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Erstes Kapitel

Der Tag begann wie immer, der Lärm überfiel die ehemals stille Straße gegen acht Uhr, ländliche Gefährte polterten grob über das Pflaster und luden laute Menschen ab, laute Menschen zogen zu Fuß heran, ein Aufmarsch krachender Stiefel und Stimmen – und die Anwohner, mittlere Rentner, mittlere Beamte, murmelten ihre allmorgendliche Verwünschung. Die fremdartige und ungehörige Aufführung – ein Schaden, mehr noch, eine Schande für die gutbürgerliche, fast schon patrizische Straße dauerte nun den ganzen Tag, man wußte es zur Genüge, sie begann eine Stunde vor der Schaltereröffnung und versickerte erst geraume Zeit nach Geschäftsschluß. Vor dem Portal eines mittelgroßen Hauses von auffällig gelber Farbe – vor zwei Jahren noch ein Wohnhaus wie die anderen auch, mit grauer ruhiger Fassade – standen schon zwei Schutzleute: und sie gaben dem Bau etwas Amtliches, Respektheischendes und Wohlbehütetes. Aber sie standen doch vor dem Sitz des »Volkskredits Vio«, dem Ziel der Straßenfriedensstörer, und waren dazu da, den Zustrom der sonderbaren Pilger zu regeln, die Angestauten bis neun Uhr in Reih und Glied zu halten und Exzesse der Ungeduld zu verhüten. Sie waren auch dazu da, um Betrunkenen den Eintritt zu verwehren; denn gegenüber dem gelben Bau war die »Goldquelle«, ein Bierlokal, mit der gleichen gelben Farbe angestrichen und recht rücksichtslos aus dem grauen Mietshaus herausgestrichen, dessen Erdgeschoß es einnahm. Diese »Goldquelle«, der Straße zu gleicher Zeit entsprungen wie das Finanzinstitut, war die Animierkneipe des »Volkskredits« und schenkte morgens von acht bis neun Freibier aus, also in der Stunde vor der Schaltereröffnung – eine sonderbare Bierstunde. Aber der »Volkskredit« und die mit ihm verbundene »Goldquelle« kümmerten sich nicht um die Zeit oder Unzeit des Durstes, sondern um den Durst schlechthin, und außerdem verabfolgten sie nur einen Liter auf den Kopf. Betrunkenen war der Eintritt in das Bankhaus verboten.

Wenn die nahe Ludwigskirche neun Uhr schlug, öffnete der Bankportier, ein ehemaliger Hatschier, also ein stattlicher, schimpffroher und befehlerischer Mann mit goldbetreßter Mütze und blauem Rock, das schmiedeeiserne Portal und ließ die ersten Zwanzig, die er mit dröhnender Stimme und herrschsüchtiger Hand abzählte, eintreten. Das kleine Treppenhaus füllte sich um Nu; denn oben, vor der Eingangstür zum Schalterraum, kam es zu einer neuen Stockung. Dort standen zwei Bankdiener, ein goldgesticktes »VV« im Jackenaufschlag und auf dem linken Ärmel, und teilten Nummern aus, gelbe Kartonstückchen mit schwarzen Ziffern. Da außerdem der Weg von der Tür zu den Einzahlungsschaltern durch gelbe Stricke nicht allein gekennzeichnet, sondern auch eingeengt war, so floß die erste Welle der Bankkunden nur langsam aus dem Vorraum ab. Der Hatschier ließ dann in einem Augenblick, der ganz in seinem Belieben stand – ob nun noch etliche Leute der ersten Gruppe zu sehen waren oder keine mehr –, die nächsten Zwanzig ein, und sein schnauzbärtiges Gesicht sah aus, als sei das Mißfallen an dem Treiben, das zu kommandieren er verpflichtet war, mit jedem neuen Schub im Wachsen. Doch solche unwirsche Lust, hinauszuwerfen, statt einzulassen, zeigte das Hatschiergesicht immer – der Ausdruck hatte also nichts mit diesem Tag zu tun.

In dem kleinen Treppenhaus hing zur Rechten das Bild des Landesherrn, zur Linken das Bild einer noch jungen Frau, einer rothaarigen Frau mit ganz hellen Augen, die ein wenig schräg gestellt waren. Über dem Eingang zum Schalterraum war in großen schwarzen Lettern auf die gelbe Mauerwand die Hausdevise gemalt:

Tue Recht und scheue niemand!

Der Tag begann doch wie immer. Um die gewohnte Zeit, um zehn Uhr, nicht früher und nicht später, verließ Frau Franziska Vio, Inhaberin und Leiterin des »Volkskredits«, ihre Privatwohnung im zweiten Stock des Bankhauses und stieg die eigens für sie gebaute Wendeltreppe hinunter, die vom Wohnungsflur unmittelbar ins Vorzimmer ihres Privatbüros führte. Die Treppe war aus Eisen, Franziska war eine kräftige Frau mit lautem und raschem Tritt, sie liebte keine Leisetreterei, man sollte sie ruhig hören, sie kam wie ein kleines Donnerwetter die Poltertreppe herunter, es klang immer, als nahte sie in rauschender Wut: aber das Sekretariat unten wußte, daß es ihre Art war, ihr Temperament, der allmorgendliche Auftritt, nichts weiter; das Sekretariat wußte, daß die Herrin nicht zur Wut neigte und schlimmstenfalls nur zornig polterte und dann doch schon das schöne Lachen bereithielt, das Lachen aus dem Vollen, mit großem rotem Mund und wunderschönen Zähnen. Frau Vio verstand, lachend zu schimpfen; man ließ es sich gern gefallen, schon deshalb, weil es hübsch anzusehen war. Sie verstand auch, gar zu wilde oder gar zu zahme Klienten lachend vor sich zu warnen, im zugleich derben und anmutigen Dialekt des Landes. Man ließ sich gerne warnen oder locken, man sah sie an, und es kam auf die Lockung heraus oder doch auf den Rausch des Vertrauens. War es der Mund oder waren es die Augen?

Das Sekretariat hörte sie kommen, wie an jedem Vormittag um zehn Uhr. Die eiserne Wendeltreppe kündigte sie kräftig an, das Poltern setzte sieh mit Erfolg gegen den Betriebslärm durch: Prokurist Leitschuh, der dem weißblonden Fräulein Nebel einen Brief diktierte, unterbrach nicht seine Beschäftigung, sondern trat nur einen kleinen Schritt von der jungen Dame zurück; denn er stand ihr sehr nahe. Noch war alles wie an jedem Tag, auf das Gepolter folgte der gehörige Schlag auf die Türklinke des Vorraums – und nun mußte man die Tür zuschlagen hören; denn Frau Vio, im Schwung, hielt sich nicht mit Türen auf, die erste Tür flog zu, die zweite Tür, zu ihrem Büro, flog auf, und zumeist dann, zwischen Türknall und Klinkenschlag, über allen Ankunftslärm hinweg, ertönte schon ihre dunkle und starke Stimme mit dem Kommando des Namens, entweder »Leitschuh« oder »Nebel«!

Herr Leitschuh und Fräulein Nebel schauten auf, die Arbeit unterbrechend, und beide blickten auf die Wand aus geripptem, undurchsichtigem Glas, die das Sekretariat vom Vorzimmer des Privatbüros trennte. Denn die erste Tür war nicht zugeschlagen worden, man hörte plötzlich nichts mehr von Frau Vio – es war ungewöhnlich. Herr Leitschuh hüstelte. »Wo waren wir stehen geblieben, Fräulein Nebel?« fragte er, und nannte sie nicht beim Vornamen, wie sonst.

Frau Vios täglicher und vernehmlicher Schwung brach heute also im Vorraum ab, in der offenen Tür, deren Klinke sie noch in der Hand hielt; und es schien ganz so, als sei sie sich der Stockung wenig bewußt. Sie stand da und lauschte, über der Wurzel ihrer kurzen geraden Nase erschienen zwei angestrengte Falten und ihre schrägen Augen schlossen sich auf einen Spalt. Sie war keine Lauscherin, sie hatte weder Lust noch Begabung dazu, sie trat ja fest auf und machte kein Hehl aus sich – sie hielt auch niemals mit ihrem Urteil über Lauscher und Schleicher hinter dem Berg und gefiel sich in etwas übertriebenen Maximen wie in dieser: daß ihr ein saftiger und krachender Sünder sehr viel lieber sei als ein sanfter frommer Fridolin auf Gummisohlen (eine Sentenz, die sie möglicherweise ihrer Zusammenarbeit mit Herrn Leitschuh unterlegte). Es gab nun auch für eine Lauscherin in der Tür zum Bürovorraum nichts zu erfahren; denn hier überschwemmte die Lärmwoge, die dauerhaft aus der Schalterhalle hereinschlug, jede Äußerung der einzelnen Menschen und selbst die unangenehme Stimme des nebenan diktierenden Prokuristen. Also lauschte die Frau auf den Geschäftslärm, den sie doch kannte wie kein anderer und in dem sie lebte, täglich von zehn bis zwölf und von vier bis fünf, und der ihr in den Ohren saß, wenn sie nachts nicht einschlafen konnte (nun, das geschah nicht oft, es geschah zum Beispiel gestern abend und war vielleicht eine Bosheit des überlasteten Magens, der ihr so die Freude am guten Essen und Trinken heimzahlte) – also war es nur das Rauschen des Betriebes, das sie abhörte, aus plötzlichem Kontrollbedürfnis?

Die Menschen schieben sich in einer bestimmten Richtung und die Töne sind verworren, sie reden, lachen, sie schimpfen vielleicht auch und fordern die Stimmen der Aufsichtspersonen heraus, die mit ihren Anweisungen und Ermahnungen, mit ihren immergleichen Berufsworten über dem Tongeschwirr schweben: »In der Reihe bleiben! – Nicht drängeln! – Nach der Einlage zu den Zinsschaltern!« –; da man die Worte kennt, vermag man sie herauszuhören – und über dem quirlenden Chor der Wortgeräusche und der betriebstechnischen Kehrreime zucken die hellen scharfen Zahlen der Nummernausrufer.

Dies also war zu hören. Es unterschied sich für das kundige Ohr in nichts vom täglichen und gewohnten Treiben. Frau Vio warf hinter sich die Tür ins Schloß, sie unterschlug gleichsam mit dem nachträglichen Türschlag die letzten Sekunden der Stockung und des befremdlichen Lauschens, sie war bereits wieder in ihrem täglichen Schwung. Herr Leitschuh nickte mit seinem kahlen Geierkopf, und dann rief Frau Vio auch schon seinen Namen, laut und eilig wie immer.

 

Frau Vio saß schon hinter ihrem nüchternen Schreibtisch, auf dem große Ordnung herrschte. Sie saß auf einem sogenannten amerikanischen Bürostuhl mit Rücken- und Seitenlehne, der sich nicht nur drehte, sondern auch, ein wenig wie ein Schaukelstuhl, nach hinten nachgab, wenn sich der Sitzende zurücklehnte. Sonst verzichtete das Privatbüro auf Bequemlichkeit; es wies Regale, Rollschränke und ein paar Stühle aus dem gleichen gelbgebeizten Holz des Schreibtisches und des Drehstuhles auf, doch nicht einmal einen Spiegel. So streng war der Raum.

Frau Vio sah Herrn Leitschuh an, der vor dem Schreibtisch stand, einen Briefordner unter dem Arm. Sie hatte eine klare Stirn, das Haar war in der Mitte gescheitelt und lief glatt und glänzend und straff am Kopf in den tiefen Nackenknoten. Auch das Gesicht war klar und hatte eigentlich weiche Linien; aber die Haut saß so glatt und straff über den ziemlich breiten Backenknochen und der reizvollen Mulde der Wangen (hier entstanden die Grübchen, wenn sie lachte), daß der Eindruck einer gewissen Härte entstand, gleichsam einer Material-Härte – und dadurch entzog sich das Gesicht auch der Schätzung seines Alters.

»Na und?« fragte sie und drehte dabei auf der Schreibtischplatte die Hände um, so daß die Handflächen oben lagen, eine sonderbar ungeduldige Bewegung.

Herr Leitschuh hatte ungewöhnlich tiefliegende Augen und so buschige Brauen, daß die Augenhöhlen im ständigen Schatten lagen oder wie dunkel angetuscht schienen. Vielleicht waren die Lider auch ein klein wenig geschminkt oder mit Ruß geschwärzt; denn seitdem er auf der Hochzeitsreise mit seiner längst verstorbenen Frau, vor zwanzig Jahren etwa, das außerordentliche Erlebnis gehabt hatte, auf Ischia als Jettatore verschrien zu werden und auf sich Korallenhörnchen und beschwörend gegabelte Finger gerichtet zu sehen, kultivierte er seinen dämonischen Blick und verdankte ihm sowohl geschäftliche als auch private Erfolge. Frau Vio gehörte zwar zu den wenigen Frauen, die ihn seelenruhig anschauen konnten, und sie hatte ihm sogar in der Frühzeit ihrer Beziehungen, als er im üblichen Zug seiner Blickdämonie zärtlich wurde, zwei Ohrfeigen gegeben (die zweite mit dem Handrücken): dennoch aber mochte es sein nackter Geierkopf mit dem unterstrichen bösen Blick gewesen sein, der sie bestimmt hatte, ihn zu erwählen – wenn auch nicht als Liebhaber, so doch als Mitarbeiter, zunächst als Einpeitscher ihrer ersten Darlehensgeschäfte und dann als Prokurist des »Volkskredits«. Sie fuhr gut mit ihm; denn er war tüchtig und kundig, ein mit allen Wassern gewaschener Geschäftemacher und bei aller Kenntnis der menschlichen Schwächen und ihrer Nutznießung doch nur eine subalterne Figur – also nicht zu fürchten und unschwer zu durchschauen. Er war ein wenig zu verteufelt, zu verliebt in seinen bösen Blick, um ganz ohne Schminke auszukommen, er war, wenn man ihn zugleich beaufsichtigte und verachtete, ein ausgezeichneter Schenkkellner der »Goldquelle«, die geheimnisvoll und erfolgreich im gelben Haus des »Volkskredits« entsprang; er war vor allem, als offenbarer Teufelskerl, die beste Folie für Frau Vio selber; denn sie war ja die gute Quellenfee.

Herr Leitschuh öffnete den Briefordner und sah hinein, so als müsse er sich über das zu Sagende informieren. Er sagte indessen, ohne aufzusehen:

»Um es vorweg zu nehmen – der Mister von der General-Company ist noch im Hotel Vier Jahreszeiten, er war sehr liebenswürdig …«

»Die Zuteilung!« rief Frau Vio aufgebracht, »mich interessiert nur die Zuteilung der Neuemission! Gibt er zehn Prozent oder nicht?«

»Zehn Prozent«, sagte Herr Leitschuh oder er las es von seinen Papieren ab, »zehn Prozent wären sechshundert shares à tausend Dollar. Ich sagte dem Mister, daß wir auf diese Zuteilung rechnen – daß dieser Anteil der Placierungskraft des ›Volkskredits‹ gerade entspräche …«

»Also gibt er sie oder nicht?« unterbrach Frau Vio und trommelte mit ihren langen polierten Fingernägeln auf die Tischplatte.

»Einen Augenblick«, sprach der Prokurist höflich und schaute nun auch auf, mit dämonisch verschattetem Blick, »ich sagte dem Mister auch, daß bis vor kurzem die Zuteilungsbereitschaft der General-Company außer Zweifel zu sein schien – bis vor ganz kurzem …«

Nun geschah es, daß Frau Vio den altvertrauten und gering geschätzten bösen Blick ihres Mitarbeiters nicht aushielt und daß plötzlich auch ihre aufgebrachte Ungeduld zerstob, so schnell wie sie gekommen war. Frau Vio sah auf die Schreibtischplatte, ihre Augen waren ganz schmal, und dann sagte sie recht still: »Und was antwortete er darauf – auf die Anspielung?«

»Gar nichts«, sagte Herr Leitschuh, »er lächelte etwas verlegen, aber sehr liebenswürdig.«

»Und wieviel bot er uns an?«

»Er stotterte etwas von maximal drei Prozent – unverbindlich«, antwortete der Prokurist und zuckte mit den mächtigen Brauen, auf verrucht belustigte Art; und dann fügte er hinzu: »Er ist noch im Hotel, wie gesagt. Vielleicht erreichen Sie mehr.«

»Ich verzichte«, sagte Frau Vio leise.

»Es scheint mir das Vernünftigste«, meinte Herr Leitschuh ohne Zögern.

»So?« fragte sie gedehnt und böse: »und wenn ich gesagt hätte, ich spreche nochmals mit dem Mann, um mehr zu erreichen – was hätten Sie dann geantwortet?«

»Ich hätte mich im stillen gewundert und Ihnen viel Glück gewünscht«, entgegnete der Unverfrorene; »aber Sie wissen ja genau so gut wie ich, daß es keinen Zweck gehabt hätte und daß selbst seine unverbindlichen drei Prozent nicht zugeteilt worden wären.«

Frau Vio schwieg eine Weile und zog die schöngeformten Augenbrauen hoch, sie fuhr mit zwei Fingern über die Stirn, als befühlte sie die Falten, die entstanden waren. »Kurz und gut«, sagte sie, »da haben wir schon die erste Wirkung …«

»Allerdings.«

»Eine Gemeinheit!« rief sie.

Herr Leitschuh sah sie belustigt an. »Aber der Staat ist doch nicht sentimental!« lächelte er.

»Wir etwa?« fragte sie empört.

»Hahaha!« lachte der Jettatore.

 

Herr Leitschuh, ziemlich derb zum Rückzug aufgefordert, ging ins Sekretariat und bewunderte insgeheim die Herrin. Gescheit und munter, dachte er, sie wird's schon schaffen, sie ist kräftig. – Fräulein Nebel sah ihn fragend an. »Röslein«, meinte er, »mir scheint, du bist im Haus die einzige Sentimentale.« – Was das bedeute, fragte sie, leicht beleidigt. Der Prokurist lachte abgründig, ging an ihr vorüber, stockte aber schon, fingerknipsend, so als habe er etwas vergessen, und sprach dann über die Schulter: »Hör mal, Nebel, wenn die Europa-Bank anruft, verbinde gleich mit der Queen – die ist in guter Form.« Dann öffnete er die Tür zum vollbesetzten Wartezimmer und rief mit strengem Gesicht: »Nummer eins!« Damit war die Sprechstunde eröffnet, eine bewährte Einrichtung des »Volkskredits«, des sozialen Unternehmens, das auf die unmittelbare Verbindung der Kundschaft mit der Geschäftsleitung bedacht war. Hier konnte jeder, ob er Klient war oder es erst werden wollte, seine Fragen, Wünsche und Sorgen bei der obersten Stelle anbringen, bei der mächtigen Frau Vio selber, der »Queen«, wie die Angestellten, vom Prokurist bis zum Bankdiener, sie nannten, der guten Fee, die Dialekt sprach und Freibier gab, einer gemütlichen und demokratischen Herrscherin also; und man wird, wie es im Anschlag des Schalterraums zu lesen ist und jeder auch weiß, unter vier Augen mit ihr sprechen können, ohne Anmeldung und peinliche Vorprüfung durch Angestellte: es brauchte nur einer Nummer, einer roten diesmal, und gewiß auch der Geduld, die nun einmal von den Belagerern des gelben Hauses gefordert werden mußte. Denn der Durstigen an der »Goldquelle« war es natürlicherweise die Menge.

Der Inhaber der sehr begehrten Nummer 1 war ein kleiner, fülliger und dennoch beweglicher Herr, der in der Rechten das rote Nummernschild und in der Linken einen grauen steifen Hut und ein Paar augenscheinlich neue gelbe Lederhandschuhe trug. Der Prokurist mit den tiefliegenden Augen sah dem ersten Besucher, der sich von den gewohnten bäurischen Sprechstundengästen auffällig unterschied, wirkungssicher in das fröhliche Gesicht, das von dicken schwarzen Bartkoteletten zusammengehalten war. »Nanu«, fragte er unfreundlich und auch gegen das Reglement, »was wollen Sie denn hier?«

Nummer 1 hob heiter die Rechte mit dem roten Pappstückchen, und seine Antwort überraschte sowohl als Hinweis auf die Vorschriften wie auch als Zeichen bemerkenswerter Gleichgültigkeit gegen den bösen Blick – er sagte nämlich nur: »Das möchten S' wissen!« und zwinkerte bereits das hübsche Fräulein Nebel an, welches schon mit dem vorgeschriebenen Lächeln bereit stand, den Ersten ins Privatbüro zu führen. »Hiebsch!« bemerkte der kleine Herr anerkennend und machte dadurch zur Gewißheit, daß er kein Einheimischer war, sondern aus dem östlichen Nachbarstaat stammte.

Herr Leitschuh war verärgert, nicht nur wegen der persönlichen Abfuhr, sondern wegen der zugleich dreisten und beiläufigen Huldigung für Fräulein Nebel, der ihm nahestehenden, dem Fremden keineswegs zur Kritik stehenden Dame. Doch Herr Leitschuh, dem bereits ein administrativer Fehler nachgewiesen war, hatte nicht einmal aus geschäftlichen, geschweige denn also aus privaten Gründen das Recht, sich dem Eintritt des suspekten Mannes zu widersetzen. Andererseits forderten seine Stellung, sein Ruf als böser Geist des Hauses und auch seine streitsüchtige Natur zur Abwehr heraus: »Hören Sie mal, Herr«, knarrte er verächtlich, »machen Sie mir nur nichts vor: daß Sie Nummer eins haben, geht jedenfalls nicht mit rechten Dingen zu …«

Der kleine Herr hob aufreizend die rote Nummer und antwortete über die Schulter: »Bitt' schön, Herr Direktor, ganz mit dem rechten – mit fünf Mark!« Er sprach es aus »fienf Mork«, rief zweimal: »Zugehts! Zugehts!« und sagte wieder: »Hiebsch!«, als ihm die pflichtig lächelnde Nebel seine Nummer abnahm. Dann folgte er ihr ins Privatbüro.

Als Fräulein Nebel zurückkam, sprach Herr Leitschuh mit verschränkten Armen und einem schwarzen Blick zur Milchglaswand hin: »Schlimmer noch als Ratten, die das Schiff verlassen – diese Bestien steigen dann erst ein …« Er liebte dunkle und ausgefallene Sprüche.

Fräulein Nebel verstand sie selten und sagte leicht beleidigt: »Sie haben ja an jedem was auszusetzen.«

 

Frau Vio und ihr Sprechstunden-Erster betrachteten sich überrascht. Bei der Queen waren es ähnliche Empfindungen, wie sie ihr Prokurist angesichts der Nummer 1 ausgesprochen hatte; doch sie verriet sie nicht mit Worten, sondern durch die Augen, die ganz grün und schmal vor Abneigung und Mißtrauen wurden. Franziska war mißtrauisch gegen den Tag, der unter der Hülle des Täglichen mit bösen Überraschungen begonnen hatte oder, wenn sie ganz ehrlich war, nicht mit Überraschungen, sondern mit bösen Zeichen; und jetzt präsentierte er ein sehr ungewohntes und dennoch unheimlich beziehungsreiches Exemplar des Unangenehmen – sie spürte es sofort und bat den Besucher nicht, Platz zu nehmen. Des kleinen Mannes Äuglein hingegen wurden rund und vordringlich; denn sie hatten das Bild der schönen Frau im Treppenhaus übersehen.

Frau Vio zündete sich eine Zigarette an und klappte den schmalen Silberkasten kräftig zu: der Unangenehme sollte nur merken, daß ihm keine Zigarette angeboten wird.

»Sie wünschen?« fragte sie.

»Amann«, sagte der kleine Herr und hob dabei den grauen Melonenhut vor die Brust, »Direktor Amann von der ›Oefag‹.«

»Mir unbekannt«, bemerkte sie streng.

»Kann schon sein«, gab Herr Amann freundlich zu und wedelte leicht mit dem Hut, »ist auch ganz egal, gnä' Frau. ›Oefag‹ heißt: Osteuropäische Finanzierungsaktiengesellschaft – ist ganz egal, und wenn Sie wollen, bin ich auch reiner Privatmann, gnä' Frau …« Er blies die Hängebäckchen auf und hielt sich nicht mehr, er sagte leise und deutlich: »Hiebsch!«

Aber Frau Vio überhörte das Kompliment oder hielt das Wort für einen sprachlichen Trick, für eine Räusperform des unangenehmen Mannes. Sie drehte nervös die Zigarette zwischen den Fingern:

»Also was wünschen Sie?«

Herr Amann sah bescheiden ins Futter seines grauen Hutes: »Um beiläufig zur Sache zu kommen: gnä' Frau möchte diese oder jene Finanzierung interessieren, net wohr …« Er sah lächelnd auf und hielt den Kopf schief.

»Unter Umständen«, antwortete sie kalt. – Vielleicht war der Kerl nur ein ganz gewöhnlicher Agent, wie sie alle Tage kommen, vielleicht der Spitzel einer Auskunftei: man sagt also nicht gleich nein.

»Unter fünfzehn- bis zwanzigprozentigen Umständen«, kicherte Herr Amann und wiegte sich vergnügt auf den Fußballen, »wenn ich beiläufig Umstände gleich Gewinnchancen setzen darf – net wohr?«

Der Mann war widerlich, Franziska blinzelte mit angehobenen Brauen durch die langen, steifgeschwärzten Wimpern, sie sah unnahbar aus. »Also bitte, um was handelt es sich?«

Herr Amann hob sich auf die Fußspitzen, verbarg die Hände mit Hut und Handschuhen hinter dem Rücken und flüsterte heiter-geheimnisvoll: »Es handelt sich zum Beispiel um fünfzig Mille für eine sehr hübsche und sinnreiche – gnä' Frau, für eine garantiert zwanzigprozentige Gewinnchance – also gnä' Frau, für eine neue – für eine ganz raffinierte Autofinanzierung …«

»Um Gottes willen!« unterbrach Frau Vio und stieß mit den Worten verächtlich den Zigarettenrauch aus. »Ich glaube, wir können unser Gespräch abkürzen. Es warten noch viele.«

»Erledigt! Erledigt!« wisperte fröhlich der kleine Herr, wippte von den Fußspitzen auf die Fersen zurück und wurde noch kleiner, »küß' die Hand, gnä' Frau, und Schwamm drüber – aber ein Siedlungsprojekterl hätt' ich, Gnädigste …«

Frau Vio winkte ab. »Ohne Interesse, Herr … Herr Direktor, und ich glaube beinahe, wir beide werden nicht zusammenkommen …« Das Tischtelefon schnurrte. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich, die Mulden unter den Backenknochen wurden plötzlich tiefer, so als saugte sie das Wangenfleisch ein wenig in die Mundhöhle, sie sah mit einemmal streng und mager aus. »Euro …?« fragte sie und biß gleichsam das Wort ab, um ganz schnell und leise hinzuzusetzen: »Nicht verbinden!« Aber dann zeigte sie einen Augenblick die schönen starken Zähne, so als verbeiße sie sich einen Fluch (sie konnte fluchen wie ein Mann, das Haus wußte es vom Prokuristen bis zum Bankdiener); sie sagte durch die Zähne: »Soo – ich spreche schon mit der Euro … – Einen Augenblick!« Sie hob den Hörer vom Ohr, verdeckte das Mundstück mit der Hand und sagte zu Herrn Amann: »Wir haben wohl nichts mehr zu sprechen, schätze ich.«

Herr Amann senkte das weiche Kinn auf die Brust, schlug die Augen nieder und lächelte zugleich demütig und vielversprechend: »Beiläufig ja, gnä' Frau, wenn's verstattet …«

»Ach was!« unterbrach sie rücksichtslos und wies mit dem Telefonhörer zur Tür, »ich habe jetzt keine Zeit mehr! Adieu!«

Herr Amann hob die Arme seitlich an und verbeugte sich auf etwas altmodische Weise: es war dennoch eine mehr höflich aufschiebende, als abschließende Geste. Aber Franziska beachtete den Abtretenden nicht mehr, sie schien ihn vergessen zu haben, kaum daß er im Vorraum verschwand; sie drückte nicht einmal auf den Klingelknopf, der dem Sekretariat das Ende einer Unterredung signalisierte – sie drückte die Zigarette in der Aschenschale aus und einen Augenblick drückte sie auch die Augen zusammen, wie um sich zu sammeln. Dann sprach sie in den Apparat. Während sie sprach und während sie zuhörte, drückte sie die tote Zigarette aus, immerzu.

»Hallo – ja, ich weiß, die Hauptkasse – hier Vio – ja, persönlich. Was sagen Sie? Der avisierte Betrag ist noch nicht eingetroffen? – Ach – das ist ja unglaublich. Wie? Ausgeschlossen, ich habe persönlich den Auftrag erteilt – ja ja – hundertfünfundsiebzig Mille – stimmt doch – ja, hören Sie – das begreif ich nicht – ich werde der Sache sofort nachgehn – ja selbstverständlich – das ist mir furchtbar peinlich. – Wissen Sie, mein Zahlungsauftrag war allerdings in chiffriertem Telegramm aufgegeben, ich glaube ABC-Code – vermutlich irgendeine Unklarheit in der Chiffrierung – ich lasse jedenfalls sofort nachdrahten – aber natürlich – ja morgen nachmittag … sagen wir spätestens übermorgen – bestimmt – gut – wie? Zwei Tage Verzugszinsen – gut – wieviel? – acht Prozent – schön! ja ja ja – Adieu!«

Sie legte sachte den Hörer auf die Gabel, ganz gegen ihre Gewohnheit, und sah den schwarzen hohen Telefonkasten an, mit sehr erschreckten Augen, so als raune er noch weiter. Sie fühlte mit zwei Fingern wieder die Falten auf der Stirn ab und saß krumm. Sie hatte doch einen so geraden Rücken, daß er der Schneiderin, bestem Atelier der Residenz, die einzige Schwierigkeit bei den Anproben machte.

Plötzlich hob sie den Kopf und saß kerzengerade, wie immer – aber ihre Stirn war rot, das geschah selten. Herr Amann stand in der offenen Tür zum Vorraum und wedelte mit dem grauen Hut, bescheiden lächelnd. »Küss' die Hand, gnä' Frau«, sagte er fröhlich und trat näher, »das Telefongespräch ist ja nun zu End, gelt? und ich stör' wohl net mehr …«

»Machen Sie, daß Sie fortkommen!« befahl sie, doch nicht laut, sondern mit einemmal heiser. Sie hustete sich die Kehle frei – oder war es klüger, ihn nicht hinauszuwerfen?

Herr Amann schüttelte betrübt den Kopf und trat an den Schreibtisch heran. »Warten S' doch erst ab, Gnädigste!« ermahnte er bieder, »jetzt kommt's ja erst – jetzt bitt' schön ein bisserl Freundlichkeit! Ich mein's gut – ich mein's sogar vielleicht sehr gut mit Ihnen, gnä' Frau …«

Es mochte sein, daß jetzt ein winziges Lächeln die roten Lippen der Queen anrührte und daß die Wangengruben fast schon zu Grübchen wurden. Herrn Amann genügte es, um außer sich zu geraten und es auf seine Weise zu formulieren: »Gnä' Frau ist beiläufig sehr hübsch, särr hiebsch!«

Auch der Anflug des Lächelns verschwand, ihr Kopf hob sich mit einem Ruck, ihr Kinn war jetzt sehr ausgeprägt, ein fast zu kräftiges Kinn für eine Frau, und ihre Hand langte zum Klingelknopf auf der Tischplatte. Herr Amann hob schnell die Hände mit Hut und Handschuh. »Gut, erledigt, davon kein Wort mehr!« entschied er freundlich, und dann schlug er die Augen nieder und betrachtete das Hutfutter; »sehen S', gnä' Frau, die G'schäfterln da, die ich vorschlug, gell, die waren alle Vorwand, damit Sie's nur wissen – und wenn's sich realisiert hätt, desto besser. Aber beiläufig der Zweck meines Kommens: also, gnä' Frau, Vertrauen gegen Vertrauen …«

»Wieso?« fragte die Queen unvermittelt, »ich habe gar kein Vertrauen zu Ihnen.«

»Also dann Mensch zu Mensch«, gab er sich zufrieden, hob den grauen Hut ans Herz und sah sie nachdrücklich an, »dagegen ist nichts einzuwenden, Gnädigste, also net wahr, Mensch zu Mensch, mein Herz ist … na ja, erledigt – aber auch meine Augen sind gut, und ich hab einen Riecher, und ich weiß – na ja, ich weiß dies und das …«

»Bitte, was wissen Sie?« fragte Frau Vio hochmütig.

»Ist ja ganz egal«, versicherte Herr Amann herzlich, »tut auch nichts zur Sache, und wenn S' wollen, weiß ich gar nichts, rein goarnix. Aber, net wohr, man kann nicht wissen, was kommt, man kann's net wissen, geben S' zu, gnä' Frau! und so bin ich beiläufig hier, net wahr, vor Ihnen, gnä' Frau, und wenn Sie wollen, wenn S' nur wollen, bin ich wieder da – zu jeder Stund …«

Er unterbrach sich. Frau Vio schüttelte den Kopf, in einem fort, und sah ihn nicht einmal an. Sie sagte nichts. Doch Herr Amann sprach jetzt schon sehr schnell, mit vorgestrecktem Kopf und unruhigen Augen, so als habe er plötzlich Angst, es liefe seine Redezeit ab. »Zu jeder Stund, und Sie geben mir, ich sag's Ihnen wie ein Freund, Sie geben mir zu treuen Händen, zu treuen Händen – also Sie geben mir Werte, net wahr, Valuta, Aktien …«

»Raus!« sagte Frau Vio; aber sie sagte es nicht sehr laut, und sie war jetzt recht blaß.

 

»Wertpapiere!« hetzte sich Herr Amann, »was halt meinen, und die haben S' am folgenden Tag in Zürich oder Amsterdam, net wahr, oder Paris, und wenn's, Gott behüte, Not am Mann ist, man kann's ja nicht wissen, dann weiß keiner nichts, gnä' Frau, nur Sie und ich wissen's, gell, und mit fünf Prozent bin ich zufrieden …«

»Raus!« rief die Queen und drückte auf den Knopf.

»Ka Aufregung net!« sagte Herr Amann mit Würde und verbeugte sich, »es ist ja auch nunmehr alles gesagt – hab die Ehr.« Er setzte sich schon im Vorraum den steifen Hut auf, sagte zu Fräulein Nebel, die ihn lächelnd in Empfang nahm: »Hiebsch!« und warf im Vorbeigehen auf Herrn Leitschuhs Schreibtisch seine Visitenkarte:

»Notieren S' die Adresse, vergessen S' net.«

Herr Leitschuh, vor einem Stoß gelber und grüner Kassenzettel, schickte ihm einen bösen Blick nach. –

 

Ein Bauer trat ein, gerade als Frau Vio, nach den Sekunden starren Nachdenkens, die Kurbel des Tischtelefons drehen wollte. Sie zog die Hand zurück. Der schwere Mann schob sich scheu durch die Tür und blieb hart an der Wand stehn. Er trug seinen schwarzen Sonntagsanzug, hatte ein rotgegerbtes und zerklüftetes Gesicht und, bis tief in die Stirn, einen kurzen dichten Haarpelz, der merkwürdig mißfarbig war: es konnte grau oder blond sein. In der Pranke, die gleicherweise rot, rissig und haarig war, trug er ein großes dickes rotes Kuvert, den schwarzen Filzhut zerdrückte er erbarmungslos unter dem angepreßten Arm. Nun, er war eine Erscheinung, die zur Sprechstunde des »Volkskredits« gehörte, eine alltägliche Figur, also durchaus im Gegensatz zur fatalen Nummer 1. Aber Frau Vio setzte doch nicht das gemütlich derbe Gesicht auf, das volkstümliche Gesicht, möchte man beinahe sagen, das breite, backenknochige, lustige und bauernschlaue Gesicht, mit dem sie die Leute vom Land zu empfangen und zu fangen pflegte. Sie gab sich heute keine Mühe. »Kommen Sie doch näher«, sagte sie auf seinen dumpfen Gruß, und sie sprach nicht einmal Dialekt. Würde sie ihn, nach ihrer Gewohnheit, mundartlich angesprochen und geduzt und vielleicht noch, mit ihren blitzenden Zähnen, versichert haben, daß sie ihn nicht fresse, dann wäre das Eis der bäurischen Scheu sofort gebrochen – wer wußte es besser als sie? So aber blieb der Mann an der Wand festgefroren, bellte nochmals sein Grüßgott und fügte schließlich hinzu, mit aufgerauhter, stockender und dennoch hallender Stimme, daß er der Schäkerer Sepp sei.

»Schön«, sagte Frau Vio und ließ ihn an der Wand stehn, »Sie wünschen?«

»Ich möcht gern«, sprach der Mann schwer und bewegte den Umschlag, »a Geld eilegn.«

– Warum er dann nicht an die betreffenden Schalter gehe? Warum er dann in die Sprechstunde komme? Es war eine strenge Dame. Schäkerer rückte die Schultern hoch und drehte mit straffem Kinn den Hals hin und her, als beengte ihn ein hoher und enger Kragen; aber sein Kragen war sehr niedrig und über die Maßen weit, mit Rücksicht auf den Kropf. »Ja mein, Frau, i möcht halt gern mit Ihna selbst reden …«

»Also gut«, meinte die Dame, mit den Fingern einen leisen Takt auf die Tischplatte schlagend, »dann sprechen Sie nur.«

Der Bauer ging einen Schritt vor und bewegte das Kuvert. »Ja – do hätt' i mei Geld drin – vom ganzen Hof, den i verkauft hab …« Er lächelte hilflos. »Und dös möcht i halt recht gut anleg'n …« Er ging noch einen Schritt vor.

»Ja, Mann«, sagte sie und zog die Augenbrauen hoch, »Sie kennen doch wohl die Kapitalverzinsung des ›Volkskredits‹ – die steht ja überall im Banklokal angeschlagen: acht Prozent monatlich, der Zins von zwei Monaten wird sofort bei Einlage ausgezahlt und über die Einlagesumme unter Hinzuziehung eines weiteren einmonatlichen Zinses ein Dreimonatswechsel ausgestellt.«

»Ja, dies schon«, bellte Schäkerer und drehte den Hals, »desweg'n komm i ja zu Ihna selbst …« Er holte Atem und jammerte dröhnend: »Ich hab' mein' Hof viel zu billig hergeb'n, Jessas, Jessas …«

»Deshalb kommen S' zu mir?« fragte sie ungerührt. »Dafür kann ich nichts.«

»Ja mei«, sagte er dumpf und kam wieder einen Schritt näher, »i möcht halt fragen, ob ich nicht zehn Prozent haben könnt …«

»Nein«, entgegnete sie sofort, »das ist gegen das Geschäftsprinzip und wäre eine Benachteiligung meiner anderen Kunden. Aber warum haben Sie denn überhaupt verkauft?«

»Warum? Warum?« wiederholte er gekränkt und ratlos, »halt um's Ihna zu geb'n!«

»Mir – so …«, meinte sie und schien an etwas anderes zu denken; »wieviel sind's denn?«

Schäkerer wog den dicken Umschlag in der flachen Hand und nickte heftig. »Fünfundsiebzigtausend!« jammerte er hallend, »ja, das ist alles, für den schönen Hof und das schöne Vieh …«

»Fünfundsiebzigtausend«, sprach Frau Vio langsam, »das ist nicht wenig …« Sie sah ihm ins gegerbte und gekerbte Gesicht und fügte unerwartet hinzu: »Geben Sie lieber das Geld auf eine Großbank.«

»Waas?« fragte Schäkerer tief erschrocken, kam ganz dicht an den Schreibtisch und schob wie verstohlen den Umschlag auf die Platte, »was meinen S'«, fragte er nochmals, schon sehr aufgebracht und der Dame doch keine Zeit lassend, ihre Antwort zu wiederholen, »dies glauben S' ja selber net, hoff' ich!« rief er böse, ganz als suche er Streit. »Nein, nein! Nur Ihna geb ich's! Nur Ihnen!« quälte er sich zur letzten Deutlichkeit das Schriftwort ab. »Verstehen S' mich?« rief er in Zorn und Angst, »nur Ihnen, lieber um acht Prozent, aber Ihnen! Sonst hätt' ich ja gar nicht verkauft, verstehen S', den schön' Hof …«

»Versteh' schon«, sagte Frau Vio und zeigte für einen Augenblick die Blitzzähne, »vierundzwanzig Prozent in drei Monaten sind angenehmer, als in drei Jahren, – versteh' ausgezeichnet, mein Lieber! Aber ich gebe Ihnen ja gar keine Sicherheiten – na?«

Schäkerer beugte sich über den Tisch und preßte die Pranke auf das Geldkuvert, als wollte er es ins Holz drücken. »Braucht's nicht«, raunte er, mit den Augen zwinkernd und nach dem Früh-Freibier der »Goldquelle« riechend, »Sie sind mir sicher genug, Frau! Mein Gott, die ganzen Bauern kennen Ihnen, s' ganze Gebiet kennt Ihnen – wär man überall so sicher …«

Frau Vio hatte die Ellbogen aufgestützt und sah ihn an, das Kinn auf den verschränkten Händen, Grübchen unter den breiten Backenknochen. »Woher bist denn, Sepp?«

»Aus Unterholzhausen halt.«

»Bezirksamt?«

»Imbach.«

»Bist vielleicht gar der Bürgermeister?«

»Das war ich, das ist jetzt der Toni, der wo meine Marie geheiratet hat.«

»Na, und der Toni hat dich direkt in die Stadt zum ›Volkskredit‹ fahren lassen, Sepp, hat nichts dagegen gehabt, sozusagen als Bürgermeister?«

»Der Toni?« lachte Schäkerer, »der hat doch selber bei Ihnen eingelegt!«

»Alter Spitzbub«, lächelte Frau Vio, »wenn es aber das Bezirksamt nicht gern sieht, daß ich dein Geld anlege?«

»Warum denn grad mein's nicht?« fragte der Mann leise und heiser, eher doch böse als jammernd, »hab ein krankes Weib daheim, zehn Jahr schon, und der eine Bub hat's auf der Lung', und i bin ein alter Mann – und jetzt, wo ich weg'n Ihnen verkauft hab', nur wegen Ihnen, und noch dazu zu billig …«

»Hören Sie auf!« befahl Frau Vio, nahm einen kleinen Notizblock und schrieb mit Rotstift ein »V« auf den Zettel.

Schäkerer nahm den Filzhut aus der Armklammer, so als erinnerte er sich gerade in diesem Augenblick an ihn, klopfte ihn auf, bog ihn in Form und erboste sich langsam: »Ja was wär denn dies! Was geht denn dies das Bezirksamt an! Ich kann doch mit meinem Geld machen, was ich will, mein i doch schon! Das wär ja noch schöner! Das geht das Bezirksamt einen Dreck an!«

»Hören Sie auf!« unterbrach Frau Vio, »haben Sie eine Schalternummer?«

»Nein!«

»Dann nehmen Sie den Zettel, gehen zum Schalter drei und zeigen den Zettel vor: dann kommen Sie außer der Reihe dran.«

Sie legte den Zettel mit dem roten »V« auf den roten Umschlag mit dem Geld und drückte auf den Klingelknopf.

 

Nummer drei war ein altes dürres Frauchen mit winzigem Kapotthütchen auf dem grauen Scheitel, und sie sprach unaufhörlich. Wenn sie Atem holen mußte, tat sie es mit einem kleinen schluchzenden oder doch wehleidigen Laut. Frau Vio schrieb Zahlen auf den Notizblock, nickte dabei freundlich und schien zugleich rechnen und zuhören zu können. Sie bewies jetzt auch ihre Aufmerksamkeit, indem sie sagte, rechnend und ohne aufzusehen: »Also Sie haben einen Sohn, der ist Chauffeur, Frau Donner.«

»Der Bruno, liebes junges Fräuleinchen, der Bruno!«

»Und der Bruno braucht einen Zivilanzug …«

»Zu Weihnachten, Fräuleinchen, zu Weihnachten!«

»Aber wir haben ja erst März, Frau Donner.«

»Nun eben, ist ja grad recht – ach Gott, wie hübsch Sie sind, Fräuleinchen …«

Frau Vio nickte freundlich und beschäftigt, und jetzt hob sie den Kopf, die Brauen anhebend, und sah an ihrem Gast vorbei zur Tür.

Der Prokurist trat ein, ohne zu klopfen, wie es sein Recht war. Frau Donner redete laut weiter, mit kleinen Seufzerfermaten, und nestelte an ihrem schwarzen Pompadour. Herr Leitschuh kam mit einem Kassenzettel, und von seinen Mundwinkeln schnitten sich zwei tiefe Falten wie zwei kleine Sicheln abwärts zum Kinn; das war seine verteufelte Art zu schmunzeln. »Einzahlung fünfundsiebzig Mille«, flüsterte er diskret.

»Weiß ich«, sagte Frau Vio, »Einzahlung von Nummer zwei.«

»Und die Leute sagen doch alle …«, redete Frau Donner im Hintergrund und zog den Atem seufzend ein.

»Was sagen alle Leute«, erkundigte sich die Queen. Der Prokurist zog die rechte Augenbraue hoch, erwartungsvoll.

»Daß Sie's machen können …«, antwortete Frau Donner schüchtern.

»Was denn?«

»Hier sind fünfzig Mark«, hauchte Frau Donner und knisterte mit einem Geldschein.

»Du lieber Gott!« meinte Leitschuh kopfschüttelnd, »was für eine Einlegerin …«

Frau Vio fragte leise: »Wie hoch waren gestern die Einlagen, Leitschuh?«

»Zirka fünfundfünfzig Mille.«

»Na also«, meinte Franziska und ließ die Zähne blitzen. Der Prokurist hob fragend die Schultern. »Eine durchaus gute Durchschnittsziffer! Und heute beweist darüber hinaus die einzige Nummer zwei, daß die Landbevölkerung noch vollkommen unbeeinflußt ist.«

»Wie lange?« fragte Herr Leitschuh mit schwarzem Blick.

»Ach was!« wehrte die Queen ab, »die Leute glauben an mich … Na ja, nehmen Sie heute den ganzen Überschuß für Europa-Bank …«

»Sie können's machen, liebes schönes Fräulein!« beharrte Frau Donner.

»Was denn, Herrgott!« fuhr Franziska auf.

»Daß die fünfzig Mark bis Weihnachten, liebes gutes Fräulein, ja? ach daß sie hundertfünfzig Mark sind … oder hundertfünfundzwanzig …«

»Haha!« lachte Herr Leitschuh.

Franziska lächelte, legte den mit Ziffern bedeckten Blockzettel um, schrieb mit Rotstift die Zahl 100 und darunter das »V«, riß das Blatt ab und sagte: »Hier, Frau Donner, damit gehen Sie zum Schalter zehn, dort erhalten Sie weitere Auskunft.«

»Na na«, brummte der Prokurist, »das bekannte gute Herz …«

»Ja aber …, ja aber …«, stotterte Frau Donner und schluchzte beim Atemholen.

»Schalter zehn! Gruß an Bruno!« rief die Queen vergnügt.

Herr Leitschuh drehte sich in der Tür um, durch die er finster und unerbittlich die Alte abgedrängt hatte, zog eine Visitenkarte aus der Rocktasche und meinte leichthin: »Was ich noch schnell sagen wollte – da hat Nummer eins seine Adresse hinterlassen: auf Ihren Wunsch?«

»Ach was! Der Nächste!« rief Frau Vio. Das war keine rechte Antwort. Herr Leitschuh ging hinaus, abgefeimt schmunzelnd, und steckte die Visitenkarte in seine große dicke Brieftasche.

Es erschien aber nicht die Nummer 4, sondern Fräulein Nebel, lächelte hübsch und sagte: »Die Wohnung ruft an, Frau Adelina ist da …«

»Jetzt?« fragte Frau Vio und machte kleine Augen. Es sei dringend, sagte Fräulein Nebel und bewegte zierlich die Schultern.


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