Henry Murger
Die Bohème
Henry Murger

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IV. Ali Rudolf oder der Türke wider Willen

Rudolf, den ein ungastlicher Hauswirt schnöde seines Obdachs beraubt hatte, lebte seit einiger Zeit unsteter als die Wolken und brachte es jetzt in der Kunst, entweder auf sein Abendessen oder auf sein Nachtlogis zu verzichten, ziemlich weit. Der Zufall war sein Koch und der freie Himmel sein Hotelwirt.

Zwei Dinge aber verließen Rudolf in allen diesen Widerwärtigkeiten nicht, das waren seine gute Laune und das Manuskript des ›Rächers‹, eines Dramas, das bereits eine Rundreise über alle Theaterstationen von Paris gemacht hatte.

Eines Tages, als man Rudolf wegen einer allzutollen Aufführung in einem Tanzlokal zur Wache gebracht hatte, traf er dort seinen Onkel, den Herrn Monetti, der von Beruf Ofenfabrikant und außerdem Sergeant bei der Nationalgarde war. Rudolf hatte ihn seit ewigen Zeiten nicht mehr gesehen, und der Onkel, den das Unglück seines Neffen rührte, versprach ihm, seine Lage zu verbessern, wobei er aber zugleich auf seinen eigenen Vorteil bedacht war.

Er brachte ihn in seinem Hause in einem kleinen Mansardenzimmer unter, das eigentlich nur ein Lagerraum für Ofen und Ofenteile war. Das übrige Mobiliar bestand aus einer an zwei Nägeln festgebundenen Hängematte, einem Gartenstuhl, dem ein Bein fehlte, einem Leuchter und einigen ähnlichen Kunstgegenständen.

Vor dem Zimmer lag noch ein Balkon mit wundervoller Aussicht, und dieser Balkon konnte in der warmen Jahreszeit durch zwei in Töpfen gezogene Zwergzypressen in einen Park verwandelt werden.

Ein Besucher, der zufällig in dieses hochgelegene Zimmer gekommen wäre, hätte dort einen jungen Menschen im Operettenkostüm eines Türken gefunden, der gerade eine Mahlzeit beendete, durch welche die Gesetze des Propheten in schnödester Weise verletzt wurden. Denn man sah noch die Überreste eines Schinkens und eine Flasche, die einmal mit Wein gefüllt gewesen. Der junge Türke setzte sich jetzt in orientalischer Weise auf den Fußboden und begann an Stelle einer Nargileh aus einer billigen Tonpfeife zu rauchen. Doch war die asiatische Behaglichkeit, in der er dahinträumte, durchaus echt, und nur von Zeit zu Zeit machte er eine Bewegung, indem er einen hübschen Neufundländer streichelte, der leider aus Terrakotta war und daher seine Liebkosungen nicht erwidern konnte. Plötzlich ließ sich draußen auf dem Flur ein Geräusch hören, die Tür öffnete sich, und ein Mann trat herein, der, ohne ein Wort zu sagen, auf einen als Sekretär dienenden Ofen zutrat und aus dem Innern eine Rolle Papiere herauszog, die er sich aufmerksam ansah.

»Du hast ja noch immer nicht das Kapitel über die Zugöfen beendet?« sagte der Ankömmling in einem stark piemontesischen Dialekt.

»Verzeihung, lieber Onkel«, erwiderte der Türke. »Das Kapitel über die Zugöfen ist wohl das interessanteste in Ihrem ganzen Werk. Man muß es sorgfältig studieren, ich bin gerade dabei.«

»Aber das sagst du mir doch jeden Tag, du Unglücksmensch. Und wie steht es mit dem Kapitel über die Mantelöfen?«

»Damit komme ich schon weiter. Aber bei der Gelegenheit, lieber Onkel, möchte ich dich bitten, mir noch etwas Holz heraufzuschicken, es herrscht hier eine sibirische Kälte. Ich friere so sehr, daß das Thermometer unter Null sinkt, wenn ich's nur ansehe.«

»Immer Holz«, seufzte der Onkel. »Nun gut, ich werde dir noch welches schicken, aber ich verlange dafür auch zu morgen das Kapitel über die Mantelöfen.«

»Wenn ich Feuer habe, habe ich auch Ideen«, sagte der Türke, der jetzt wieder in seinem Zimmer eingeschlossen wurde.

Rudolf, der hier so als Türke hauste, hatte von seinem Onkel den ehrenvollen Auftrag erhalten, einen Führer durch die Geheimnisse des Ofenbaus zu schreiben, mit dem dann der Onkel seinen eigenen Namen unsterblich machen wollte.

Um den Neffen zu der neuen Arbeit anzufeuern, hatte Monetti ihm in den ersten Tagen einen Vorschuß von fünfzig Franken gegeben. Aber Rudolf, der seit fast einem Jahr eine solche Summe nicht mehr beisammengesehen hatte, war halb berauscht in Gesellschaft dieser fünfzig Franken ausgegangen und nach vier Tagen ohne dieselben wieder zurückgekehrt.

Monetti, der sein Handbuch möglichst bald beendet sehen wollte, denn er sah sich schon mit einem Ehrendiplom belohnt, hatte Angst, sein Neffe möchte von neuem entweichen. Und um ihn zum Arbeiten zu zwingen und ihn zugleich am Ausgehen zu verhindern, nahm er ihm die Kleider weg und beließ ihm dafür das Kostüm, das er jetzt trug. Trotzdem ging es mit dem herrlichen Führer nur sehr, sehr langsam vorwärts, denn Rudolf hatte absolut keine Begabung für diese Art von Literatur. Für diese träge Gleichgültigkeit rächte sich dann der Onkel wieder, indem er seinem Neffen bald die Mahlzeiten verkürzte, bald ihm den Rauchtabak entzog.

Eines Sonntags, als Rudolf wieder einmal bei seinem entsetzlichen Zugofenkapitel Blut und Tinte geschwitzt hatte, zerbrach er die Feder, die ihm zwischen den Fingern brannte, und trat in seinen Balkonpark hinaus, wo er auf und ab marschierte.

Aber wie um seine Qual noch zu verstärken, konnte er keinen Blick nach außen werfen, ohne an jedem Fenster einen Raucher zu bemerken. Auf dem goldbronzierten Balkon eines neuen Hauses saß ein Gigerl im Schlafrock und kaute an einer vornehmen Havannazigarre. Ein Stockwerk darüber blies ein Maler den duftenden Rauch eines türkischen Tabaks von sich, der in einer Pfeife mit Bernsteinmundstück brannte. Am Fenster einer Schenke ließ ein dicker Deutscher sein Bier schäumen und stieß mit der Regelmäßigkeit einer Maschine schwere Rauchwolken aus seinem porzellanenen Pfeifenkopf. Über die Straßen zogen Gruppen von Arbeitern, die kurze Stummelpfeifen in den Zähnen hielten und lustige Lieder sangen. Überhaupt rauchten alle Fußgänger, die die Straße durchzogen.

»Ach,« seufzte Rudolf voller Neid, »außer mir und den Öfen meines Onkels raucht doch alles zu dieser Stunde der Schöpfung.« Plötzlich wurde unter ihm ein helles, liebliches Lachen vernehmbar. Rudolf beugte sich etwas über den Balkon hinaus und bemerkte, daß ihn die Mieterin des unter ihm befindlichen Stockwerks bemerkt hatte, Fräulein Sidonie, die junge erste Liebhaberin am Luxembourgtheater.

Fräulein Sidonie trat an das Gitter ihres Balkons, indem sie mit entzückender Gewandtheit eine Zigarette drehte, wobei sie den Tabak aus einem bestickten Samtbeutel nahm.

»O dieser schöne Tabaksbeutel«, murmelte Rudolf in nachdenklicher Bewunderung.

»Was ist denn das für ein Ali Baba?« dachte inzwischen Fräulein Sidonie. Und um einen Vorwand zu einer Unterhaltung mit Rudolf zu finden, rief sie plötzlich vor sich hin: »Ach Gott, das ist doch ärgerlich, ich habe keine Streichhölzer.«

»Mein Fräulein, darf ich Ihnen welche anbieten?« fragte Rudolf und ließ zwei oder drei, die er in ein Stückchen Papier gewickelt hatte, auf ihren Balkon hinabfallen.

»Tausend Dank!« antwortete Sidonie und zündete ihre Zigarette an.

»Ach, mein Fräulein,« fuhr Rudolf fort, »als Entgelt für den kleinen Dienst, den ein gütiges Schicksal mir erlaubt hat, Ihnen zu erweisen, wage ich es, eine Bitte an Sie zu richten.«

»Er bittet schon!« dachte Sidonie und betrachtete Rudolf etwas aufmerksamer. »Na ja, diese Türken, sie sind flatterhaft, aber sonst sehr nett. Sprechen Sie, mein Herr«, sagte sie laut, indem sie ihr Gesicht zu Rudolf emporhob. »Was ist Ihr Wunsch?«

»Ach, mein Fräulein, ich möchte Sie nur um die milde Gabe von ein wenig Tabak bitten. Seit zwei Tagen habe ich nicht mehr geraucht. Nur eine Pfeife ...«

»Aber gern, mein Herr. Nur weiß ich nicht, wie ich sie Ihnen geben soll ... vielleicht steigen Sie ein Stockwerk tiefer.«

»Leider ist mir das nicht möglich ... ich bin eingeschlossen. Aber es gibt da ein sehr einfaches Mittel.«

Damit band Rudolf seine Pfeife an einen Bindfaden und ließ sie auf den Balkon hinab, wo Fräulein Sidonie sie eigenhändig und ausgiebig stopfte. Rudolf zog sie behutsam wieder herauf, ohne daß sie Schaden litt.

»Ach, mein Fräulein,« sagte er zu Sidonie, »wieviel köstlicher würde mir diese Pfeife schmecken, wenn ich sie mit dem Feuer Ihrer Augen hätte entzünden können.«

Diese liebenswürdige Schmeichelei war zwar durchaus nicht neu, aber Fräulein Sidonie fand sie trotzdem sehr nett.

»Sie schmeicheln mir«, glaubte sie erwidern zu müssen.

»O, mein Fräulein, ich versichere Ihnen, Sie sind schöner als die drei Grazien.«

»Ali Baba ist entschieden galant«, dachte Sidonie. »Sind Sie eigentlich ein wirklicher Türke?« fragte sie Rudolf.

»Nicht aus Neigung, sondern nur durch die Not gezwungen«, antwortete er. »Ich bin dramatischer Schriftsteller.«

»Und ich Schauspielerin«, erwiderte Sidonie. »Herr Nachbar,« fügte sie dann hinzu, »darf ich Sie einladen, bei mir zu dinieren und den Abend zu verbringen?«

»Ach, verehrtes Fräulein, obgleich diese Einladung mir den ganzen Himmel auftut, kann ich sie doch nicht annehmen. Wie ich schon vorhin sagte, hat mich mein Onkel, Herr Monetti, der Ofenfabrikant, dessen Sekretär ich augenblicklich bin, hier eingeschlossen.«

»Trotzdem sollen Sie mit mir speisen«, antwortete Sidonie. »Hören Sie zu. Ich gehe jetzt in mein Zimmer und klopfe an meine Decke. An der Stelle, wo ich klopfe, befindet sich eine kleine Falltür, die man zugenagelt hat. Sie werden das Stück Holz, das das Loch verschließt, schon aufbringen, und dann werden wir, wenn auch jeder in seinem Zimmer bleibt, doch wie zusammen sein. Rudolf machte sich gleich an die Arbeit, und nach fünf Minuten war eine Verbindung zwischen den beiden Zimmern hergestellt. »Das Loch ist leider sehr klein,« meinte Rudolf, »aber es bietet genügend Raum, um Ihnen mein Herz hinabzusenden.«

»Jetzt wollen wir speisen«, sagte Sidonie. »Decken Sie bei sich, ich werde Ihnen die Schüsseln zureichen.«

Rudolf ließ seinen Turban an einem Bindfaden herab und zog ihn, mit Eßwaren beladen, wieder herauf. Dann begannen der Dichter und die Künstlerin, jedes in seinem Zimmer, ihre gemeinsame Mahlzeit. Mit den Zähnen verschlang Rudolf die Pastete, aber nicht minder mit den Augen Fräulein Sidonie.

»Ach, mein Fräulein,« sagte Rudolf nach dem Essen, »Ihre Güte hat den Hunger meines Magens gestillt. Könnten Sie nicht auch den Hunger meines Herzens stillen, das schon so lange gefastet hat?«

»Armer Junge!« sagte Sidonie, und indem sie sich auf einen Tisch stellte, hielt sie Rudolf ihre Hand an die Lippen, die er mit Küssen bedeckte.

Später begann eine verliebt-literarische Unterhaltung. Rudolf erzählte von seinem Drama ›Der Rächer‹ und Fräulein Sidonie bat ihn, es vorzulesen. Über den Rand der Falltür hingelehnt, begann er nun der Schauspielerin, die, um besser hören zu können, ihren Stuhl auf eine Kommode gestellt hatte, sein Kunstwerk vorzulesen. Sie erklärte den ›Rächer‹ für ein Meisterwerk und versprach Rudolf, bei ihrem Theater, wo sie einen entscheidenden Einfluß hatte, die Aufführung durchzusetzen.

Mitten in der zärtlichsten Unterhaltung hörte Rudolf auf dem Flur den gebieterischen Schritt seines Onkels Monetti, und er hatte gerade noch Zeit, die Falltür zu schließen.

»Hier ist ein Brief,« sagte Monetti, »der dich schon seit einem Monat sucht.«

»Was kann das sein?« fragte Rudolf und riß ihn auf. »O, lieber Onkel,« rief er aus, »jetzt bin ich reich! Dieser Brief teilt mir mit, daß ich einen Preis von dreihundert Franken bei einem Ausschreiben der Blumenspiele erhalten habe. Bring mir schnell meinen Überzieher und meine Sachen, damit ich meine Lorbeeren pflücke. Das Kapitol wartet meiner!«

»Und mein Kapitel über die Zugöfen?« fragte Monetti kühl.

»Aber, mein Onkel, das hat doch jetzt noch Zeit. Ich brauche meine Sachen, denn ich kann doch nicht in diesem Anzug ausgehen.«

»Du wirst nicht eher ausgehen, bis mein Leitfaden fertig ist«, sagte der Onkel und verschloß die Tür wieder sorgfältig.

Als Rudolf allein war, überlegte er nicht lange, welchen Entschluß er fassen sollte. Er befestigte an seinem Balkon eine Bettdecke, aus der er einen Knotenstrick gemacht hatte, und stieg trotz der Gefahr dieses Versuchs daran auf den Balkon von Fräulein Sidonie hinab.

»Wer ist da?« rief diese, als Rudolf an ihre Scheiben klopfte.

»Still«, antwortete er. »Öffnen Sie!«

»Barmherziger Himmel«, sagte die Schauspielerin. »Sie hätten sich den Tod holen können.«

»Hören Sie, Sidonie«, bat Rudolf und las ihr den Brief vor. »Sie sehen, Reichtum und Ruhm lächeln mir zu ... Sollte es die Liebe nicht auch können?«


Am nächsten Morgen verließ Rudolf mit Hilfe eines Anzuges, den ihm Sidonie verschafft hatte, das Haus seines Onkels. Er eilte zu dem Sekretär der Akademie der Blumenspiele, der ihm eine goldene Rose im Werte von dreihundert Franken überreichte, die nicht viel länger lebte, als es auch natürliche Rosen tun.

Einen Monat später erhielt Herr Monetti von seinem Neffen eine Einladung zur Erstaufführung des ›Rächers‹. Dank dem Talent Sidonies erlebte das Stück siebzehn Aufführungen und brachte seinem Autor vierzig Franken ein.

Einige Zeit darauf, es war zum Glück in der schönsten Jahreszeit, wohnte Rudolf auf der Avenue de Saint Cloud, auf dem fünften Ast des dritten Baumes links von dem Ausgang des Boulogner Wäldchens.


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