopf‹ …«

»Alter Halunke«, sagte sie anerkennend.

Dann kam Nummer 4 der Sprechstunde, eine dürre Dame mittleren Alters, die keine Ungeduld gezeigt hatte, weil Geduld, viel Geduld zu ihrer charitativen Aufgabe gehörte – Frau Regierungsrat Schleeboom mit Visitenkarte, Komiteedame des neuen Tuberkulosenheims auf der Albertshöhe, mit dem ehrenvollen Auftrag, Frau Franziska Vio in Anbetracht ihrer stadtbekannten Wohltätigkeit zu bitten, sich ebenfalls in den Dienst der guten Sache zu stellen und womöglich unter den Förderern zu figurieren, in der allerhöchsten und allerbesten Gesellschaft, neben Mitgliedern des königlichen Hauses, der Hocharistokratie, der Hochfinanz – wie denn überhaupt das ganze Unternehmen unter dem Protektorat der Regierung stünde und der Vorsitzende des Kuratoriums kein geringerer sei als seine Exzellenz der Herr Minister des Innern in Person. Hier war es denn auch, wo Frau Franziska Vio, die von Anfang an nicht abgeneigt schien, ihre stadtbekannte Wohltätigkeit aufs neue zu beweisen, das regste Interesse an der Sache bekundete. Sie zeichnete tausend Mark, einen Betrag, der das Warten verlohnte.


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