Henry Murger
Die Bohème
Henry Murger

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XXI. Mimis Ende

Der Dichter Rudolf hatte sich in das Verhältnis mit der blonden Julia eingelassen, um sich über den Bruch mit seiner Mimi zu trösten. Aber während ihn so der Ärger trieb, war es bei ihr eine flüchtige Laune, die keinen langen Bestand haben konnte. Das junge Mädchen war im Grunde nichts als ein leichtfertiges Geschöpf, das ihr Liebeshandwerk allerdings gründlich verstand. Gescheit genug, um den Geist eines andern zu bemerken und sich seiner zu bedienen, spürte sie ihr Herz nur, wenn sie sich den Magen überladen hatte, denn dann machte es ihr Beschwerden. Damit verband sie eine unmäßige Selbstsucht und eine grenzenlose Eitelkeit, so daß sie lieber bei ihrem Geliebten ein gebrochenes Bein als bei sich selbst einen Besatz weniger an ihrem Kleide gesehen hätte. Sie war ein sehr gewöhnliches Geschöpf von mittelmäßiger Schönheit und zu allem Schlechten veranlagt, das aber doch manchmal verführerisch wirken konnte. Sie begriff sehr gut, daß Rudolf sie nur genommen hatte, um dadurch die andere zu vergessen, und verstand auch, daß er seine Absicht nicht erreichte, sondern gerade an ihrer Seite sich erst recht aufs lebhafteste nach der Entschwundenen sehnte.

Eines Tages plauderte Julia mit einem jungen Studenten der Medizin, der ihr den Hof machte, über ihren Geliebten, den Dichter.

»Mein liebes Kind,« sagte der Student, »dieser Bursche bedient sich Ihrer, wie man sich des Höllensteins bedient, um sich eine Wunde auszuätzen – er will seine Herzenswunde ausätzen. Es ist daher sehr dumm von Ihnen, wenn Sie sich seinetwegen Gedanken machen und ihm treu bleiben.«

»Oho«, rief das junge Mädchen und begann laut zu lachen. »Glauben Sie denn im Ernst, daß ich mich geniere?« Und noch an demselben Abend gab sie dem Studenten den Beweis des Gegenteils.

Dank der Geschwätzigkeit eines von diesen guten Freunden, die nie eine Gelegenheit vorüberlassen, jemand Schmerz zu bereiten, erfuhr Rudolf von der Geschichte und benutzte sie, um mit seiner Aushilfsgeliebten zu brechen.

Er verschloß sich jetzt in eine tiefe Einsamkeit, in der ihn alle Fledermäuse der Langeweile aufsuchten, denen er vergebens durch Arbeiten entgegenzutreten suchte. Jeden Abend schrieb er einige zwanzig Zeilen, die ihm fast ebenso viele Schweiß- wie Tintentropfen kosteten, und es wurden doch nur alte, abgedroschene Ideen, die mühsam in entlehnte Wortwendungen gekleidet waren. Wenn er sie dann nachher durchlas, saß er verblüfft da wie ein Mann, der Brennesseln auf seinem Gartenland erntet, wo er glaubte Rosen gesät zu haben. Er zerriß dann das Blatt, auf dem er einen solchen Rosenkranz von Albernheiten abgebetet hatte, und trat es wütend mit Füßen. »Nun ja,« sagte er dann, indem er sich auf die Brust schlug, »die Saite ist gesprungen, mit meiner Kunst ist es vorbei.« Und da lange Zeit hindurch auf alle seine Versuche, zu arbeiten, die gleiche Enttäuschung folgte, so überkam ihn jene mutlose Schwäche, die auch das stärkste Selbstbewußtsein untergräbt und das hellste Denken abstumpft. Und mit Neid erinnerte er sich dann des stolzen Gefühls, das ihn früher zu beseelen pflegte, wenn er eine sich gestellte Arbeit vollendet hatte.

Wie man sich bisweilen noch an dem Duft verwelkter Rosen berauscht, so berauschte sich jetzt Rudolf an den Erinnerungen seines früheren Lebens, als noch jeder Tag eine neue Elegie, ein erregendes Drama oder eine komische Groteske brachte. Und er durchlebte noch einmal alle Phasen seiner seltsamen Liebe zu der teuren Verlorenen, von den Flitterwochen an bis zu den häuslichen Stürmen, die den letzten Bruch herbeigeführt hatten. Er wiederholte sich all ihre listigen Ausreden, ihre Scherzworte. Er sah sie, wie sie sich in der kleinen Wohnung bewegte und ein lustiges Lied trällerte, wie sie ihn stets mit der gleichen heiteren Miene empfing, mochten die Tage schlecht oder gut sein. Ja, was hatte er mit seinem Bruch gewonnen? Sicherlich hatte ihn Mimi in der Zeit, als er mit ihr zusammen lebte, betrogen. Aber daß er das erfuhr, das war schließlich seine eigene Schuld gewesen, weil er sich ja die qualvollste Mühe gab, um es zu erfahren, und seine ganze Zeit verbrauchte, die Beweise herbeizuschaffen. Er hatte sich selbst den Dolch geschärft, der dann sein Herz durchbohrte. Und außerdem, mit wem hatte sie ihn schließlich betrogen? Meistens war es doch nur mit einem Schal, einem Hut, mit Gegenständen also und nicht mit einem Manne gewesen. Und die Ruhe, der Frieden, die er von der Trennung erhofft hatte, waren sie wirklich gekommen? Leider nein! Sie waren jetzt noch weniger da als früher. Früher konnte er seinem Schmerz Luft machen, er konnte sie ausschelten und ihr drohen, er konnte ihr seinen Kummer zeigen und ihr Mitleid erwecken. Jetzt aber verzehrte er sich in seinem einsamen Schmerz, seine Eifersucht war ohnmächtige Wut geworden. Früher konnte er doch wenigstens, wenn er Verdacht hegte, Mimi am Ausgehen verhindern, er konnte sie bei sich behalten und sich ihres Besitzes sichern. Jetzt aber traf er sie auf der Straße Arm in Arm mit ihrem neuen Geliebten, und er mußte ihr noch ausweichen, während sie glücklich dahinging, zu irgendeinem Vergnügen.

Dieser elende Zustand dauerte drei oder vier Monate. Nach und nach wurde Rudolf ruhiger. Marcel, der eine lange Reise gemacht hatte, um Fräulein Dudelsack zu vergessen, kam nach Paris zurück und zog wieder zu seinem Freund, und sie sprachen sich gegenseitig Trost zu.

Als Rudolf eines Sonntags den Luxembourg durchschritt, traf er Mimi in großer Toilette; sie ging nämlich zum Ball. Sie nickte ihm zu, worauf er seinen Hut zog. Diese Begegnung brachte ihn in starke Erregung, aber der Schmerz war doch geringer als sonst. Er ging noch eine Weile durch die Anlagen und dann nach Hause. Als Marcel des Abends nach Hause kam, fand er ihn bei der Arbeit.

»Wie, du arbeitest?« fragte Marcel, indem er sich über seine Schulter neigte. »Und Verse?«

»Ja«, antwortete Rudolf erfreut. »Ich glaube, meine Begabung ist doch noch nicht ganz erstorben. Ich bin Mimi begegnet, ich sitze jetzt hier schon vier Stunden und fühle wieder die ganze Kraft meiner alten Tage.«

»So?« fragte Marcel unruhig. »Und wie steht ihr miteinander?« »Sei unbesorgt,« antwortete Rudolf, »wir haben uns nur gegrüßt. Weiter ist es zu nichts gekommen.«

»Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht! Ich fühle, daß es zwischen uns aus ist, aber wenn ich dadurch wieder zum Arbeiten komme, will ich ihr gern verzeihen.«

»Wenn es so ganz und gar aus ist,« fuhr Marcel fort, der die Verse Rudolfs gelesen hatte, »weshalb dichtest du sie denn an?« »Ach,« antwortete der Dichter, »ich nehme meine Poesie, wo ich sie finde.«

Acht Tage lang arbeitete er an seiner kleinen Dichtung. Als er sie beendet hatte, las er sie Marcel vor, dem sie gefiel und der Rudolf zuredete, nun auch weiter zu arbeiten.

»Denn«, sagte er, »es lohnt sich gar nicht, Mimi zu verlassen, wenn du immer in ihrem Schatten leben mußt. Freilich sollte ich, statt andern zu predigen, lieber mir selber predigen, denn ich kann noch immer nicht Fräulein Dudelsack aus meinem Herzen reißen. Na, wir werden ja hoffentlich nicht ewig junge Leute bleiben, die in solche Teufelsgeschöpfe vernarrt sind.«

»Leider«, erwiderte Rudolf, »braucht man der Jugend nicht erst zu sagen, sie möchte gehn.«

»Das ist wahr,« sagte Marcel. »Aber es gibt Tage, da möchte ich solch ein richtiger Ehrengreis sein, Mitglied vom Institut, Ritter verschiedener Orden, und vor allem erlöst von allen diesen Weibern! Und der Teufel soll mich holen, wenn ich dann noch einmal zu ihnen zurückkehrte. Und du,« fügte der Maler lachend hinzu, »möchtest du auch schon sechzig Jahre alt sein?«

»Heute möchte ich lieber sechzig Franken haben«, antwortete Rudolf.

Kurze Zeit darauf war Fräulein Mimi mit dem jungen Vicomte Paul in ein Café gegangen und öffnete eine Zeitschrift, in der die Verse standen, die Rudolf auf sie gedichtet hatte.

»Das ist gut!« rief sie lachend. »Jetzt macht mich mein früherer Liebhaber Rudolf schon in den Zeitschriften schlecht.«

Aber als sie die Verse zu Ende gelesen, blieb sie schweigsam und nachdenklich sitzen. Der Vicomte Paul, der erriet, daß sie an Rudolf dachte, versuchte, sie auf andere Ideen zu bringen.

»Ich werde dir Ohrringe kaufen«, sagte er.

»Ja,« meinte Mimi, »Sie haben Geld, das haben Sie!«

»Und einen italienischen Strohhut«, fuhr der Vicomte Paul fort. »Nein,« sagte Mimi, »aber wenn Sie mir eine Freude machen wollen, dann kaufen Sie mir dies da!«

Und sie zeigte ihm das Heft, in dem Rudolfs Dichtung stand. »Oh, das? Nein!« rief der Vicomte verletzt.

»Gut«, antwortete Mimi. »Dann kaufe ich es mir selbst, und zwar mit Geld, das ich mir auch selbst verdiene. Es ist mir übrigens auch lieber, daß es nicht von Ihrem Gelde kommt.«

Und zwei Tage lang arbeitete Mimi wieder in ihrem alten Putzgeschäft, bis sie so viel verdient hatte, daß sie sich das Heft kaufen konnte. Sie lernte das Gedicht auswendig, und um den Vicomte Paul zu ärgern, trug sie es den ganzen Tag ihren Freunden vor.


Es war am 24. Dezember, und das Quartier Latin hatte an diesem Tage ein ganz besonderes Aussehen. Seit zwei Uhr nachmittags wurden die Pfandhäuser, die Trödlerläden und die Antiquariatsgeschäfte von einer lärmenden Menge belagert, die sich gegen Abend verzog, um die Verkaufsstände der Fleisch- und Wursthändler und die Kolonialwarenläden zu stürmen. Die Verkäufer hätten hundert Arme haben müssen, wie Briareus, um alle Kunden zu bedienen, die sich mit Lebensmitteln versehen wollten. Bei den Bäckern stand man in Schlangenlinien an wie in den Tagen einer Hungersnot. Die Weinhändler schenkten den Ertrag dreier Ernten aus, und der geschickteste Statistiker hätte große Mühe gehabt, die Zahl der Schinken und Würste festzustellen, die in dem berühmten Geschäft von Borel in der Rue Dauphine verkauft wurden. An diesem einzigen Nachmittag wurden bei dem alten Cretaine, genannt Brötchen, achtzehn Nachschübe seiner Butterkuchen umgesetzt. Während der ganzen Nacht drang lärmendes Geschrei aus den Miethäusern, deren Fenster strahlten, und eine Kirmeslustigkeit erfüllte das ganze Viertel.

Man feierte nach altem Brauch den Weihnachtsabend.

An diesem Abend kamen Marcel und Rudolf um zehn Uhr in betrübter Stimmung nach Hause. Als sie die Rue Dauphine durchschritten, fiel ihnen ein starkes Gedränge in dem Laden eines Fleischwarenhändlers auf, und sie blieben einen Augenblick stehen, gefoltert von dem Anblick der delikaten gastronomischen Produkte. Die zwei Zigeuner glichen in ihrer Betrachtung der Person in einem spanischen Roman, die einen Schinken so begierig anstarrte, daß er davon immer magerer wurde.

»Das ist einmal eine getrüffelte Truthenne«, sagte Marcel und wies auf einen prächtigen Vogel, durch dessen rosig schimmernde Haut die Perigorder Trüffeln, mit denen er gespickt war, durchschimmerten. »Ich habe gottlose Menschen gekannt, die von so etwas essen konnten, ohne sich davor auf die Knie zu werfen«, fügte der Maler hinzu, indem er auf die Truthenne Blicke warf, deren Glut sie schon allein hätte braten können.

»Und was hältst du von dieser bescheidenen Hammelkeule?« fragte Rudolf. »Wie wundervoll ist sie in der Farbe, man sollte glauben, sie sei frisch aus einem Schlächterladen genommen, wie sie Jordaens in seinen berühmten Gemälden gemalt hat. Die Hammelkeule war das Lieblingsgericht der Götter und meiner Patin, der Frau Chandelier.«

»Betrachte dir ein wenig diese Fische«, fuhr Marcel fort und wies auf einige Forellen. »Das sind die geschicktesten Schwimmer von allen Wasserbewohnern. Diese kleinen Tiere, die so anspruchslos aussehen, könnten Geld verdienen, wenn sie öffentlich ihre Kunststücke zeigten. Stelle dir vor, daß sie einen reißenden Wasserfall ebenso leicht hinaufsteigen, wie wir eine Einladung zum Souper annehmen. Ich hatte fast einmal eine gegessen.«

»Und dahinten die großen runden, vergoldeten Früchte, deren Blätter wie Säbel von Wilden aussehen! Man nennt sie Ananas, sie sind die Reinetteäpfel der Tropen.«

»Sie interessieren mich nicht«, erwiderte Marcel. »Den schönsten Früchten ziehe ich dieses Stück Rinderbraten, diesen Schinken oder auch diesen kleinen Schinken vor, der in dem durchsichtigen, ambrafarbenen Gelee liegt.«

»Da hast du recht«, sagte Rudolf. »Der Schinken ist des Menschen Freund, wenn er einen hat. Übrigens würde ich auch nicht diesen Fasan verschmähen.«

»Das glaube ich gern, er ist die Speise der Könige.«

»Ja, es ist heute Weihnachten«, sagte Marcel, als ihnen beim Weitergehen ganze Prozessionen fröhlicher und mit Vorräten aller Art beladener Menschen begegneten.

»Erinnerst du dich noch unserer Feier vom vorigen Jahr?« fragte Rudolf.

»Ja,« antwortete Marcel, »es war im Momus, und Barbemuche hat alles bezahlt. Nie hätte ich geglaubt, daß ein so zartes Geschöpf wie Euphemia so viele Würste verschlingen könnte.«

»Wie schade, daß Momus uns das Lokal verboten hat«, sagte Rudolf.

»Ach ja,« stimmte Marcel zu, »die Feste kommen wohl wieder, aber es sind nicht dieselben.«

»Möchtest du denn heute Weihnachten feiern?« fragte Rudolf.

»Mit wem und womit?« erwiderte der Maler.

»Mit mir natürlich.«

»Und wer bezahlt?«

»Warte ein wenig«, sagte Rudolf. »Ich gehe in dieses Café, wo ich Leute kenne, die hoch spielen. Ich werde mir von einem, der gewonnen hat, ein paar Sesterzen leihen und etwas zum Anfeuchten einer Sardine oder eines Schweinsfußes mitbringen.«

»Dann geh«, rief Marcel. »Ich habe einen Wolfshunger. Ich werde dort drüben warten.«

Rudolf ging in das Café, und ein Herr, der gerade in zehn Runden dreihundert Franken gewonnen hatte, machte sich ein Vergnügen daraus, dem Dichter ein Vierzigsousstück zu leihen, das er mit jener üblen Laune gab, die das Spielfieber mit sich bringt. Bei einer andern Gelegenheit und in einem andern als einem Spielzimmer würde er vielleicht vierzig Franken geliehen haben.

»Nun?« fragte Marcel, als er Rudolf zurückkommen sah.

»Das ist alles«, sagte der Dichter und zeigte das Geldstück.

»Eine Kruste Brot und ein Tropfen Wein«, meinte Marcel.

Trotzdem brachten sie es fertig, sich für diese bescheidene Summe Brot, Wein, Fleisch, Tabak, Licht und Feuerung zu kaufen.

Sie betraten das Haus, wo sie jeder ein gesondertes Zimmer bewohnten. Marcels Zimmer, das ihm als Atelier diente und größer war, wurde deshalb als Festsaal gewählt, und die Freunde trafen nunmehr gemeinsam die Vorbereitungen zu ihrem üppigen Gelage.

Aber an diesem kleinen Tisch, an dem sie saßen, neben diesem Feuer, in dem die schlechten, feuchten Holzscheite weder Flammen noch Hitze gaben, saß auch stumm und traurig ein seltsamer Gast, das Phantom der entschwundenen Zeit.

Sie verharrten mehr als eine Stunde lang schweigend und nachdenklich, alle beide offenbar in denselben Gedanken vertieft und zugleich bemüht, ihn voreinander zu verbergen. Es war Marcel, der zuerst das Schweigen brach.

»Weißt du,« sagte er zu Rudolf, »das ist aber nicht das, was wir uns versprochen haben.«

»Was meinst du damit?« fragte Rudolf.

»Du lieber Gott,« antwortete Marcel, »versuch' doch nicht, dich jetzt vor mir zu verstellen! Du denkst an das, was du vergessen solltest, und ich tue es leider auch.«

»Nun, und dann?«

»Es muß das letztemal sein«, schrie Marcel. »Zum Teufel mit den Erinnerungen, die uns den Geschmack am Wein verderben und uns traurig machen, während ringsum alle lustig sind. Also denken wir an etwas anderes, und machen wir mit dem Früheren Schluß!«

»Ja, das sagen wir immer,« meinte Rudolf, »und doch ...« Damit versank er wieder in seine Träumerei.

»Und doch kommen wir immer wieder darauf zurück«, ergänzte ihn Marcel. »Das rührt aber daher, daß wir, statt uns ehrlich um das Vergessen zu bemühen, die nebensächlichsten Dinge zum Anlaß nehmen, uns gerade in diese Vergangenheit zu vertiefen. Vor allem aber rührt es daher, daß wir hartnäckig in derselben Umgebung leben, in der wir diese Geschöpfe kennengelernt haben. Wir sind weniger die Sklaven einer Leidenschaft, als die einer Gewohnheit. Diese Fesseln müssen wir brechen, wenn wir nicht in einer lächerlichen und schändlichen Sklaverei zugrunde gehen wollen. Schließlich ist das Vergangene vergangen, und alle Fäden, die uns noch damit verknüpfen, müssen wir zerreißen. Die Stunde ist gekommen, da wir vorwärts gehen wollen, ohne einen Blick nach rückwärts zu werfen. Wir haben unsere Zeit der Jugend, der Sorglosigkeit und Unbesonnenheit gehabt. Es war alles sehr schön, und man könnte daraus einen hübschen Roman machen. Aber diese Komödie verliebter Tollheiten, diese wahnsinnige Zeitverschwendung von Leuten, die glauben, sie hätten eine Ewigkeit auszugeben, muß aufhören. Wir verdienten eine allgemeine Verachtung, wir müßten uns selbst verachten, wenn wir so fortführen, am Rande der Gesellschaft, ja am Rande des Lebens selbst zu leben. Denn schließlich, ist das überhaupt ein Dasein, das wir führen? Und diese Unabhängigkeit, diese Freiheit der Sitten, auf die wir uns soviel einbilden, sind das nicht höchst zweifelhafte Vorzüge? Die wahre Freiheit besteht darin, daß man die andern entbehren und aus eigener Kraft bestehen kann. Haben wir die? Nein! Der erste beste Lump, dessen Namen wir nicht fünf Minuten lang tragen möchten, rächt sich an unseren Späßen und wird unser Herr an dem Tage, da wir ihn um hundert Sous anbetteln, die er uns leiht, nachdem er uns für hundert Franken List und Erniedrigung hat ausgeben lassen. Ich für meinen Teil habe das satt. Die Poesie existiert nicht nur in der Ungebundenheit des Lebens, im Lotteriespiel um das Glück, in Liebesbeziehungen, die nicht das Leben einer Kerze überdauern, in mehr oder weniger sinnlosem Ankämpfen gegen die Vorurteile, die doch ewig die Welt beherrschen werden – denn man stürzt viel leichter eine Dynastie als eine Sitte, und wenn sie noch so lächerlich wäre. Es genügt wirklich nicht, im Dezember einen Sommerpaletot zu tragen, um Begabung zu haben, und man kann ein echter Dichter oder Maler sein, selbst wenn man gute Schuhe trägt und dreimal täglich ißt. Was man auch sagt oder tut, wenn man ein Ziel erreichen will, dann muß man immer einen schon gebahnten Weg einschlagen. Meine Auseinandersetzung erstaunt dich vielleicht, lieber Rudolf, du wirst sagen, daß ich meinem Ideal untreu bin, du wirst mich korrupt nennen, aber alles, was ich sagte, ist der Ausdruck meines ernsten Wollens. Ohne, daß ich es wußte, hat in mir eine allmähliche und heilsame Umwandlung stattgefunden, ich bin zur Vernunft gekommen – für dich vielleicht etwas überraschend und vielleicht sogar gegen meinen Willen. Aber die Vernunft ist da, und sie hat mir gezeigt, daß ich mich auf einem schlimmen Weg befand, den fortzusetzen lächerlich und gefährlich gewesen wäre. Und wirklich, was ist das Ende, wenn wir dieses inhaltlose und unnütze Vagabundenleben weiterführen? Wir kommen in die dreißiger Jahre, unbekannt, abgeschlossen, zerfallen mit allem und mit uns selbst, voller Neid gegen die, die irgendein Ziel erreicht haben, zu einem schmählichen Schmarotzertum gezwungen, um unseren Lebensunterhalt zu erwerben – glaube nicht, daß ich ein phantastisches Gemälde entwerfe, um dich zu erschrecken. Ich sehe die Zukunft durchaus nicht schwarz, aber ich sehe sie auch nicht rosig, ich sehe sie, wie sie ist. Bis jetzt war uns unsere Lebensführung durch die Not aufgezwungen, wir konnten uns damit entschuldigen. Heute gäbe es keine Entschuldigung für uns, denn wenn wir uns jetzt nicht dem regulären Leben anpassen, dann tun wir es freiwillig, da die Gründe, die uns bisher verhinderten, nicht mehr da sind.«

»Wo hinaus willst du eigentlich?« fragte Rudolf. »Aus welchem Grunde und zu welchem Zweck hältst du diese Strafpredigt?«

»Du verstehst mich sehr gut«, fuhr Marcel in demselben ernsten Ton fort. »Vorher waren wir beide, du und ich, in Gedanken versunken und sehnten uns nach vergangenen Zeiten. Du dachtest an Mimi und ich an Dudelsack. Du hättest, wie ich, gerne deine frühere Geliebte an deiner Seite gehabt. Nun, und da sage ich, daß wir beide nicht mehr an diese Geschöpfe denken dürfen, daß wir nicht auf der Welt sind, um diesen gewöhnlichen Dirnen unser Leben zu opfern. Mit zwanzig Jahren kann man für sie die törichtsten Dinge begehen, mit fünfundzwanzig aber wird man lächerlich. Wir können noch so viel um die Sache herumreden, es bleibt doch dabei, mein Lieber, daß wir alt sind. Wir haben zu viel und zu schnell gelebt, das Instrument unseres Herzens hat Sprünge bekommen und gibt nur noch falsche Töne. Man ist nicht drei Jahre lang ungestraft der Geliebte eines Fräulein Dudelsack oder einer Mimi gewesen. Für mich ist die Sache beendet, und da ich vollkommen auch mit allen Erinnerungen brechen will, so werde ich jetzt alle Kleinigkeiten verbrennen, die sie noch hier zurückgelassen hat und die mich jedesmal, wenn ich sie sehe, zwingen, an sie zu denken.«

Marcel hatte sich erhoben und nahm nun aus einer Kommodenschublade eine kleine Schachtel, in der sich die Andenken an Fräulein Dudelsack befanden: ein verwelkter Strauß, ein Gürtel und ein Endchen Band und einige Briefe.

»Vorwärts,« sagte er zu dem Dichter, »mache es auch so, Freund Rudolf.«

»Nun ja, meinetwegen«, rief dieser, sich aufraffend. »Du hast recht! Auch ich will mich von diesem Mädchen mit den weißen Händen für immer losreißen.«

Damit stand er schnell auf und holte ein kleines Paket mit den Andenken an Mimi, die fast ganz von derselben Natur waren wie die von Marcel zusammengesuchten.

»Das paßt sich gut«, murmelte der Maler. »Mit diesem alten Zeug können wir das Feuer wieder anfachen, das uns ausgeht.« »Das ist wahr,« sagte Rudolf, »hier herrscht eine Kälte, bei der sich Eisbären wohlfühlen würden.«

»Los,« rief Marcel, »verbrennen wir sie im Duett. Sieh doch, die Briefe Dudelsacks flammen wie ein Punchfeuer. Sie hat ihn immer sehr geliebt, den Punch. Weiter, Freund Rudolf, aufgepaßt!«

Und einige Minuten lang warfen sie abwechselnd die Reliquien ihrer vergangenen Liebe in das Kaminfeuer, das hell und knisternd aufflammte.

»Armes Mädchen!« sagte Marcel ganz leise und betrachtete den letzten Gegenstand, den er in der Hand hielt. Es war ein kleiner, verwelkter Strauß von Feldblumen. »Wie hübsch war sie doch eigentlich, und sie liebte mich sehr! Nicht wahr, du kleiner Strauß, ihr Herz hat es dir erzählt, als deine Blumen an ihrem Gürtel steckten? Armer kleiner Strauß, du siehst so aus, als wolltest du mich um Gnade bitten. Nun ja, aber nur unter der einen Bedingung, daß du mir niemals von ihr sprichst, niemals!« Und er benutzte einen Augenblick, als er glaubte, daß Rudolf ihn nicht beobachtete, um den Strauß in seine Brusttasche zu schieben. »Ach, ich betrüge ihn,« dachte der Maler, »aber es geht über meine Kraft.«

Und als er einen flüchtigen Blick auf Rudolf warf, sah er, daß der Dichter, der ebenfalls mit seinem Autodafé zu Ende war, eine kleine Nachthaube, die einst Mimi gehört hatte, zärtlich küßte und sie heimlich in seine Tasche steckte.

»Na ja,« murmelte Marcel, »er ist ebenso feige wie ich.«

Im Augenblick, da Rudolf wieder nach seinem Zimmer gehen wollte, um sich schlafen zu legen, klopfte es zweimal leise an Marcels Tür.

»Wer, zum Teufel, kommt denn jetzt noch?« fragte der Maler und ging hin, um zu öffnen.

Er stieß einen Schrei der Überraschung aus, als er die Tür aufmachte.

Es war Mimi.

Da es im Zimmer sehr dunkel war, erkannte Rudolf nicht sofort seine Geliebte, und da er nur die Gestalt einer Frau bemerkte, hielt er sie für eine flüchtige Eroberung seines Freundes und wollte sich zurückziehen.

»Ich störe wohl?« fragte Mimi, die auf der Türschwelle stehengeblieben war. Als Rudolf ihre Stimme hörte, fiel er wie vom Blitz getroffen auf seinen Stuhl.

»Guten Abend«, sagte Mimi, die näher getreten war, zu ihm und drückte ihm die Hand, die er ihr mechanisch hinhielt.

»Was, zum Teufel, führt Sie zu dieser Stunde her?« fragte Marcel.

»Mir war so kalt«, antwortete Mimi zitternd. »Ich sah, als ich auf der Straße vorbeiging, noch Licht bei Ihnen, und da bin ich, obgleich es schon spät ist, noch heraufgekommen.«

Und sie zitterte noch immer. Ihre Stimme hatte etwas Krankhaftes an sich und durchdrang Rudolfs Herz mit einem dunkeln Grauen. Er betrachtete sie aufmerksam von der Seite. Das war nicht mehr Mimi, das war ihr Gespenst.

Marcel bot ihr einen Platz am Kamin an.

Mimi lächelte, als sie die schöne Flamme sah, die lustig im Kamin tanzte.

»Ach, das tut gut«, sagte sie, indem sie ihre armen, bläulich angelaufenen Hände dem Feuer näherte. »Übrigens, Herr Marcel, wissen Sie, weshalb ich eigentlich hierhergekommen bin?«

»Nein, das weiß ich nicht.«

»Ja,« fuhr Mimi fort, »ich kam einfach, um Sie zu bitten, ob Sie mir nicht hier im Haus zu einem Zimmer verhelfen könnten. Man hat mich aus meiner Wohnung hinausgesetzt, weil ich einen Monat Miete schulde, und nun weiß ich nicht, wohin ich gehen soll.«

»Teufel,« sagte Marcel und schüttelte den Kopf, »wir stehen nicht im besten Ruf bei unserm Wirt, und unsere Empfehlung würde Ihnen wenig nützen, mein armes Kind.«

»Was soll ich denn aber anfangen?« fragte Mimi. »Ich weiß nicht wohin.«

»Wieso?« fragte Marcel. »Sind Sie denn nicht mehr Vicomtesse?«

»Ach, du lieber Gott, ganz und gar nicht.«

»Aber seit wann denn?«

»Schon seit zwei Monaten.«

»Sie haben dann also wohl dem jungen Vicomte übel mitgespielt?«

»Nein«, sagte sie mit einem heimlichen Blick auf Rudolf, der sich in die dunkelste Ecke des Zimmers gesetzt hatte. »Der Vicomte hat mir eine Szene gemacht wegen eines Gedichtes, das man auf mich gemacht hat. Wir zankten uns, und ich habe ihn hinausgeschickt. Er war ein geiziger Hund, das können Sie glauben.«

»Na,« meinte Marcel, »er hatte Sie aber doch schön ausgestattet, nach Ihrem Aussehen zu urteilen, als ich Sie seinerzeit traf.«

»Ja, und nun stellen Sie sich vor,« sagte Mimi, »daß er mir alles wieder abnahm, als wir uns trennten, und ich erfuhr dann, daß er meine Sachen in einem billigen Gasthaus, wohin er mich öfters zum Essen führte, öffentlich versteigern ließ. Er ist reich, dieser Junge, und bei all seinem Geld ist er geizig wie ein Filz und dumm wie eine Gans. Er wollte nicht, daß ich reinen Wein tränke, und ließ mich alle Freitage fasten. Glauben Sie wohl, daß er mich zwingen wollte, schwarze Wollstrümpfe zu tragen, weil die weniger schmutzten als die weißen? Man sollte es nicht für möglich halten! Und dann hat er mich schön gelangweilt. Ich kann wohl sagen, ich habe bei ihm mein Fegfeuer durchgemacht.«

»Und kennt er Ihre jetzige Lage?« fragte Marcel.

»Ich habe ihn nicht mehr gesehen«, antwortete Mimi, »und will ihn auch nicht mehr sehen. Mir wird ganz übel, wenn ich nur an ihn denke. Ich würde lieber verhungern, als ihn um einen Sou bitten.«

»Aber«, fuhr Marcel fort, »seit Sie ihn verlassen haben, sind Sie doch nicht allein geblieben.«

»Jawohl,« schrie Mimi lebhaft, »ich versichere Ihnen, Herr Marcel, ich habe für meinen Unterhalt gearbeitet. Nur weil es mit dem Blumenmachen nicht recht ging, habe ich etwas anderes angefangen, ich stehe Modell für Maler. Wenn Sie also Beschäftigung für mich hätten ...« fügte sie lustig hinzu.

Dann aber bemerkte sie, wie Rudolf, den sie, während sie mit seinem Freund sprach, nicht aus den Augen gelassen hatte, unwillkürlich auffuhr, und sie sagte schnell:

»Aber ich stehe nur Modell für den Kopf und die Hände. Ich habe viel zu tun, und an drei oder vier Stellen schuldet man mir noch Geld. Ich bekomme es in zwei Tagen, nur bis dahin möchte ich ein Zimmer finden. Wenn ich Geld habe, kann ich in meine alte Wohnung zurückkehren. Sieh da!« rief sie aus und betrachtete den Tisch, auf dem noch fast das ganze Essen stand, das die Freunde kaum berührt hatten. »Sie wollen soupieren?« »Nein,« sagte Marcel, »wir hatten keinen Hunger.«

»Ihr seid sehr glücklich«, sagte Mimi treuherzig.

Bei diesem Wort fühlte Rudolf, wie sich sein Herz furchtbar zusammenzog. Er machte Marcel ein Zeichen, das dieser auch verstand.

»Da Sie nun einmal hier sind, Mimi,« sagte der Maler, »so müssen Sie auch an unserer Mahlzeit teilnehmen. Wir wollten eigentlich zusammen Weihnachten feiern, Rudolf und ich, und dann ... dann sind wir eben auf andere Gedanken gekommen.« »Dann komme ich also gerade recht«, sagte Mimi und warf einen fast gierigen Blick auf das Essen. »Ich habe nichts zu Mittag gehabt«, sagte sie leise dem Maler ins Ohr, damit es Rudolf nicht hören konnte, der auf sein Taschentuch biß, um nicht in Tränen auszubrechen.

»Komm doch auch an den Tisch, Rudolf,« sagte Marcel zu seinem Freund, »wir wollen gemeinsam soupieren.«

»Nein«, sagte der Dichter und blieb in seiner Ecke.

»Sind Sie mir böse, Rudolf, weil ich hierhergekommen bin?« fragte ihn Mimi sanft. »Oder wollen Sie, daß ich gehe?«

»Nein, Mimi,« antwortete Rudolf, »es betrübt mich nur, daß ich Sie so wiedersehe.«

»Das ist meine Schuld, Rudolf, und ich beklage mich nicht. Was vorbei ist, ist vorbei, wir wollen beide nicht mehr daran denken. Warum sollten Sie nicht mein Freund sein können, weil Sie früher einmal etwas anderes waren? Aber Sie sind es auch, nicht wahr? Und darum machen Sie auch nicht länger ein böses Gesicht und setzen Sie sich zu uns an den Tisch.«

Sie erhob sich, um ihn an der Hand zu nehmen, war aber so schwach, daß sie keinen Schritt tun konnte und wieder auf ihren Stuhl sank.

»Die Wärme hat mich übernommen,« sagte sie, »ich kann mich kaum aufrecht halten.«

»Komm schon«, sagte Marcel zu Rudolf, »und leiste uns Gesellschaft.«

Der Dichter trat jetzt heran und begann mit ihnen zu essen. Mimi war sehr heiter.

Als das einfache Mahl beendet war, sagte Marcel zu Mimi: »Mein liebes Kind, es ist uns unmöglich, Ihnen hier im Hause ein Zimmer zu verschaffen.«

»Dann muß ich also gehen?« fragte sie und versuchte, sich zu erheben. »Aber nein!« rief Marcel. »Ich kann die Sache noch in anderer Weise in Ordnung bringen. Sie bleiben einfach in meinem Zimmer, ich werde zu Rudolf ziehen.«

»Das wird Sie sehr belästigen,« sagte Mimi, »aber es dauert ja nicht lange, nur zwei Tage.«

»Auf diese Art ist es uns gar nicht unbequem«, meinte Marcel. »Also Sie bleiben hier. Gute Nacht, Mimi, schlafen Sie wohl.« »Vielen Dank«, stammelte sie und reichte Marcel und Rudolf, die sich entfernten, die Hand.

»Wollen Sie sich einschließen?« fragte Marcel, als er an der Tür stand.

»Warum?« fragte Mimi mit einem Blick auf Rudolf. »Ich fürchte mich nicht.«

Als sich die beiden Freunde in dem anderen Zimmer befanden, das auf demselben Flur lag, sagte Marcel plötzlich zu Rudolf: »Nun, was willst du jetzt tun?«

»Ja, ich weiß nicht«, murmelte Rudolf.

»Ach was, rede doch keinen Unsinn! Geh zu Mimi. Morgen früh werdet ihr wieder im alten Geleise sein.«

»Wenn es Fräulein Dudelsack wäre, die zurückgekommen, was würdest du dann tun?« fragte Rudolf seinen Freund.

»Wenn sich Fräulein Dudelsack im andern Zimmer befände?« erwiderte Marcel. »Nun, offen gestanden, seit einer Viertelstunde wäre ich dann schon nicht mehr hier.«

»Schön,« sagte Rudolf, »dann werde ich mutiger sein als du. Ich bleibe hier.«

»Wir werden ja sehen«, sagte Marcel, der sich schon ins Bett gelegt hatte. »Legst du dich auch hin?«

»Natürlich«, antwortete Rudolf.

Aber als Marcel mitten in der Nacht wach wurde, bemerkte er, daß Rudolf ihn verlassen hatte.

Des Morgens ging er vorsichtig an die Tür des Zimmers klopfen, in welchem sich Mimi befand.

»Herein!« rief sie. Und als sie ihn sah, gab sie ihm ein Zeichen, leise zu sprechen, um den noch schlafenden Rudolf nicht zu wecken. Er saß auf einem Stuhl, den er an das Bett gerückt hatte, und sein Kopf ruhte auf einem Kissen neben dem Kissen Mimis.

»So haben Sie die Nacht verbracht?« fragte Marcel sehr erstaunt.

»Ja«, antwortete das junge Mädchen.

Rudolf erwachte plötzlich, und nachdem er Mimi geküßt hatte, reichte er Marcel die Hand.

»Ich will sehen, daß ich etwas Geld für das Frühstück auftreibe«, sagte er zum Maler. »Inzwischen leistest du Mimi Gesellschaft.«

»Nun,« fragte Marcel das junge Mädchen, als er mit ihr allein war, »was ist diese Nacht geschehen?«

»Etwas sehr Trauriges,« antwortete Mimi, »Rudolf liebt mich noch immer.«

»Ich weiß es.«

»Ja, Sie wollten ihn von mir losreißen. Ich bin Ihnen deshalb nicht böse, Marcel, Sie hatten recht. Ich habe dem armen Jungen nur Schmerz bereitet.«

»Und Sie,« fragte Marcel, »lieben Sie ihn auch noch?«

»Ach, ob ich ihn liebe!« antwortete sie und faltete die Hände. »Das war ja meine ganze Qual. Ich habe mich sehr verändert, mein lieber Freund, und in sehr kurzer Zeit.«

»Nun, wenn er Sie liebt und Sie ihn lieben, und Sie können beide nicht ohne einander sein, dann vereinigen Sie sich doch wieder und versuchen Sie es noch einmal, zusammen zu bleiben.« »Es ist unmöglich«, sagte Mimi.

»Warum?« fragte Marcel. »Natürlich wäre es vernünftiger, wenn Sie sich verließen, aber um sich nicht mehr zu sehen, müßten Sie tausend Meilen voneinander entfernt sein.«

»In kurzer Zeit werde ich viel weiter fort sein.«

»Wieso? Was wollen Sie damit sagen?«

»Sprechen Sie nicht darüber zu Rudolf, es würde ihn zu sehr betrüben, ich gehe für immer fort.«

»Aber wohin?«

»Halt, mein armer Marcel,« sagte Mimi weinend, »betrachten Sie mich doch!« Und indem sie etwas das Bettuch wegschob, zeigte sie dem Maler ihre Schultern, ihren Hals und ihre Arme. »Ach, du lieber Gott«, rief Marcel schmerzlich bewegt. »Sie armes Mädchen!«

»Nun, sehen Sie es nicht selbst, mein Freund, daß ich bald sterben muß?«

»Aber wie ist das nur in so kurzer Zeit gekommen?«

»Ach,« antwortete Mimi, »bei dem Leben, das ich seit zwei Monaten führe, ist das gar nicht erstaunlich. Die Nächte verbringe ich mit Weinen, während der Tage stehe ich in ungeheizten Ateliers Modell. Dazu kam die schlechte Ernährung, der Kummer, den ich durchmachte. Außerdem, damit Sie alles wissen, habe ich mich mit einer scharfen Essenz vergiften wollen. Man hat mich zwar gerettet, aber, wie Sie sehen, nur für kurze Zeit. Sehr gesund bin ich ja nie gewesen. Nun, es ist alles meine Schuld, wäre ich ruhig bei Rudolf geblieben, dann stände es heute nicht so schlimm mit mir. Armer Freund, noch einmal falle ich ihm zur Last, doch es wird nicht für lange sein. Das letzte Kleid, das er mir schenken wird, wird ganz weiß sein, mein armer Marcel, man wird mich darin begraben. Ach, wenn Sie wüßten, wie ungern ich sterbe! Rudolf weiß, daß ich krank bin. Als er gestern abend meine mageren Arme und Schultern sah, saß er mehr als eine Stunde lang, ohne zu sprechen. Er erkannte seine Mimi gar nicht wieder ... ach, mein eigener Spiegel würde mich nicht wiedererkennen. Doch es ist gleich, ich war einmal hübsch, und er hat mich geliebt. »O mein Gott,« rief sie dann und barg ihr Gesicht in Marcels Hände, »ich werde Sie verlassen, armer Freund, und Rudolf auch. O du lieber Gott!« Und das Schluchzen erstickte ihre Stimme.

»Auf, Mimi,« sagte Marcel, »seien Sie nicht so verzweifelt, Sie werden doch noch geheilt werden. Sie brauchen nur recht viel Pflege und Ruhe.«

»Ach nein,« erwiderte Mimi, »es ist nichts mehr zu hoffen, ich fühle es. Ich habe gar keine Kräfte mehr, und als ich gestern hierher kam, brauchte ich mehr als eine Stunde, um die Treppen zu ersteigen. Wenn ich hier eine andere vorgefunden, ich hätte mich ohne weiteres zum Fenster hinausgestürzt. Obgleich er ja eigentlich frei war, indem wir nicht mehr zusammen lebten. Aber sehen Sie, Marcel, ich wußte doch, daß er mich noch liebte. Nur deshalb,« sagte sie, in Tränen zerfließend, »nur deshalb habe ich nicht sogleich sterben wollen, aber nun ist es ganz vorbei mit mir! Denken Sie nur, Marcel, wie gut er doch ist, mein armer Geliebter, daß er mich noch aufgenommen hat nach all dem Leid, das ich ihm zugefügt habe. Ach, der liebe Gott ist ungerecht, denn er läßt mir nicht die Zeit, Rudolf den Kummer wieder vergessen zu machen, den ich ihm zugefügt habe. Rudolf ahnt nicht, wie schlimm es mit mir steht. Ich wollte nicht, daß er sich an meine Seite legte, denn mir ist, als nagten schon die Würmer in meinem Körper. Wir haben die Nacht mit Weinen und Erzählen von vergangenen Zeiten verbracht. Ach, mein lieber Freund, wie traurig ist es doch, wenn man das Glück, an dem man achtlos vorübergegangen ist, hinter sich liegen sieht! Meine Brust brennt, und wenn ich meine Glieder bewege, dann ist es mir, als wollten sie brechen. Halt,« sagte sie plötzlich zu Marcel, »geben Sie mir doch mein Kleid. Ich will mir einmal die Karten legen, ob Rudolf wohl Geld bringt. Ich möchte so gern wieder einmal wie früher mit euch ein gutes Frühstück essen, das würde mir nichts schaden; Gott kann mich nicht kränker werden lassen, als ich schon bin. Sehen Sie,« sagte sie und wies auf die Karten, die sie hingelegt hatte, »hier ist Pik, das ist die Farbe des Todes. Und hier ist Treff«, fügte sie etwas fröhlicher hinzu. »Ja, wir werden Geld haben.«

Marcel wußte nicht, was er zu dem hellseherischen Delirium dieses Geschöpfes sagen sollte, das nach ihren eigenen Worten schon die Würmer des Grabes in ihrem Körper fühlte.

Nach einer Stunde kam Rudolf zurück. Er brachte Schaunard und Gustav Colline mit. Der Musiker trug seinen Sommerüberzieher. Er hatte, als er hörte, daß Mimi krank sei, seine Winterkleider verkauft, um Rudolf Geld zu leihen. Colline seinerseits hatte Bücher verkauft. Er hätte sich lieber einen künstlichen Arm oder ein Holzbein machen lassen, als sich von seinen geliebten Schmökern getrennt. Aber Schaunard gab ihm zu verstehen, daß man mit seinen Armen oder Beinen nichts anfangen könnte.

Mimi gab sich alle Mühe, um beim Empfang ihrer alten Freunde ihre frühere Heiterkeit wiederzufinden.

»Ich bin nicht mehr schlecht,« sagte sie, »und Rudolf hat mir verziehen. Wenn er mich bei sich behalten will, werde ich gern in Holzschuhen und Kopftuch gehen. Jedenfalls bekommt Seide meiner Gesundheit nicht«, fügte sie mit einem herzzerreißenden Lächeln hinzu.

Auf eine Vorstellung Marcels hin sandte Rudolf zu einem seiner Freunde, der gerade sein ärztliches Examen bestanden hatte. Er war derselbe, der auch die kleine Franziska gepflegt hatte. Als er kam, ließ man ihn mit Mimi allein.

Rudolf, den Marcel vorbereitete, erfuhr jetzt, in welcher Gefahr seine Geliebte schwebte.

Als der Arzt Mimi untersucht hatte, sagte er zu dem Dichter: »Sie können sie nicht hierlassen. Wenn nicht ein Wunder geschieht, ist sie verloren. Wir müssen sie ins Krankenhaus schicken. Ich werde Ihnen einen Brief für die Pitié geben, ich kenne dort einen Assistenzarzt, der sich ihrer annehmen wird. Wenn sie bis zum Frühjahr durchhält, werden wir sie vielleicht noch retten. Wenn sie aber hierbleibt, ist sie in acht Tagen tot.«

»Ich wage es nicht, ihr das vorzuschlagen«, sagte Rudolf.

»Nun, dann werde ich es ihr selber mitteilen«, erwiderte daraufhin der Arzt.

Mimi stimmte zu. »Morgen schicke ich den Aufnahmeschein für die Pitié«, sagte der Arzt.

»Lieber Freund,« sagte Mimi zu Rudolf, »der Arzt hat recht, Sie könnten mich hier nicht pflegen. Im Krankenhaus wird man mich vielleicht heilen, ich muß schon dahin gehen. Ach, weißt du, ich habe jetzt solche Sehnsucht, weiterzuleben, daß ich einverstanden wäre, stets eine Hand ins Feuer zu halten, wenn nur die andere Hand in der deinigen liegen dürfte. Und dann kannst du mich ja besuchen. Du brauchst dir also keine Besorgnisse um mich zu machen, ich werde gut gepflegt werden, dieser junge Mann hat es mir gesagt. Ich bekomme Geflügel im Krankenhaus, und es ist warm dort. Während ich mich so pflege, wirst du arbeiten, um Geld zu verdienen, und wenn ich geheilt bin, wohne ich wieder bei dir. Ich habe jetzt wieder starke Hoffnung. Wenn ich zurückkomme, bin ich wieder hübsch wie früher. Ich war schon einmal krank in der Zeit, da du mich noch nicht kanntest, und man hat mich geheilt. Trotzdem war ich damals nicht glücklich, und ich hätte eigentlich sterben müssen. Jetzt, da ich dich wiedergefunden habe, und wir glücklich sein können, wird man mich sicher heilen, denn ich werde mich tapfer gegen die Krankheit wehren. Ich werde alle die bitteren Sachen schlucken, die man mir geben wird, und wenn der Tod mich holen will, dann muß er es schon mit Gewalt tun. Reich' mir den Spiegel, ich glaube, ich habe schon wieder etwas Farbe bekommen. Ja,« sagte sie, indem sie sich im Spiegel betrachtete, »meine Wangen röten sich schon wieder, und meine Hände sind noch immer sehr schön. Küsse sie noch einmal, armer Freund, es wird nicht das letztemal sein.« Damit umschlang sie seinen Hals und badete sein Gesicht in ihrem aufgelösten Haar.

Bevor sie ins Krankenhaus übersiedelte, wollte sie, daß die Zigeuner einen Abend mit ihr verbrächten. »Macht, daß ich lache,« sagte sie, »die Fröhlichkeit ist meine Gesundung. Diese Schlafmütze von einem Vicomte hat mich krank gemacht. Stellen Sie sich vor, er verlangte, daß ich Orthographie lerne. Was sollte ich damit anfangen? Und dann seine Freunde – was war das für eine Gesellschaft? Ein richtiger Geflügelhof, in dem der Vicomte der Pfau war. Er zählte selbst seine Wäschestücke. Wenn er sich jemals verheiratet, dann wird er auch die Kinder zur Welt bringen.«

Nichts konnte furchtbarer sein, als die fast aus dem Grab geholte Lustigkeit des unglücklichen Mädchens. Die Zigeuner gaben sich alle Mühe, nicht in Tränen auszubrechen und das Gespräch in diesem heiteren Ton weiterzuführen, den das arme, dem Tod geweihte Kind angeschlagen hatte.

Am nächsten Morgen erhielt Rudolf den Aufnahmeschein vom Krankenhaus. Mimi war so schwach, daß sie sich nicht auf den Beinen halten konnte, und man mußte sie zu dem Wagen hinuntertragen. Während der Fahrt litt sie furchtbar durch die Stöße der Droschke. Aber mitten unter ihren Schmerzen war das, was zuletzt bei allen Frauen stirbt, ihre Koketterie, noch lebendig. Zwei- oder dreimal ließ sie den Wagen vor Modewarengeschäften halten, um sich die Schaufenster anzusehen.

Als Mimi den Saal betrat, der ihr durch den Aufnahmeschein zugewiesen war, wurde ihr das Herz mit einemmal sehr schwer. Irgendein inneres Gefühl sagte ihr, daß sie innerhalb dieser trostlosen Mauern sterben würde. Es bedurfte ihrer ganzen Willensanspannung, um dieses erstarrende Gefühl des Unheils zu verbergen.

Als sie im Bett lag, küßte sie Rudolf noch ein letztes Mal und sagte ihm Lebewohl, indem sie ihn bat, am folgenden Sonntag, dem öffentlichen Besuchstag, wiederzukommen.

»Es riecht hier nicht gut«, sagte sie. »Bringe mir Blumen, Veilchen, es gibt noch welche.«

»Ja,« sagte Rudolf, »auf Wiedersehn am Sonntag!«

Und er zog die Vorhänge ihres Bettes zu. Als Mimi die im Flur verhallenden Schritte ihres Geliebten hörte, wurde sie plötzlich von einer fast wahnsinnigen Erregung ergriffen. Sie öffnete plötzlich die Vorhänge, lehnte sich halb hinaus und schrie unter Tränen: »Rudolf, nimm mich mit, ich will von hier fort!«

Die Schwester lief bei ihrem Schrei hinzu und suchte sie zu beruhigen.

»Ach,« sagte Mimi, »ich werde hier sterben.«

Am Sonntag morgen, an dem Tage, da er Mimi sehen sollte, erinnerte sich Rudolf, daß er ihr Veilchen versprochen hatte. Aus einer Art abergläubischer Stimmung ging er trotz des abscheulichen Wetters zu Fuß nach den Wäldchen von Aulnay und Fontenay, wo er so oft mit Mimi gewesen war, und suchte dort nach Veilchen. Er fand die Landschaft, die unter der strahlenden Sommersonne so herrlich und froh gewesen war, düster und eisig. Zwei Stunden lang suchte er unter den schneebedeckten Büschen, hob mit einem kleinen Stock Äste und Heidekraut auf und fand schließlich gerade am Teich von Plessis, wo sie sich oft gelagert hatten, einige winzige Blüten.

Als er auf dem Rückweg nach Paris durch das Dorf Châtillon kam, begegnete ihm auf dem Kirchplatz ein Taufzug, in welchem er einen seiner Freunde erkannte, der mit einer Sängerin von der Großen Oper Taufzeuge war.

»Was, zum Teufel, machen Sie denn hier?« fragte der Freund sehr erstaunt, weil er Rudolf hier auf dem Lande sah.

Der Dichter erzählte ihm das Vorgefallene.

Der junge Mann, der Mimi gut gekannt hatte, fühlte sich von dem Bericht sehr ergriffen. Er zog eine Tüte mit Bonbons von der Tauffeier aus seiner Tasche und überreichte sie Rudolf.

»Die arme Mimi! Geben Sie ihr das von mir, und sagen Sie ihr, ich würde sie besuchen.«

»Dann müssen Sie aber bald kommen, wenn Sie sie noch sehen wollen«, sagte Rudolf, indem er sich verabschiedete.

Als Rudolf ins Krankenhaus kam, umfing ihn Mimi, die sich nicht mehr rühren konnte, mit einem zärtlichen Blick.

»Ah, meine Blumen!« rief sie mit dem Lächeln der erfüllten Sehnsucht.

Rudolf schilderte ihr seine Irrfahrt durch diese Gegend, die einst das Paradies ihrer Liebe gewesen war.

»Die lieben Blumen«, sagte das arme Mädchen und küßte die Veilchen. Auch die Bonbons machten sie sehr glücklich. »Man hat mich also doch noch nicht ganz vergessen«, sagte sie zu Rudolf. »Wie gut seid ihr doch alle, ihr, meine Freunde. Ah, ich liebe sie alle, deine Kameraden!«

Das Zusammensein verlief in fast fröhlicher Stimmung. Schaunard und Colline waren ebenfalls gekommen, und die Krankenwärter mußten sie nachher zwingen, zu gehen, denn die Besuchsstunde war schon überschritten.

»Adieu«, sagte Mimi. »Also bestimmt Donnerstag, und kommt recht früh.«

Als Rudolf den Tag darauf abends nach Hause kam, fand er den Brief eines Assistenzarztes vom Krankenhaus, dem er seine Freundin besonders empfohlen hatte. Der Brief enthielt nur die Worte:

»Mein Freund, ich habe Ihnen eine schlimme Nachricht mitzuteilen. Nummer 8 ist tot. Als ich heute morgen durch den Saal ging, fand ich das Bett leer.«

Rudolf fiel auf einen Stuhl, ohne daß er eine Träne vergießen konnte. Als später Marcel kam, fand er seinen Freund in derselben stumpfen Haltung. Ohne zu sprechen, reichte ihm der Dichter den Brief.

»Das arme Mädchen!« sagte Marcel.

»Es ist doch merkwürdig,« meinte Rudolf, »ich empfinde gar keinen Schmerz. War wohl doch meine Liebe schon tot, als ich erfuhr, daß Mimi sterben sollte?«

»Wer weiß?« murmelte der Maler.

Der Tod Mimis erregte in dem Zigeunerkreis große Trauer.

Acht Tage später traf Rudolf auf der Straße den Assistenzarzt, der ihm den Tod seiner Geliebten mitgeteilt hatte.

»Ach, mein lieber Rudolf«, rief dieser, indem er auf den Dichter zueilte. »Verzeihen Sie mir den Schmerz, den ich Ihnen durch meine Übereilung verursachte.«

»Was meinen Sie damit?« fragte Rudolf erstaunt.

»Wie,« erwiderte der junge Arzt, »Sie wissen es nicht? Sie haben sie nicht wiedergesehen?«

»Wen?« schrie Rudolf. »Nun, Mimi!«

»Was?« sagte der Dichter und wurde ganz bleich.

»Ich hatte mich geirrt. Als ich Ihnen die schreckliche Nachricht mitteilte, war ich das Opfer einer Täuschung. Die Sache kam so. Ich war zwei Tage nicht im Krankenhaus gewesen. Als ich nun wiederkam und meinen ärztlichen Rundgang machte, fand ich das Bett Ihrer Freundin leer. Ich fragte die Schwester, wo die Kranke sich befände, und sie antwortete mir, sie sei in der Nacht gestorben. Aber es war anders gewesen. Während meiner Abwesenheit hatte man Mimi in einen anderen Saal gebracht, und in das von ihr verlassene Bett wurde eine neue Kranke gelegt, die während der Nacht starb. So erklärt sich der Irrtum, dem ich verfiel. Am nächsten Tag fand ich dann Mimi in einem benachbarten Saal. Ihr Ausbleiben hat sie in schreckliche Erregung versetzt, und sie gab mir einen Brief für Sie. Ich habe ihn sofort selbst in Ihre Wohnung gebracht.«

»Ach, du lieber Gott,« schrie Rudolf, »seitdem ich glaubte, daß Mimi tot sei, bin ich überhaupt nicht zu Hause gewesen. Ich habe bei dem ersten besten Bekannten geschlafen, wo ich mich gerade befand. Mimi lebt! Oh, mein Gott, was muß sie über mein Fernbleiben denken! Das arme, arme Mädchen! Wie geht es ihr? Wann haben Sie sie gesehen?«

»Vorgestern morgen, es ging ihr weder besser noch schlechter. Sie ist sehr unruhig und hält Sie für krank.«

»Bringen Sie mich gleich zur Pitié,« sagte Rudolf, »damit ich sie sprechen kann.«

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte der Assistenzarzt, als sie am Tor angekommen waren. »Ich lasse mir vom Direktor die Erlaubnis geben, Sie hineinzuführen.«

Rudolf wartete eine Viertelstunde in der Vorhalle. Als der Arzt zurückkam, ergriff er Rudolfs Hand.

»Mein Freund,« sagte er, »nehmen Sie an, der Brief, den ich Ihnen vor acht Tagen schrieb, hätte die Wahrheit enthalten.«

»Was!« rief Rudolf und mußte sich an einen Pfeiler lehnen. »Mimi ...«

»Diesen Morgen um vier Uhr!«

»Bitte führen Sie mich in den Sektionssaal, ich möchte sie noch einmal sehen.«

»Sie ist nicht mehr dort«, sagte der Assistenzarzt. Dann wies er auf einen großen Wagen, der im Hof vor einer Halle mit der Aufschrift ›Sektionssaal‹ stand.

»Dort ist sie«, sagte er.

Es war in der Tat der Wagen, mit dem man die nicht reklamierten Leichen in das Massengrab überführte.

»Adieu«, sagte Rudolf zu dem Assistenzarzt.

»Wollen Sie, daß ich Sie begleite?« schlug dieser vor.

»Nein«, sagte Rudolf, sich verabschiedend. »Ich möchte allein sein.«


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