Henry Murger
Die Bohème
Henry Murger

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XI. Eine Aufnahme in den Zigeunerbund

An jenem Abend, da Carolus Barbemuche ein von den Zigeunern verzehrtes Souper aus seiner Privatschatulle bezahlte, richtete er es so ein, mit Gustav Colline zusammen den Heimweg anzutreten. Seitdem er an den Zusammenkünften der vier Freunde, denen er aus der Not geholfen, teilnahm, war er besonders auf Colline aufmerksam geworden und empfand für diesen Sokrates, dessen Plato er später werden sollte, eine besondere Sympathie. Unterwegs lud er Colline ein, mit ihm noch in ein Lokal zu gehen, und sie fanden auch noch ein Weinlokal, wo sie sich hinsetzten und Punsch bestellten.

Barbemuche war eigentlich ein etwas schüchterner Mensch, aber erregt von dem heißen Getränk, wurde er jetzt doch etwas gesprächig, und nachdem er einiges aus seinem Leben erzählt hatte, wagte er endlich seiner Hoffnung Ausdruck zu geben, daß er doch offiziell in den Zigeunerbund aufgenommen würde, und bat Colline, ihm zu helfen, dieses ehrgeizige Ziel zu erreichen.

»Hm,« sagte Colline bedächtig, »Sie pflegen doch die schönen Künste?«

»Ich bebaue bescheiden das edle Gefild der Wissenschaft«, antwortete Carolus.

Colline, dem der Satz gefiel, verneigte sich: »Sie verstehen doch auch etwas von Musik?« fragte er weiter.

»Ich habe Baßgeige gespielt.«

»Das ist ein philosophisches Instrument, es gibt so ernste Töne von sich. Aber wenn Sie musikalisch sind, dann werden Sie auch verstehen, daß man, ohne die Gesetze der Harmonie zu verletzen, zu einem Quartett nicht noch eine fünfte Person hinzufügen kann, weil es dann kein Quartett mehr ist.«

»Es wird ein Quintett«, antwortete Carolus.

»Jawohl, genau so, wie Sie zur Dreieinigkeit, diesem göttlichen Dreieck, noch eine vierte Person hinzufügen können, dann wird es ein Viereck, nur daß die Religion dann auch in ihren Grundlagen zerstört ist.«

»Erlauben Sie«, sagte Carolus, dessen Verständnis den verwickelten Gedankengängen Collines nicht so recht folgen konnte. »Ich verstehe nicht ...«

»Oh, es ist sehr einfach«, unterbrach ihn der Philosoph. »Sehen Sie, mein lieber Herr, ich und meine Freunde, wir sind gewohnt, zusammen zu leben, und wir fürchten, daß durch das Hinzukommen eines neuen Genossen die Harmonie gestört wird, die jetzt zwischen unseren Sitten, Ansichten, Liebhabereien und Charakteren besteht. Wir haben uns vorgenommen, eines Tages die vier Kardinalpunkte der Gegenwartskunst zu werden, und es würde uns stören, noch einen fünften Kardinalpunkt zu sehen.«

»Sie glauben also, daß es nicht so leicht ist, zur Ehre Ihres intimen Umgangs zu kommen?«

Der Philosoph gab keine direkte Antwort. »Sagen Sie mir, lieber Herr, welches ist auf dem edlen Gefild der Wissenschaft die Furche, die Sie am liebsten beackern?«

»Die großen Philosophen und die guten klassischen Autoren sind meine Vorbilder, ich nähre mich von ihrem Studium. Der ›Telemach‹ hat mir zuerst die Leidenschaft eingeflößt, die mich verzehrt.«»

Den ›Telemach‹ findet man häufig auf den Bücherkarren am Quai«, sagte Colline. »Ich habe noch neulich ein Exemplar für fünf Sous erstanden. Es war ein Gelegenheitskauf, ich will ihn Ihnen aber gern abtreten. Übrigens ein wertvolles Werk und für seine Zeit gut geschrieben.«

»Ja, mein Herr,« fuhr Carolus fort, »die höhere Philosophie und die gute Literatur, sie ziehen mich an. Für mich ist die Kunst ein Priestertum.«»

Ja, ja«, sagte Colline, der eine Uhr schlagen hörte und merkte, daß es schon spät war. »Ich fürchte, es ist schon morgen früh, und ich möchte eine Person, die mir teuer ist, nicht in Unruhe versetzen.«»

Ja, es ist wirklich spät, sagte Carolus. »Gehen wir nach Hause.«

»Wohnen Sie weit?« fragte Colline.»

Rue Royale Saint Honoré Nr. 10.«

Colline erinnerte sich, schon einmal in diesem Miethause, einem prächtigen Gebäude, gewesen zu sein.

»Ich werde mit den Herren über Sie reden«, sagte er, sich verabschiedend, zu Carolus. »Sie können sicher sein, daß ich zu Ihren Gunsten spreche. Übrigens, gestatten Sie mir, daß ich Ihnen einen Rat gebe?«

»Sprechen Sie!« sagte Carolus.

»Seien Sie besonders liebenswürdig und galant gegen die drei Damen, denn diese üben einen großen Einfluß auf meine Freunde aus. Unter dem Einfluß ihrer Geliebten werden Sie alles von Marcel, Schaunard und Rudolf erreichen können.«

»Ich werde mir Mühe geben«, sagte Carolus.

Am nächsten Morgen geriet Colline gerade zur Frühstückszeit in den Kreis seiner Freunde. Die drei Liebespaare gaben sich zufällig einer Orgie von Artischocken mit gepfefferter Sauce hin. »Hier gehts ja verflucht großartig zu,« sagte Colline, »das kann nicht lange mehr dauern. Ich komme als Gesandter des edelmütigen Sterblichen, mit dem wir gestern hier im Café zusammen waren.«

»Will er schon wieder sein Geld zurückhaben, das er für uns ausgelegt hat?« fragte Marcel.

»Oh,« sagte Fräulein Mimi, »das hätte ich nicht von ihm gedacht, er macht einen so anständigen Eindruck.«

»Nicht darum handelt es sich«, fuhr Colline fort. »Dieser junge Mann wünscht, einer der Unsrigen zu werden. Er will Anteile unserer Gesellschaft erwerben und natürlich an ihren Vergünstigungen teilnehmen.«

Die drei Zigeuner erhoben ihre Köpfe und sahen sich an.

»Welche gesellschaftliche Stellung nimmt dein Schützling ein?« fragte Rudolf.

»Er ist nicht mein Schützling«, antwortete Colline. »Ihr habt mich gebeten, ihm zu folgen, und er seinerseits hat mich eingeladen, ihn zu begleiten. Er hat mir einen Teil der Nacht mit Aufmerksamkeiten und seinen Likören verkürzt, aber trotzdem habe ich meine Unabhängigkeit bewahrt.«

»Sehr gut«, sagte Schaunard.

»Skizziere uns doch die Hauptseiten seines Charakters«, sagte Marcel.

»Edle Seele, Sittenstrenge, gute Schulbildung, ist die Offenheit selbst, spielt die Baßgeige, wechselt oft Fünffrankstücke.«

»Sehr gut«, sagte Schaunard. »Und was will er?«

»Ich habe es schon gesagt. Er hegt den grenzenlosen Ehrgeiz, uns duzen zu dürfen.«

»Das heißt, er will uns ausbeuten«, erwiderte Marcel. »Er will vorwärtskommen, indem er sich auf unsern Wagen setzt.«

»Was für eine Kunst treibt er?« fragte Rudolf.

»Kunst?« sagte Colline. »Nun, Literatur und Philosophie gemischt.«

»Was für philosophische Kenntnisse besitzt er?«

»Seine Philosophie ist etwas rückständig. Er nennt die Kunst ein Priestertum.«

»Priestertum hat er gesagt?« fragte Rudolf verblüfft.

»So sagte er.«

»Und was sind seine Ansichten in der Literatur?«

»Er liest ›Telemach‹.«

»Sehr gut«, sagte Schaunard und kaute an seinen Artischockenblättern.

»Was? Sehr gut, du Esel?« unterbrach ihn Marcel. »Sage so was nicht in der Öffentlichkeit.«

»Noch einmal,« fragte Rudolf, »welche gesellschaftliche Stellung nimmt er ein? Wovon lebt er? Wie heißt er? Wo wohnt er?«

»Er nimmt eine ansehnliche Stellung ein. Er ist Lehrer für alles im Schoße einer reichen Familie. Er heißt Carolus Barbemuche und verzehrt seine Einkünfte in vornehmer Weise. Seine Wohnung ist in der Rue Royale.«

»Wohnt er möbliert?«

»Nein, er hat eigene Möbel.«

»Ich bitte ums Wort«, sagte Marcel. »Es ist für mich klar, daß Colline bestochen ist. Er hat sich für eine Reihe von Likörgläschen verkauft und uns ein Bild von diesem Fremden entworfen, das viel zu günstig ist, um wahr zu sein. Nein, wie ich schon gesagt habe, der Fremde will nur auf uns spekulieren, durch uns Ruhm erwerben.«

»Sehr gut«, sagte Schaunard. »Ist denn keine Sauce mehr da?«

»Nein,« antwortete Rudolf, »die Auflage ist vergriffen.«

»Auf der anderen Seite«, fuhr Marcel fort, »hegt vielleicht dieser arglistige Fremde noch schwärzere Pläne. Wir sind hier nicht allein, meine Herren«, fuhr er fort und warf einen sprechenden Blick auf die Damen. »Wie wäre es, wenn dieser Schützling Collines, der sich unter dem Mantel der Literatur bei uns einschleicht, ein schurkischer Verführer wäre? Überlegen Sie wohl. Ich jedenfalls stimme gegen seine Aufnahme.«

»Meine Herren,« sagte Colline erregt, »die Eifersucht, die unseren Freund Marcel verzehrt, hat ihn seiner Sinne beraubt ...«

»Zur Ordnung!« brüllte Marcel.

»Jawohl, sie hat ihn verrückt gemacht, aber ich werde mit einem Wort alle diesbezüglichen Bedenken zerstreuen. Marcels Bemerkung war eine Beleidigung für die Tugend dieser Damen, aber noch mehr, es war eine Beschimpfung ihres guten Geschmacks. Carolus Barbemuche ist nämlich sehr häßlich.«

Bei dieser Behauptung wurde ein entschiedener Widerspruch auf dem Gesicht der Schminkeuphemia sichtbar. Unter dem Tisch entstand ein Geräusch. Es war Schaunard, der mit Fußtritten die kompromittierende Offenheit seiner jungen Freundin tadelte. »Außerdem«, fuhr Colline fort, »kann ich den elenden Angriff meines Gegners mit einem Wort beseitigen, indem ich Ihnen mitteile, daß besagter Carolus der platonischen Philosophie huldigt.«

Dieser Aufklärung folgte Erstaunen bei den Herren, heftiger Unwille bei den Damen.

»Was ist das, platonische Philosophie?« fragte Euphemia.

»Es ist eine Art Krankheit bei Männern, die es nicht wagen, eine Frau zu umarmen«, sagte Mimi. »Ich hatte einmal einen solchen Liebhaber, behielt ihn aber keine zwei Stunden.«

»Solche Dummköpfe!« meinte Fräulein Dudelsack.

»Du hast recht, meine Liebe«, sagte Marcel zu ihr. »Der Platonismus in der Liebe ist wie das Wasser beim Wein. Wir trinken unseren Wein ungemischt.«

Die Erklärung Collines hatte eine günstige Stimmung für Carolus herbeigeführt, und der Philosoph wollte sie ausnutzen. »Ich begreife also wirklich nicht,« fuhr er fort, »was man gegen diesen jungen Menschen einzuwenden hat, der uns doch immerhin einen Dienst erwiesen hat. Was dann aber die Anklage angeht, ich hätte mich bestechen lassen, so betrachte ich das als eine schwere Beleidigung meiner Würde. Ich bin in der ganzen Angelegenheit mit der Klugheit einer Schlange vorgegangen, und wenn mir nicht durch ein ausdrückliches Vertrauensvotum diese Klugheit bestätigt wird, dann erkläre ich meine Demission.«

»Du willst also die Kabinettsfrage stellen?« fragte Marcel.

»Jawohl«, antwortete Colline.

Die drei Zigeuner berieten sich und einigten sich dann einstimmig, dem Philosophen die verlangte Anerkennung seiner großen Klugheit auszusprechen. Marcel ergriff nun das Wort und erklärte, er würde vielleicht für den Antrag Collines stimmen, verlangte aber die Annahme folgenden Zusatzaktes:

»Da die Einführung eines neuen Mitgliedes in den Bund eine ernsthafte Sache ist, und ein Fremder, der Sitten, Gewohnheiten und Meinungen seiner Kameraden nicht kennt, Elemente der Zwietracht einschleppen kann, so soll jedes Mitglied einen Tag mit dem besagten Carolus verbringen und sein Leben, seinen Geschmack, seine literarischen Fähigkeiten und seine Garderobe genau erkundigen. Die Zigeuner werden dann ihre besonderen Erfahrungen miteinander austauschen und sich über die Aufnahme oder Nichtaufnahme schlüssig werden. Im übrigen muß sich Carolus vor dieser Aufnahme einem Noviziat von einem Monat unterwerfen und darf die Mitglieder vor Ablauf dieser Zeit weder duzen noch Arm in Arm mit ihnen über die Straße gehen. Am Tage der eigentlichen Aufnahme wird ein glänzendes Fest auf Kosten des neuen Mitgliedes gefeiert. Die Kosten dieser Genüsse müssen sich auf mindestens zwölf Franken belaufen.«

Dieser Zusatzakt wurde einmütig angenommen.

Am selben Abend ging Colline absichtlich recht früh ins Café, um als erster Carolus zu sehen. Er brauchte auch nicht lange zu warten, denn Carolus kam bald mit drei ungeheuren Rosensträußen an.

»Halt,« fragte Colline, »was wollen Sie mit diesem Garten machen?«

»Ich erinnerte mich Ihres guten Rats, und da Ihre Freunde sicherlich mit ihren Damen kommen, so bringe ich ihnen diese Blumen mit. Es sind sehr schöne Rosen.«

»Das sind sie, sie werden sicherlich fünfzehn Sous gekostet haben.«

»Wo denken Sie hin?« erwiderte Carolus. »Jetzt im Dezember? Sagen Sie lieber fünfzehn Franken.«

»Barmherziger Himmel,« schrie Colline, »drei Fünffrankstücke für diese einfachen Gaben Floras, welche Torheit! Sie besitzen wohl ein Silberbergwerk? Ach, lieber Herr, diese fünfzehn Franken werden Sie leider zum Fenster hinauswerfen müssen.«

»Wieso? Was wollen Sie damit sagen?«

Colline erzählte nun, was für eifersüchtige Vermutungen Marcel seinen Freunden gegenüber geäußert hatte, und welcher Streit darüber entstanden war. »Ich habe aufs schärfste betont,« fügte er hinzu, »daß Sie die reinsten Absichten hätten, aber die Opposition war trotzdem sehr stark. Hüten Sie sich also, neuen Verdacht zu erwecken, indem Sie zu galant gegen die Damen sind, und vor allem, lassen Sie zunächst einmal die Blumen verschwinden.«

Damit nahm Colline die Rosen und versteckte sie in einem Schrank, der mit allem möglichen Gerümpel angefüllt war. Dann teilte er Barbemuche noch die anderen Aufnahmebedingungen mit, entwarf ihm ein schnelles Bild der Eigenheiten der drei Zigeuner und riet ihm, sich auf jeden besonders einzustellen.

Die drei Freunde kamen übrigens bald, und sie brachten wieder ihre Gemahlinnen mit.

Rudolf zeigte sich höflich gegen Carolus, Schaunard wurde vertraulich, Marcel aber blieb kalt. Carolus seinerseits bemühte sich, herzlich und heiter gegen die Herren, dagegen sehr zurückhaltend gegen die Damen zu sein.

Beim Aufbrechen lud Barbemuche Rudolf für den nächsten Tag zum Diner ein, doch bat er ihn, schon zur Mittagsstunde zu kommen. Der Dichter nahm die Einladung an.

Als Rudolf am nächsten Morgen zur festgesetzten Zeit bei Carolus eintraf, fand er, daß dieser in der Tat in einem sehr schönen Miethaus ein elegant eingerichtetes Zimmer bewohnte. Nur wunderte sich Rudolf, daß mitten am hellen Tage die Fensterläden geschlossen, die Vorhänge herabgelassen waren und zwei Kerzen auf einem Tische brannten.

»Ja,« sagte Barbemuche, »nur im Geheimnisvollen und in der Stille gedeiht die Wissenschaft.« Sie nahmen nun Platz und plauderten, bis es nach einer Stunde Carolus gelang, seinen Gast zum Anhören eines selbstverfaßten kleinen Werkes zu bewegen. Rudolf ahnte, was ihm bevorstand, aber er war doch auch neugierig, den Stil Barbemuches kennenzulernen, und versicherte, er sei entzückt, dieses Werk ...

Carolus wartete gar nicht den Schluß dieser Phrase ab. Er stürzte zur Tür, schloß sie von innen ab, schob noch den Riegel davor und kehrte zu Rudolf zurück. Dann nahm er ein kleines Heftchen zur Hand, dessen bescheidenes Format und geringe Dicke ein Lächeln der Befriedigung auf dem Gesicht des Dichters hervorriefen.

»Ist dies das Manuskript Ihres Werkes?« fragte Rudolf.

»Nein,« antwortete Carolus, »das ist nur der Katalog meiner Werke, und ich suche jetzt die Nummer des Werkes, das ich mit Ihrer freundlichen Erlaubnis Ihnen vorlesen will ... Hier haben wir es: ›Don Lopez oder das Verhängnis. Nr. 14‹ Es steht im dritten Fach.« Damit öffnete er einen kleinen Schrank, in dem Rudolf voller Staunen eine riesige Menge von Manuskripten bemerkte. Carolus nahm eines heraus, verschloß den Schrank und setzte sich dem Dichter gegenüber.

Rudolf warf einen Blick auf jedes der vier Hefte, die das Manuskript bildeten und auf einem Format geschrieben waren, das ihn an das Marsfeld erinnerte.

»Mut,« sagte er sich, »es sind ja keine Verse ... immerhin, es nennt sich ›Don Lopez‹.«

Carolus nahm das erste Heft und begann folgendermaßen:

»In einer kalten Winternacht sah man zwei Reiter, in lange Mäntel eingehüllt, auf trägen Maultieren über eine jener öden Landstraßen ziehen, die die schauerlichen Wüsten der Sierra Morena durchqueren ...«

»Um Gottes willen«, dachte Rudolf, ganz zu Boden geschmettert durch diese Einleitung, während Carolus ruhig in diesem Stil weiterlas.

Rudolf, der nur oberflächlich hinhörte, grübelte über ein Mittel zur Flucht. »Da ist das Fenster«, sagte er sich im stillen. »Aber, abgesehen davon, daß es verschlossen ist, befinden wir uns im vierten Stock. Ah, jetzt begreife ich, warum er sich so eingeschlossen hat.«

»Nun, was halten Sie von meinem ersten Kapitel?« fragte Carolus. »Ich bitte Sie, legen Sie Ihrer Kritik keinen Zwang auf.«

»Die große Gestalt des Don Lopez«, antwortete Rudolf, der nur sehr unbestimmte Erinnerungen hatte, »ist sehr sorgfältig studiert. Auch gefällt mir die Beschreibung des Maultiers des Don Alvar außerordentlich, man sieht es lebendig vor sich, wie auch die Landschaft gut gezeichnet ist. In Ihren Ideen bemerkt man den Einfluß Rousseaus und Lesages. Indessen, gestatten Sie mir eine Bemerkung. Sie machen zu lange Sätze und brauchen zu häufig das Wort ›hinfüro‹. Es ist dies ein hübsches Wort, wenn es dann und wann einmal vorkommt, aber zu häufig gebraucht, verliert es an Wert.«

Carolus nahm das zweite Heft und las noch einmal den Titel: ›Don Lopez oder das Verhängnis‹.

»Ich habe früher einmal einen Don Lopez gekannt«, sagte Rudolf. »Er verkaufte Zigaretten und Bayonner Schokolade. Vielleicht war er mit Ihrem verwandt ... Aber, fahren Sie fort!«

Am Ende des zweiten Kapitels unterbrach der Dichter Carolus. »Tut Ihnen nicht Ihre Kehle etwas weh?« fragte er.

»Ganz und gar nicht«, antwortete Carolus. »Wir kommen jetzt zur Geschichte der Inesilla.«

»Ich bin darauf sehr gespannt ... Indes, wenn Sie müde sind, brauchen Sie nicht ...«

»Drittes Kapitel!« sagte Carolus mit klarer Stimme.

Rudolf betrachtete aufmerksam Carolus und bemerkte, daß er einen sehr kurzen Hals und eine blühende Gesichtsfarbe hatte. »Ich habe noch eine Hoffnung«, sagte der Dichter, als er diese Entdeckung machte. »Er könnte einen Schlaganfall bekommen.« Beim vierten Kapitel bemerkte Carolus plötzlich, daß Rudolf vorgeneigt auf seinem Stuhl saß, mit der Hand am Ohr und in der Haltung eines Mannes, der in die Ferne lauscht.

»Was haben Sie?« fragte er.

»Still!« sagte Rudolf. »Hören Sie es nicht? Es ist mir, als rufe jemand ›Feuer‹! Wollen wir einmal nachsehen?«

Carolus lauschte einen Moment, konnte aber nichts hören.

»Nun, vielleicht hat mir das Ohr geklungen«, sagte Rudolf. »Fahren Sie fort! Don Alvar interessiert mich ganz erstaunlich. Er ist ein ritterlicher Jüngling.«

Carolus fuhr fort zu lesen und legte allen Wohlklang seiner gewaltigen Stimme in folgende Worte des jungen Don Alvar: »O Inesilla, wer Sie auch sein mögen, Engel oder Dämon, und woher Sie auch stammen mögen, Ihnen weihe ich mein Leben, und ich folge Ihnen, sei es in den Himmel, sei es in die Hölle!« In diesem Augenblick klopfte es draußen an der Tür. Es war der Portier, der einen Brief brachte. Carolus riß ihn hastig auf. »Wie unangenehm«, sagte er. »Wir sind gezwungen, die Lektüre auf ein andermal zu verschieben. Ich muß leider sofort etwas besorgen.«

»Oh,« dachte Rudolf, »dieser Brief kam vom Himmel. Man sieht doch, daß es noch eine Vorsehung gibt.«

»Wenn es Ihnen recht ist,« fuhr Carolus fort, »dann erledigen wir gemeinsam diesen kleinen Gang und dinieren dann nachher.«

»Ich stehe zu Ihrer Verfügung«, sagte Rudolf.

Als er des Abends mit seinen Freunden zusammentraf, fragten diese ihn über Barbemuche aus.

»Bist du zufrieden mit ihm? Hat er dich gut bewirtet?« riefen sie. »Ja,« sagte Rudolf, »aber es ist mir teuer zu stehen gekommen.« »Wieso?« fragte Schaunard unwillig. »Carolus hat dich doch nicht etwa bezahlen lassen?«

»Er hat mir einen Roman vorgelesen, in denen Namen wie Don Lopez und Don Alvar vorkamen, und wo die Helden ihre Geliebten Engel oder Dämon nannten.«

»Entsetzlich!« riefen alle Zigeuner im Chor.

»Aber sonst,« fragte Colline, »abgesehen von seiner literarischen Begabung, was hältst du von Carolus?«

»Er ist ein braver junger Mann. Übrigens könnt ihr eure Beobachtungen selbst machen, er rechnet darauf, uns einen nach dem andern zu bewirten. Schaunard ist morgen an der Reihe. Nur wenn ihr zu Barbemuche geht, nehmt euch vor dem Manuskriptschrank in acht, er ist ein gefährliches Möbelstück.«

Schaunard kam pünktlich zum Stelldichein und nahm eine Untersuchung vor wie ein Untersuchungsrichter oder ein Gerichtsvollzieher. Auch er kam des Abends mit vielen Beobachtungen an, er hatte vor allem die Wohnungseinrichtung studiert.

»Dieser Barbemuche«, sagte Schaunard, »strotzt von guten Charaktereigenschaften. Er kennt die Namen sämtlicher Weine und läßt Eßgerichte auftragen, wie sie mir nicht einmal meine Tante an ihren Geburtstagen vorgesetzt hat. Er scheint mir mit den vornehmsten Schneidern und den feinsten Schuhmachern auf dem besten Fuße zu stehen. Ich habe übrigens bemerkt, daß er so ziemlich unsere Figur hat, so daß wir ihm im Notfalle unsere Anzüge borgen können. Er ist auch gar nicht so sittenstreng, wie Colline ihn uns geschildert hat, und er hat mit mir alle Lokale besucht, in die ich ihn führte. Er benahm sich überall wie ein richtiger Mensch. Für Morgen ist Marcel eingeladen.«

Carolus wußte, daß Marcel sich am meisten seiner Aufnahme widersetzt hatte, und behandelte ihn infolgedessen besonders aufmerksam. Am meisten stimmte er den Maler aber dadurch zu seinen Gunsten, daß er versprach, ihm Porträtaufträge in der Familie seines Zöglings vermitteln zu wollen.

Als daher Marcel seinen Bericht erstattete, fanden die Freunde, daß die Feindseligkeit, die er zuerst gegen Carolus gehegt hatte, völlig geschwunden war, und Colline konnte Barbemuche am nächsten Tage mitteilen, daß er aufgenommen sei.

»Aber mit einem Vorbehalt«, fügte er hinzu.

»Wie meinen Sie das?« fragte Carolus.

»Ich möchte damit sagen, daß Sie noch eine Reihe vulgärer Gewohnheiten haben, die Sie ablegen müssen.«

»Ich werde es tun, indem ich Sie nachahme«, antwortete Carolus.

Während der ganzen Zeit seines Noviziats suchte der platonische Philosoph leidenschaftlich den Verkehr mit den Zigeunern, und indem er so genauer ihre Sitten studierte, konnte er sich manchmal nicht eines gewaltigen Erstaunens enthalten.

Eines Morgens kam Colline mit strahlendem Gesicht zu Barbemuche. »Also, mein Lieber,« sagte er, »Sie sind jetzt endgültig einer der Unsern. Wir brauchen nun nur noch den Tag des Aufnahmefests und den Ort, wo es stattfindet, zu bestimmen.«

»Aber das trifft sich ja ausgezeichnet«, antwortete Carolus. »Die Eltern meines Zöglings befinden sich augenblicklich auf dem Lande. Der junge Vicomte, dessen Mentor ich bin, wird mir für einen Abend die Räume zur Verfügung stellen, wir haben es dadurch gemütlicher. Indessen müßten wir dann den jungen Vicomte einladen.«

»Das wäre köstlich«, antwortete Colline. »Wir erschließen ihm so die Horizonte der Literatur. Aber glauben Sie, daß er einverstanden ist?«

»Ich bin im voraus davon überzeugt.«

»Dann brauchen wir also nur noch den Tag festzusetzen.«

»Darüber können wir uns heute abend im Café einigen.«

Carolus suchte jetzt seinen Schüler auf und teilte ihm mit, daß er in eine hervorragende literarisch-artistische Gesellschaft als Mitglied aufgenommen sei und ein Diner mit einem anschließenden Fest geben wollte. Er schlug ihm vor, an diesem Fest teilzunehmen.

»Aber da sich das Fest bis tief in die Nacht hinein ausdehnt, und Sie nicht so spät heimkehren dürfen, so könnten wir«, fuhr Carolus fort, »zu unserer Bequemlichkeit das Fest in diesen Räumen veranstalten. Ihr Diener François ist diskret, Ihre Eltern werden nichts erfahren, und Sie machen so die Bekanntschaft der geistig bedeutendsten Künstler und Autoren von Paris.« »Die schon gedruckt sind?« fragte der junge Mann.

»Aber gewiß. Der eine ist Chefredakteur des ›Regenbogen‹, auf den Ihre Frau Mutter abonniert ist. Es sind ganz hervorragende, ja fast berühmte Männer. Ich bin mit Ihnen sehr befreundet, sie haben reizende Frauen.«

»Frauen kommen auch?« fragte der Vicomte Paul.

»Entzückende Frauen«, antwortete Carolus.

»Oh, mein teurer Lehrer, wie danke ich Ihnen. Natürlich geben wir das Fest hier. Wir zünden alle Kronleuchter an, und ich werde die Überzüge von den Möbeln nehmen lassen.«

Des Abends kündigte Barbemuche im Café an, daß das Fest am folgenden Sonnabend stattfinden würde.

Die Zigeuner ermahnten ihre Geliebten, an ihre Toiletten zu denken. »Vergeßt nicht,« sagten sie, »daß ihr wirkliche Salons betretet. Also bereitet euch vor: einfache, aber vornehme Kleidung!«

Am Morgen des feierlichen Tages erschienen Colline, Schaunard, Marcel und Rudolf bei Barbemuche, der sehr erstaunt war, sie so früh zu sehen. »Es ist doch nichts geschehen,« fragte er etwas beunruhigt, »daß das Fest verschoben werden muß?«

»Ja und nein«, antwortete Colline. »Es handelt sich nämlich um folgendes: Im allgemeinen machen wir nie große Umstände, aber wenn wir mit Fremden zusammentreffen, dann müssen wir doch ein gewisses Dekorum wahren.«

»Ja, und?« fragte Barbemuche.

»Ja, und da wir nun heute abend«, fuhr Colline fort, »den jungen Edelmann treffen, möchten wir aus Rücksicht für ihn und auch aus Rücksicht auf uns selbst Sie bitten, uns einige bessere Kleidungsstücke zu leihen. Wir können doch unmöglich in Bluse oder Paletot unter die strahlenden Kronleuchter dieses Palastes treten.«

»Ja,« sagte Carolus, »ich habe aber doch keine vier schwarzen Röcke.«

»Das macht nichts,« sagte Colline, »wir behelfen uns mit dem, was Sie haben.«

»Ja, dann sehen Sie einmal«, sagte Carolus, indem er ihnen seinen wohlgefüllten Kleiderschrank öffnete.

»Aber Sie haben ja ein wahres Arsenal von eleganten Sachen!«

»Drei Hüte!« rief Schaunard begeistert. »Wie kann man denn drei Hüte haben, wenn man nur einen Kopf hat?«

»Und die Schuhe,« sagte Rudolf, »seht doch!«

»Wirklich, da sind Schuhe!« jubelte Colline.

Und im Nu hatten sie sich jeder eine vollständige Ausstattung angeeignet.

»Bis heute abend«, sagten sie, indem sie Barbemuche verließen. »Unsere Damen werden blendend sein.«

»Aber«, sagte Barbemuche mit einem Blick auf seinen ausgeplünderten Schrank, »Sie lassen mir ja gar nichts. Wie soll ich Sie denn empfangen?«

»Ach, Sie? Das ist etwas anderes«, sagte Rudolf. »Sie sind der Herr des Hauses, Sie können sich über die Etikette hinwegsetzen.«

»Trotzdem,« sagte Carolus, »es bleiben mir ja nur ein Schlafrock, eine Unterhose, eine Flanelljacke und Pantoffeln. Sie haben mir alles genommen.«

»Was schadet das? Sie sind im voraus entschuldigt«, antworteten die Zigeuner.

Um sechs Uhr war ein sehr schönes Diner im Speisesaal serviert. Die Zigeuner kamen. Marcel hinkte etwas und war schlechter Laune. Der junge Vicomte stürzte sich den Damen entgegen und führte sie auf die besten Plätze. Fräulein Mimi trug ein wundervolles Phantasiekostüm. Fräulein Dudelsack hatte sich höchst verführerisch gekleidet. Euphemia glich einem Fenster mit farbigen Gläsern, sie wagte kaum, sich an den Tisch zu setzen. Das Essen dauerte zweieinhalb Stunden und verlief in strahlender Stimmung.

Der junge Vicomte Paul trat andauernd seiner Tischdame Mimi auf den Fuß, und Euphemia ließ sich von jedem Gericht zweimal geben. Schaunard badete sich im Rebenblut. Rudolf improvisierte Sonette und zerbrach Gläser, um den Rhythmus zu markieren. Colline plauderte mit Marcel, der aber noch immer schlecht gelaunt war.

»Was hast du nur?« fragte er ihn.

»Mich schmerzen empfindlich die Füße. Dieser Carolus hat einen Fuß wie ein junges Frauenzimmer.«

»Na,« sagte Colline, »ich werde ihm schon sagen, daß das nicht so weitergeht. Er soll sich in Zukunft seine Schuhe ein paar Nummern weitermachen lassen. Doch jetzt wollen wir in den Salon gehen, wo uns die exotischen Liköre erwarten.«

Das Fest begann von neuem mit noch höherem Glanz. Schaunard setzte sich ans Klavier und trug mit erstaunlichem Schwung seine neue Symphonie ›Der Tod des jungen Mädchens‹ vor. Der Schlußteil mußte wiederholt werden, und am Klavier sprangen zwei Saiten.

Um ein Uhr morgens brachen die Zigeuner auf und kehrten auf großen Umwegen nach Hause zurück. Barbemuche war betrunken und hielt unverständliche Ansprachen an seinen Zögling, der seinerseits von den blauen Augen Fräulein Mimis träumte.


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