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Siebentes Kapitel

Es gibt eine strömende Stille, die weich und gut durch die Hauswände geht und kommt, im Atem der Nacht. Und es gibt eine Stille, die gefangen und starr zwischen den Mauern steht, von der Nacht draußen finster bewacht. Im Hause Bonde herrschte die harte Stille. Adelina las im Bett, was sie geschrieben hatte.

»Lieber Matthias, die Angelegenheit verhält sich wie folgt. Frau Vio war mit dem Operettentenor René Spitzeder von unserem Stadttheater verheiratet. Du wirst Dich an ihn erinnern; denn Du hattest mein Interesse für ihn bemerkt. Ich zum mindesten weiß sehr gut, daß Du mich in der Loge zu beobachten pflegtest, wenn Herr Spitzeder auf der Bühne stand. Ich gestehe Dir, daß mir Deine Beobachtung gleichgültig war, ich verstellte mich nicht und hätte Dir auch die Wahrheit gesagt, wenn Du mich gefragt hättest. Jedenfalls hast Du das Ganze für eine Mädchenschwärmerei gehalten, was es wohl auch war. Allerdings war es eine ziemlich weitgehende Schwärmerei; denn ich ging schließlich zu ihm in die Wohnung. Dort fand ich nicht ihn, sondern seine Frau, die mich vor ihm warnte. Er ist ein schlechter Mensch. Franziska aber, die sich bald darauf von ihm scheiden ließ, ist kein schlechter Mensch, auch kein guter, sie kann beides sein, sie ist verwirrend. Damals begann unsere Freundschaft, ich glaube, daß es Freundschaft war, ich bin dessen nicht sicher, auch heute nicht. Ich habe ein Gefühl für sie, das alles mögliche umfaßt, auch gelegentlichen Haß. Was sie für mich empfindet, weiß ich nicht. Als sie mir riet, Dich zu heiraten, glaubte ich, daß sie mich loshaben wollte, möglicherweise sogar in meinem eigenen Interesse. Keinesfalls tat sie es, weil sie aus der Verbindung einen Nutzen für sich sah, wie sie ihn heute daraus zu ziehen versucht; denn damals hatte sie noch nicht ihr Geschäft, und ich war ihr noch nicht wegen des Herrn Spitzeder, den ich ganz aus dem Auge verloren hatte, verpflichtet. Ich sah sie nach unserer Hochzeit ziemlich lange Zeit nicht mehr, ich hatte auch keine Sehnsucht nach ihr, was mich fast ein wenig überraschte; denn vorher trieb es mich zu ihr, manchmal gegen meinen Willen. Ich möchte gerade an dieser Zeitstelle, wo ich unter glücklicheren persönlichen Umständen vielleicht die volle Freiheit von Franziska und ihrem Lebenskreis erlangt hätte, einfügen, daß ich mich nur an die Darstellung der Angelegenheit mit ihr halte und die Angelegenheit mit Dir, Matthias, nicht berühre, obgleich sie mit der anderen auf bestimmte Weise zusammenhängt, nämlich durch die Mängel unserer Ehe, genau gesagt: durch den Mangel an Liebe. Dies soll keine Entschuldigung für mich sein, zumal ich ja dann alles andere als einen Reichtum an Liebe erfuhr. Ich traf Herrn Spitzeder ungefähr ein Jahr nach unserer Hochzeit in der Stadt, das heißt ich sah ihn, als ich bei Gallmayr Delikatessen einkaufte, auf der Straße stehen und die Auslage mit Hummern, Krebsen, Gänseleber- und Kaviartöpfen und üppigen Geschenkkörben anstarren. Er sah abgerissen aus. Ich wußte noch von Franziska, daß er wegen übler Geschichten mit Minderjährigen entlassen worden war und gerade noch am Staatsanwalt vorbei kam. Franziska bemerkte dabei, daß sie sein Glück mitgenommen habe; sie sagte es mit aller Selbstverständlichkeit, und es klang grausam. Franziska kann grausam sein, es ist fraglos, auch wenn sie nicht haßt – und den Mann, der ihr gewiß viel zuleide tat, haßte sie überdies. Ich dachte an ihren Ausspruch, als ich ihn hinter der Ladenscheibe auf der Straße sah. Merkwürdigerweise fühlte ich einen Haß gegen sie und ihren Anspruch auf das Glück der anderen – vielleicht hatte sie auch mein Glück mitgenommen. Ich nahm ihren Satz mit einemmal furchtbar ernst, jetzt erst, in diesem Augenblick; denn als sie ihn aussprach wie eine hoffärtige Redensart, hatte er mich nicht sonderlich berührt. Es war also nicht einmal Mitleid, das mich jetzt trieb, sondern die ganz sinnlose Lust, ihr zuwider zu handeln und Versäumtes nachzuholen. Vielleicht waren die Motive noch viel unklarer, ich weiß es nicht. Ich verließ den Laden und ging an ihm vorbei zum Wagen. Herr Spitzeder bemerkte mich nicht, aber er sah dem Ladenmädchen nach, das meine Pakete trug. Ob sein Blick dem hübschen Geschöpf galt oder den verpackten Delikatessen, blieb zweifelhaft – mir war es peinlich; aber leider hielt es mich nicht von meinem Vorhaben ab. Ich befahl dem Kutscher, ohne mich zum Opernplatz zu fahren und dort auf mich zu warten. Ich selber wartete, bis Herr Spitzeder die Besichtigung der Gallmayrschen Auslagen beendet hatte und weitergegangen war. Dann sprach ich ihn an. Er erkannte mich sofort und machte im Nu die gleichen Strahlaugen wie auf der Bühne. Und mit diesen Augen bettelte er mich um Geld an, auf der Stelle. Es war eine solche Schamlosigkeit, daß ich dafür keine andere Erklärung hatte als seine äußerste Not. Ich wußte, daß ich nur ein Fünfmarkstück und einen Hundertmarkschein bei mir hatte; fünf Mark schienen mir zu wenig, und hundert Mark konnte ich nicht geben, weil ich eine solche Ausgabe im Haushaltsbuch nicht zu motivieren vermochte. Ich sagte ihm, daß ich nur fünf Mark bei mir hätte; er war durchaus bereit, sie zu nehmen, fügte aber hinzu, daß er auf das dringlichste fünfzig Mark benötigte, um die rückständige Miete von zwei Monaten für sein Zimmer zahlen zu können. Ich gab ihm möglichst unauffällig das Geldstück, er nahm es und drückte nicht einmal meine Hand. Ich bestellte ihn für den nächsten Tag an den Dianatempel im Stadtpark und gab ihm die fünfzig Mark für die Miete, die ich von meinem Taschengeld nahm. Ich habe wie Du ja weißt, wöchentlich hundert Mark Taschengeld und beschloß, sie ihm regelmäßig zu geben; mit vierhundert Mark monatlich mußte er leben können. Aber ich sagte es ihm noch nicht. Wir nahmen eine Droschke, weil ich nicht mit ihm gesehen werden wollte. Er nannte mich seinen rettenden Engel; sonst nannte er mich ›Frau Gräfin‹ und schien über meine neue Stellung Bescheid zu wissen. Er sagte mir auch, daß er sich aus einer Zeitschrift mein Bild im Hochzeitskleid aufbewahrt habe. Ich hielt es für eine Lüge, weil ja nur das etwas komische Bild von uns beiden beim Verlassen der Kirche existierte, das als heimliche Veranstaltung meiner Mutter aufgenommen und in ›Zeit im Bild‹ unter der Rubrik ›Aus der Gesellschaft‹ veröffentlicht wurde. Aber es war keine Lüge. Die Droschke hielt vor seiner Wohnung, er gestand mit strahlenden Augen, daß er dem Kutscher heimlich seine Adresse gegeben habe; denn jetzt könne er mir ja eine Tasse Tee anbieten, jetzt habe er bei seiner Wirtin wieder Kredit. In seinem Zimmer hing tatsächlich unser Hochzeitsfoto aus ›Zeit im Bild‹, den erklärenden Text darunter, mit Reißnägeln an der Wand befestigt. Ich fragte ihn, wie lange es denn schon an der Wand hänge. Er sagte: seit gestern, und lachte. Ich lachte nicht, unser Bild störte mich furchtbar, ich sagte es ihm. Er nahm eine Schere und schnitt Dich ab; aber Dein Arm blieb in meinem hängen. Ich riß das Blatt von der Wand, ich zerriß es. Er lachte wieder. Ich war gegen sein Lachen machtlos.«

Bis hierher war sie mit dem Brief gekommen – bis hierher ging es ganz leicht, jetzt wurde es schwer. Sie ließ sich in die Kissen zurücksinken und starrte zur Decke. Sie öffnete ein wenig den Mund, die harte Stille lag ihr plötzlich auf der Brust, sie atmete laut. Die Wahrheit sagen! hatte ihr Franziska am Telefon geraten, »die Wahrheit sagen, wenn du es kannst«. Was ist sie denn für eine Ratgeberin, die uns alle verdirbt? Die Wahrheit sagen – hier steht sie, und nun geht es nicht weiter; denn die Wahrheit ist unbegreiflich für ihn. Vielleicht begreift er mit einiger Mühe die Liebe, aber niemals den Apachentanz, den der andere daraus machte, das Apachengeschäft mit ihrer Lust und ihrer Angst. Die Wahrheit sagen … Sie zog die Knie hoch und setzte den Bleistift an.

»Die wiederholten und sich steigernden Geldforderungen des Herrn Spitzeder konnten schließlich aus meinen begrenzten Mitteln nicht mehr befriedigt werden. Ich sah mich also gezwungen, Franziska in Anspruch zu nehmen, und zwar sagte ich ihr von Anfang an, für wen ich das Geld benötigte. Es mögen insgesamt nicht über achttausend Mark gewesen sein. Aus der Willfährigkeit und ungeschäftlichen Art, mit der sie die Summen hergab, konnte ich schließen, daß es sich um eine ganz private Aktion handle, die mit dem Bankhaus nichts zu tun habe. Die Finanzierung der Teilhaberschaft Herrn Spitzeders an einem Künstlerkabarett geschah dann zwar auf meine Anregung, ging aber nicht durch meine Hände. Damit hörte übrigens die finanzielle Beanspruchung meiner Person durch Herrn Spitzeder auf, folglich auch die Beanspruchung Franziskas durch mich.«

Adelina legte sich zurück und schloß die Augen. Die Wahrheit sagen und abreisen, rät Franziska. Warum holt man sich Rat von jemandem, der Partei ist? Warum will Franziska, die Urheberin der schlimmen Verwirrung, daß ich die Wahrheit sage und dann verschwinde – wieder mal in meinem Interesse? O wie neblig sind immer Franziskas Menschenfreundlichkeiten! Und er, Bonde? wo ist er hingegangen? Franziska meint: ins Polizeipräsidium, um die Aktion abzustoppen. Hat sie recht: warum soll ich dann die Wahrheit sagen, die er gar nicht verlangte, und warum soll ich verschwinden, wenn er klein beigibt? Aber sie kennt ihn nicht, sie hat nicht recht, er stoppt nicht ab, im Gegenteil …

Die Stille hielt die Augenlider zu und füllte die Ohren wie mit Wasser, man sank taub unter; aber es war nicht unangenehm …

Das Telefon auf dem Nachttisch klingelte – oh, es hämmerte schrill und schmetternd in die taube Stille, ein gewaltiger Alarm für den kleinen Raum, es war, als klingelte es über die Straße hin, über die Stadt. Adelina fuhr auf: der maßlose Lärm tat innen und außen weh, im Herzen, in den Ohren und auf der nassen Haut. Sie riß den Hörer von der Gabel und stöhnte ihre Angst in die schwarze Muschel: »Ach Gott …« So meldete sie sich.

»Ja, ach Gott!« dröhnte Franziskas Stimme aus dem Nichts – warum schrie sie so? oder war es dieser Höllenapparat, der mit Glocke und Menschenstimme nichts als Lärm schlug? »Damit du es weißt, Ada, und dich danach richten kannst: eben ist der Würdenträger von mir weggegangen …«

»Wer?« rief Adelina; – ach, sie wußte es doch, sie verlangte keine Erklärung, sie rief immer lauter: »Wer? Wer?«, auch sie wollte schreien, sie strengte sich sehr an, sie hörte, wenn sie Atem holte, Franziska reden, sie verstand es nicht, sie wollte es nicht verstehen, sie schrie ganz hoch und spitz vor Haß: »Du bist schamlos! Schamlos! …« Die Stimme stolperte ins Schluchzen, schon hörte sie die Feindin: »Aber Kind, sei doch vernünftig! Hör doch zu …«

»Schamlos!« schluchzte Adelina und warf den Hörer auf die Gabel.

Sieh, das Weinen tut gut, es löst die Angst auf. Man liegt mit geschlossenen Augen und läßt die Tränen rinnen, sie kitzeln leise die Haut. Franziska ist schamlos? Wäre ich ein Mann, ich wäre blind verliebt in sie. Und wenn sie Bonde fängt und einwickelt, dann setzt er sich ins Unrecht, auch er … Adelinas Hand berührte die Briefblätter auf der Bettdecke. Das wird er ja nun auch schon wissen … und warum soll ich jetzt noch fortgehn und das Feld räumen …

Im harten Guß der Stille springt ein Lautriß – unten geht eine Tür, die eichene Treppe, die ins Obergeschoß führt, knarrt ein wenig. Bonde kommt, Lichtschalter knacken, Adelina nimmt die Briefblätter unter die Bettdecke. Rechnet sie damit, daß er zu ihr ins Zimmer kommt? Und wenn sie es vermeiden will: warum schließt sie nicht die Tür ab oder warum löscht sie nicht wenigstens die Nachttischlampe aus? Wenn er noch kommt, denkt sie, hat er sich nicht zu schämen; wenn er noch kommt, weiß er noch nichts oder nicht alles, hat noch zu fragen; wenn er fragt, gebe ich ihm den Brief …

Bonde tritt ins Badezimmer, das zwischen seinem und Adelinas Schlafzimmer liegt. Sie lauscht, sie hört nichts mehr. Er sieht durch die Türritze den Lichtschein in ihrem Zimmer, sie ist noch wach … Er lauscht …

– Dies nur fragen, nur dies: wer war Franziskas Mann? War es jener … Wie kann man es eine Frau fragen, die sich vielleicht mit der Antwort schuldig spricht? Wie kann man einer Frau, seiner Frau, die seidene Schnur um den Hals legen, auf daß sie sie selber zuziehe? dann schon lieber den Regierungsrat Krieger fragen, so jämmerlich es ist, alles dies, alles dies! Er sieht sich im Spiegel über dem Waschtisch. – Ich bin ein alter Mann, was will ich denn? – Er wäscht sich die Hände, er läßt das Wasser in ganz feinem Strahl laufen – vielleicht schläft sie doch.

Sie lauscht, das Licht im Badezimmer wird ausgeknipst, die Tür zu seinem Schlafzimmer mit großer Vorsicht geschlossen. Wie der Dieb in der Nacht, denkt sie und zerreißt unter der Decke die Briefblätter.


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