Henry Murger
Die Bohème
Henry Murger

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XIX. Mimi in Glanz und Seide

»Nein, nein, Sie sind nicht mehr die alte Mimi! Sie sind heute Frau Vicomtesse, morgen werden Sie vielleicht Frau Herzogin sein, denn Sie haben Ihren Fuß auf die Leiter gesetzt, die nach oben führt. Das Tor zu Ihren Träumen hat sich Ihnen endlich weit aufgetan, und siegreich und triumphierend ziehen Sie hinein. Ich war mir übrigens dessen immer sicher, daß die eine oder die andere Nacht Sie schon einmal an Ihr Ziel bringen würde. Es ging gar nicht anders. Ihre weißen Hände waren für den Müßiggang geschaffen und riefen noch seit langem nach dem Siegelring einer aristokratischen Verbindung. Jetzt haben Sie ein Wappen! Wir aber ziehen noch immer jenes vor, das die Jugend Ihrer Schönheit gab, und auf dem sich durch Ihre blauen Augen und ihr weißes Gesicht Himmelsbläue über ein Lilienfeld zu ergießen schien. Ob Sie zum Adel oder zum Volk gehören, Sie bleiben immer entzückend, und ich habe Sie wohl erkannt, als Sie neulich des Abends mit flüchtigem Fuß und elegantem Schuhwerk durch die Straße eilten und mit behandschuhter Hand dem Wind halfen, die Volants Ihres neuen Kleides aufzuheben. Sie taten es ein wenig, um sie vor Schmutz zu schützen, am meisten aber um ihre bestickten Röcke und ihre durchbrochenen Strümpfe zu zeigen. Sie trugen einen Hut von bewunderungswürdiger Machart, und Sie schienen sogar in großer Verlegenheit zu sein wegen des kostbaren Spitzenschleiers, der von diesem kostbaren Hut herabwehte. Es war in der Tat eine schwere Verlegenheit, denn es handelte sich um die Frage, was Sie besser kleidete und Ihrer Koketterie mehr eintrug, nämlich ob Sie den Schleier herabgelassen oder aufgesteckt tragen sollten. Trugen Sie ihn herabgelassen, dann mußten Sie damit rechnen, daß Ihre Freunde, die Ihnen begegneten, Sie nicht erkannten und zehnmal dicht an Ihnen vorübergingen, ohne zu ahnen, daß sich unter dieser prächtigen Hülle Fräulein Mimi verbarg. Auf der anderen Seite, wenn Sie den Schleier aufgesteckt trugen, dann konnte man ihn übersehen, und wozu hatten Sie ihn denn. Aber Sie lösten diese Schwierigkeit in geistvollster Weise, indem Sie das wundervolle Gewebe alle zehn Schritte aufsteckten und dann wieder herabließen. Ach, Mimi ... oh, Verzeihung ... Frau Vicomtesse! Ich hatte wohl recht, als ich Ihnen sagte: Geduld, verzweifeln Sie nicht, die Zukunft birgt für Sie Kleider, Brillanten und Soupers in ihrem Schoß. Sie wollten mir damals nicht glauben, Sie Ungläubige. Nun, meine Prophezeiungen haben sich doch erfüllt, und wenn ich der Zukunft auch weiterhin mein Ohr leihe, dann höre ich das Stampfen und Wiehern von Pferden, die vor ein blaues Coupé gespannt sind, und ein bepuderter Lakai, der den Tritt vor Ihnen herabsenkt, fragt: ›Wohin fahren die gnädige Frau?‹ – Ach, und dann ganz spät, du lieber Gott, wenn Sie das Ziel eines langgehegten Ehrgeizes erreicht haben, werden Sie in Belleville oder Batignolles große Tafel halten, hofiert von alten Militärs und zahmgewordenen Seladons, die bei Ihnen heimlich dem Landsknechtspiel oder dem Bakkarat huldigen wollen. Aber bevor Sie diese Epoche erreichen, in der die Sonne Ihrer Jugend schon im Absteigen begriffen ist, werden Sie, liebes Kind, noch manche Elle Seide und Samt auftragen; manches erlebte Gut wird im Tiegel Ihrer Launen dahinschmelzen; viele Blumen werden an Ihrer Stirn welken, viele unter Ihren Füßen zertreten werden, und manchmal werden Sie Ihr Wappen wechseln. Man wird nacheinander auf Ihrem Haupt die Kronenschnur der Baronin, die Krone der Gräfin, das perlenbesetzte Diadem der Marquise glänzen sehen. Die Unbeständigkeit wird Ihre Devise sein, und Sie werden nach Laune oder Notwendigkeit einen nach dem andern, oder auch mehrere zugleich, alle Ihre zahlreichen Anbeter befriedigen, die sich im Vorzimmer Ihres Herzens anstellen, wie man vor dem Theater ansteht, wenn ein Zugstück gegeben wird. Also gehen Sie ruhig Ihren Weg, belasten Sie sich nicht mit Erinnerungen, lassen Sie nur Ihren Ehrgeiz walten. Gehen Sie, Ihr Weg ist schön, und wir wollen wünschen, daß er noch lange leicht für Ihre Füße ist. Vor allem aber wollen wir wünschen, daß all diese Kostbarkeiten, diese schönen Kleider nicht zu früh das Leichentuch werden, das Ihren frohen Sinn verschlingt.«

Diese Worte richtete der Maler Marcel an das junge Fräulein Mimi, als er sie zwei oder drei Tage nach ihrer zweiten Scheidung von dem Dichter Rudolf traf. Aber obgleich er sich bemühte, die Spöttereien, die sein Horoskop durchsetzten, möglichst milde zu gestalten, ließ sich Mimi durch die süßen Worte Marcels nicht täuschen und begriff sehr gut, daß er sich ohne alle Ehrfurcht vor ihrem neuen Titel über sie maßlos lustig gemacht hatte.

»Sie sind boshaft gegen mich, Marcel,« sagte Fräulein Mimi, »das ist schlecht von Ihnen, denn ich war immer sehr gut gegen Sie, als ich noch Rudolfs Geliebte war. Aber wenn ich ihn verlassen habe, so war er selbst daran schuld. Er hat mich ohne Umschweife einfach fortgejagt. Und wie hat er mich dabei in den letzten Tagen, die ich bei ihm war, behandelt? Oh, ich war damals sehr unglücklich. Sie wissen gar nicht, was für ein Mensch Rudolf ist, er besteht ganz und gar aus Jähzorn und Eifersucht und würde mich stückweise töten. Natürlich liebte er mich, aber seine Liebe war gefährlich wie eine geladene Schußwaffe, und was habe ich während der fünfzehn Monate für ein Leben geführt. Sehen Sie, Marcel, ich will mich gewiß nicht besser machen, als ich bin, aber ich habe schwer durch Rudolf gelitten, das wissen Sie ja auch selbst. Nicht wegen der Entbehrungen habe ich ihn verlassen, glauben Sie mir, daran war ich schon früher gewöhnt, nein, er hat mich weggejagt. Er hat meine Selbstachtung mit Füßen getreten, er hat mir gesagt, ich hätte keinen Anstand, wenn ich noch bei ihm bliebe. Er hat mir gesagt, er liebte mich nicht mehr, und ich sollte mir einen anderen Liebhaber suchen. Er ist sogar so weit gegangen, mich auf einen jungen Mann aufmerksam zu machen, der mir nachschlich, und hat mich durch seine Herausforderungen schließlich diesem jungen Mann in die Arme getrieben. Aus Zorn und aus Not bin ich dann zu ihm gegangen, denn ich liebte ihn nicht, ich kann nun einmal diese Art von langweiligen und sentimentalen jungen Männern nicht leiden. Schließlich bedauere ich aber doch nicht, was ich getan habe, und ich würde es in dem gleichen Falle noch einmal tun. Jetzt, da Rudolf mich nicht mehr hat, und er weiß, daß ich mit einem andern glücklich bin, ist er wütend und sehr unglücklich. Ein Bekannter von mir hat ihn neulich getroffen, er hatte rote Augen. Das setzt mich übrigens nicht in Erstaunen, ich wußte, daß es soweit mit ihm kommen und daß er mir nachlaufen werde. Aber Sie können ihm sagen, daß er seine Zeit verliert und daß es jetzt ernsthaft und für immer aus ist. Ist es lange her, Marcel, daß Sie ihn nicht gesehen haben, und hat er sich wirklich sehr verändert?« fragte sie plötzlich in einem weicheren Ton.

»Gewiß, er hat sich verändert«, antwortete Marcel. »Er hat sich stark verändert.«

»Sicherlich ist er verzweifelt, aber was kann ich dagegen tun? Um so schlimmer für ihn, er hat es so gewollt. Die Sache mußte schließlich einmal zu Ende gehn. Trösten Sie ihn.«

»Oh, oh,« meinte Marcel ruhig, »das ist zur Hauptsache längst geschehn. Sie brauchen sich gar nicht zu beunruhigen, Mimi.«

»Sie sagen nicht die Wahrheit, mein Lieber«, fuhr Mimi in etwas spöttischem Ton fort. »So schnell wird sich Rudolf nicht trösten. Sie hätten nur sehen sollen, in welchem Zustand er sich am Abend vor meinem Fortgehen befand! Es war an einem Freitag, ich wollte nicht die Nacht bei meinem neuen Geliebten zubringen, denn ich bin etwas abergläubisch, und Freitag ist ein schlechter Tag.«

»Da haben Sie unrecht, Mimi. In der Liebe ist der Freitag ein guter Tag. Die Lateiner nannten ihn den Tag der Venus.«

»Ich verstehe kein Latein«, sagte Fräulein Mimi und fuhr fort. »Ich kam also von Paul zurück und traf Rudolf auf der Straße, wo er auf mich gewartet hatte. Es war spät, schon nach Mitternacht, und mich quälte der Hunger, denn ich hatte schlecht diniert. Ich bat also Rudolf, mir etwas zum Abendessen zu holen. Er kam nach einer halben Stunde und war lange umhergelaufen, ohne etwas besonders Gutes aufzutreiben: Brot, Wein, Sardinen, Käse und einen Apfelkuchen. Ich hatte mich inzwischen schon ins Bett gelegt, und er deckte den Tisch neben meinem Bett. Ich tat so, als sähe ich ihn nicht, aber ich beobachtete ihn genau. Er war bleich wie der Tod, zitterte und ging im Zimmer umher, als wüßte er nicht, was er tat. In der Ecke sah er mehrere Pakete mit meinen Sachen auf der Erde liegen. Dieser Anblick schien ihm schmerzlich zu sein, und er stellte den Bettschirm vor die Pakete, um sie nicht mehr zu sehen. Als alles fertig war, begannen wir zu essen. Er wollte mich zum Trinken bewegen, aber ich hatte weder Hunger noch Durst, und mein Herz war mir schwer. Es war auch kalt, denn wir besaßen nichts, um einzuheizen, und der Wind sauste durch den Kamin. Wir waren sehr traurig. Rudolf sah mich starr an, er legte seine Hand in die meine. Ich fühlte, wie sie zitterte, sie war zugleich heiß und eisig kalt.

›Das ist das Begräbnismahl unserer Liebe‹, sagte er ganz leise. Ich antwortete nicht, hatte aber auch nicht den Mut, meine Hand aus der seinigen zu ziehen.

›Ich bin müde‹, sagte ich schließlich. ›Es ist spät, wollen wir nicht schlafen gehn?‹ Rudolf sah mich an. Ich hatte, um mich etwas gegen die Kälte zu schützen, eine seiner Halsbinden um den Kopf gewickelt. Er nahm sie ab, ohne etwas zu sprechen.

›Warum nimmst du sie ab‹, fragte ich. ›Mich friert.‹

›O Mimi‹, sagte er jetzt. ›Bitte, das kostet dich nichts, setze für diese Nacht noch einmal deine kleine gestreifte Haube auf.‹

Es war eine weiß und braun gestreifte Nachthaube. Rudolf liebte es sehr, mich darin zu sehen, es erinnerte ihn an ein paar schöne Nächte, denn nach diesen zählten wir unsere schönen Tage. Da es die letzte Nacht war, die ich an seiner Seite verbringen sollte, wagte ich nicht, ihm diese Laune abzuschlagen. Ich stand auf und suchte meine gestreifte Haube, die in einem der Pakete lag. Dabei vergaß ich, den Bettschirm wieder davorzustellen. Rudolf aber bemerkte es und verbarg die Pakete, wie er es vorher getan hatte.

›Gute Nacht‹, sagte er. – ›Gute Nacht‹, antwortete ich ihm.

Ich glaubte, er würde mich umarmen, und hätte mich ihm nicht widersetzt, aber er nahm nur meine Hand und führte sie an seine Lippen. Sie wissen, Marcel, wie leidenschaftlich er meine Hände küßte. Ich hörte seine Zähne klappern und fühlte die eisige Kälte seines Körpers. Er drückte immerzu meine Hand und legte sein Gesicht auf meine Schulter, die bald ganz mit Tränen benetzt war. Rudolf befand sich in einem schrecklichen Zustand. Er biß in die Bettücher, um nicht laut zu schreien, aber ich hörte sein ersticktes Schluchzen und fühlte immerzu auf meine Schulter die Tränen fallen, die zuerst brannten und dann eisig kalt wurden. In diesem Augenblick mußte ich all meine Kraft aufbieten, um nicht weich zu werden. Ich brauchte nur ein Wort zu sagen, nur meinen Kopf umzuwenden, dann hätte mein Mund Rudolfs Mund gefunden, und wir hätten uns noch einmal versöhnt. Ach, einmal war es mir wirklich, als stürbe er in meinen Armen, oder er würde wenigstens wahnsinnig, wie er ja einmal schon fast geworden ist. Ich fühlte, wie ich nachzugeben begann. Ich wollte schon die erste sein, ich wollte ihn mit meinen Armen umfangen, denn man mußte tatsächlich herzlos sein, um einem solchen Schmerz gegenüber unempfindlich zu bleiben. Aber dann erinnerte ich mich plötzlich der Worte, die er mir gesagt hatte: ›Du hast kein Anstandsgefühl, wenn du noch hierbleibst, denn ich liebe dich nicht mehr!‹ Ja, als ich mich an diese grausamen Worte erinnerte, wenn jetzt Rudolf im Todeskampf gelegen wäre und ein Kuß von mir ihn hätte retten können, ich hätte meine Lippen abgewandt und ihn sterben lassen. Schließlich versank ich, bezwungen von meiner Müdigkeit, in einen Halbschlaf. Dabei hörte ich Rudolf immerzu weinen, und ich schwöre Ihnen, Marcel, dieses Weinen dauerte die ganze Nacht hindurch. Und als es Tag wurde, und ich in dem Bett, in dem ich zum letztenmal geschlafen hatte, diesen Geliebten sah, den ich verlassen sollte, um in die Arme eines anderen zu gehen, da erschrak ich furchtbar, als ich auf Rudolfs Gesicht die Verwüstungen sah, die der Schmerz darin eingeschrieben hatte.

Er erhob sich wie ich, ohne etwas zu sagen, und er wäre beim ersten Schritt fast gefallen, so schwach war er. Trotzdem zog er sich schnell an und fragte mich nur, wie es mit mir stände und wann ich fortginge. Ich antwortete ihm, ich wüßte es noch nicht. Er ging fort, ohne mir Adieu zu sagen oder mir die Hand zu drücken. So haben wir uns verlassen. Was muß es für ihn für ein Schlag gewesen sein, als er zurückkam und mich nicht mehr antraf.«

»Ich war gerade da, als Rudolf zurückkam«, sagte Marcel zu Mimi, die vom vielen Reden ganz außer Atem war. »Als er sich von der Pförtnersfrau den Schlüssel geben ließ, sagte diese:

›Die Kleine ist fort.‹

›Ah,‹ antwortete Rudolf, ›das wundert mich nicht. Ich dachte es mir.‹ Und er ging in sein Zimmer hinauf, während ich ihm folgte, denn ich fürchtete auch eine Krisis. Aber es geschah gar nichts dergleichen.

›Heute ist es zu spät,‹ sagte er, ›um ein anderes Zimmer zu mieten, wir wollen das morgen zusammen tun. Jetzt gehn wir dinieren.‹

Ich dachte, er würde sich betrinken, aber ich täuschte mich. Wir nahmen ein bescheidenes Diner in einem Restaurant ein, wo Sie auch schon ein paarmal mit ihm waren. Ich hatte zum Trinken Beaune bestellt, um Rudolf etwas aufzuheitern.

›Das war ein Lieblingswein von Mimi‹, sagte er. ›Wir haben ihn oft an diesem Tisch, wo wir jetzt sitzen, zusammen getrunken. Sie trank übrigens viel, die gute Mimi.‹ Da ich sah, daß er sich in gefühlvolle Erinnerungen vertiefen wollte, sprach ich von anderen Dingen, und es war nicht mehr von Ihnen die Rede. Er verbrachte den ganzen Abend mit mir und schien so ruhig wie das Mittelmeer zu sein. Was mich dabei am meisten wunderte, war, daß diese Ruhe nichts Erzwungenes an sich hatte. Es war unverkennbare Gleichgültigkeit. Gegen Mitternacht gingen wir nach Hause.

›Du scheinst erstaunt zu sein,‹ sagte er zu mir, ›mich in meiner augenblicklichen Lage so ruhig zu finden. Gestatte mir einen Vergleich, der vielleicht etwas trivial ist, aber doch den Vorzug hat, sehr richtig zu sein. Mein Herz gleicht einem Regenfaß, dessen Abflußhahn die ganze Nacht offengestanden hat. Des Morgens befindet sich auch kein Tropfen Wasser mehr darin. Mir ist es tatsächlich so gegangen, ich habe die ganze Nacht geweint, und es sind keine Tränen übriggeblieben. Es ist merkwürdig, ich fühle auch nicht mehr den geringsten Schmerz, und in diesem Bette, wo ich neben einer Frau, die so unempfindlich war wie ein Stein, fast meine Seele ausgehaucht hätte, werde ich jetzt schlafen wie ein Lastträger, der den ganzen Tag gearbeitet hat.‹

›Komödie!‹ dachte ich im stillen. ›Sobald ich fort bin, wird er mit dem Kopf gegen die Mauer schlagen.‹ Ich ließ jedoch Rudolf allein und ging in mein Zimmer hinauf, legte mich aber nicht zu Bett. Um drei Uhr morgens glaubte ich in Rudolfs Zimmer ein Geräusch zu hören, und schnell stieg ich hinab, denn ich dachte, ich würde ihn in einer fieberhaften Erregung finden ...«

»Nun, und?« fragte Mimi.

»Nun, mein liebes Kind, Rudolf schlief. Das Bett war nicht aufgewühlt, und alles sah danach aus, daß der Schlaf sehr ruhig gewesen war.«

»Es ist möglich«, sagte Mimi. »Er war von der vorhergegangenen Nacht zu ermüdet. Aber am nächsten Morgen?«

»Am nächsten Morgen hat Rudolf mich zu früher Stunde geweckt, und wir suchten uns in einem anderen Hause Zimmer, in die wir noch an demselben Abend einzogen.«

»Aber was machte er,« fragte Mimi, »als er das alte Zimmer verließ? Was sagte er, als er sich von dem Raum verabschiedete, in dem er mich so sehr geliebt hat?«

»Er hat ruhig seine Sachen gepackt«, antwortete Marcel. »Und als er in einer Schublade ein Paar Handschuhe von Ihnen fand, die Sie vergessen hatten, und ebenso zwei oder drei Briefe von Ihnen ...«

»Ich weiß schon«, sagte Mimi in einem Ton, als wollte sie sagen: Ich habe sie absichtlich vergessen, damit er ein Andenken an mich hat. »Was hat er damit gemacht?«

»Wenn ich mich recht erinnere,« antwortete Marcel, »so hat er die Briefe in den Kamin geworfen und die Handschuhe zum Fenster hinaus. Aber er tat es ohne theatralische Geste, ganz natürlich, so wie man eine wertlose Sache fortwirft.«

»Mein lieber Herr Marcel, ich wünsche von Herzen, daß diese Gleichgültigkeit anhalten möchte. Aber noch einmal und in aller Aufrichtigkeit: ich glaube nicht an eine so schnelle Heilung, und trotz allem, was Sie mir erzählt haben, bin ich überzeugt, daß sein Herz gebrochen ist.«

»Möglich,« antwortete Marcel, indem er sich von Mimi verabschiedete, »ich müßte mich aber sehr täuschen, wenn die einzelnen Stücke nicht noch sehr lebenskräftig sind.«

Während dieses Gespräch auf offener Straße stattfand, wartete der Vicomte Paul auf seine neue Geliebte, die sich sehr verspätete und gar nicht nett gegen den Herrn Vicomte war. Er warf sich ihr zu Füßen und girrte ihr seine Liebesromanze vor, die immer wieder dieselbe war und darin bestand, daß Mimi reizend sei, bleich wie der Mond und sanft wie ein Lamm, daß er sie aber vor allem wegen ihrer Herzensschönheit liebe.

»Ach,« dachte Mimi gelangweilt, »mein Geliebter Rudolf redete nicht so eintönig.«


Rudolf schien tatsächlich, wie Marcel es gesagt hatte, von seiner Liebe zu Fräulein Mimi gründlich geheilt zu sein, und drei oder vier Tage nach der Trennung sah man den Dichter wie umgewandelt wieder erscheinen. Er war so elegant gekleidet, daß ihn sein eigener Spiegel nicht mehr wiedererkannt hätte. Nichts an ihm schien das Gerücht zu bestätigen, das das Fräulein mit geheuchelter Teilnahme über ihn verbreitet hatte, nämlich daß er beabsichtige, sich das Leben zu nehmen. Rudolf war in der Tat vollkommen ruhig. Ohne mit einer Wimper zu zucken hörte er die Berichte, die ihm über das neue und luxuriöse Leben seiner früheren Geliebten zugetragen wurden, denn das junge Mädchen verfehlte nicht, durch eine Freundin, die fast jeden Abend Gelegenheit hatte, Rudolf zu sehen, diesen über ihr Dasein auf dem laufenden zu halten.

»Mimi ist sehr glücklich mit dem Vicomte Paul«, sagte die Freundin zu dem Dichter. »Sie scheint wahnsinnig in ihn vernarrt zu sein. Nur eins beunruhigt sie. Sie fürchtet, Sie könnten ihre Ruhe durch Verfolgungen stören, die übrigens für Sie gefährlich wären, denn der Vicomte betet seine Geliebte an, und er hat zwei Jahre Fechtunterricht gehabt.«

»Oh, sie kann ruhig schlafen,« antwortete Rudolf, »ich habe durchaus nicht die Absicht, Essig in den süßen Honig ihrer Liebe zu gießen. Und ihr Geliebter mag seinen Degen in der Scheide lassen, ich werde mich doch nicht an einem jungen Edelmann vergreifen, der noch in den Säuglingsjahren seiner Illusionen ist.« Aber wenn man Mimi die gleichgültige Art, mit der ihr früherer Geliebter alle diese Dinge aufnahm, mitteilte, dann zuckte sie nur die Schultern und sagte: »Schön, sehr schön, wir werden schon in einigen Tagen sehen, was daraus wird.«

Eines Abends begegnete Rudolf einem befreundeten Dichter, den er seit seiner Trennung von Mimi noch nicht gesehen hatte. Rudolf schien bedrückt und traurig zu sein, er eilte mit langen Schritten über die Straße und ließ seinen Stock durch die Luft wirbeln.

»Ach, das sind Sie!« sagte der Dichter, und indem er Rudolf die Hand reichte, musterte er ihn aufmerksam. Da er seine bekümmerte Miene sah, glaubte er einen tröstenden Ton anschlagen zu müssen.

»Mut, lieber Freund, ich weiß, so etwas schmerzt, aber einmal mußte es doch dahin kommen. Besser jetzt als später, und in drei Monaten werden Sie völlig geheilt sein.«

»Was reden Sie da für einen Unsinn?« fragte Rudolf. »Ich bin doch nicht krank.«

»Aber du lieber Himmel,« sagte der andere, »verstellen Sie sich doch nicht. Ich weiß doch von dieser Geschichte, und wenn ich sie nicht wüßte, würde ich sie Ihnen vom Gesicht ablesen.«

»Ich glaube, Sie irren sich«, erwiderte Rudolf. »Ich bin etwas verstimmt diesen Abend, das ist wahr, aber über die Ursachen dieser Mißstimmung sind Sie ganz auf dem Holzwege. Die Sache ist die, daß mein Schneider mir heute einen neuen Frack liefern wollte und nicht Wort gehalten hat. Deswegen bin ich ärgerlich.«

»Na, na,« sagte der Dichter lachend, »das müssen Sie mir noch erst erläutern, wie jemand dazu kommt, ein so betrübtes Gesicht zu machen, nur weil ihm der Schneider nicht Wort gehalten hat.«

»Und doch ist es sehr einfach«, antwortete Rudolf. »Ein Grund führt nämlich den andern herbei. Ich hatte mich zu heute abend mit einer jungen Dame verabredet, die ich in einer Gesellschaft treffen und nachher mit in meine Wohnung nehmen wollte. Zu der Gesellschaft kann ich nur im Frack gehen, und da ich keinen hatte, sollte mir der Schneider einen bringen. Er bringt mir aber keinen, ich kann nicht in die Gesellschaft gehen und die Dame treffen, die jetzt vielleicht jemand anders trifft und von ihm nach Hause geführt wird. Mir entgeht also ein Glück oder ein Vergnügen, und das ist der Grund, weshalb ich betrübt bin.«

»Schön«, sagte der Freund. »Sie sind also glücklich mit einem Fuß aus der Hölle heraus und wollen sich schon wieder in eine neue stürzen? Übrigens, mein lieber Freund, vorhin, als ich Sie sah, hatte ich den Eindruck, als ob Sie hier auf jemand warteten.« »Das tue ich auch tatsächlich.«

»Aber wir sind hier doch in dem Viertel, wo Ihre frühere Geliebte wohnt. Sollten Sie etwa auf diese lauern.«

»Ganz und gar nicht. Ich befinde mich nicht auf den Spuren meiner früheren Leidenschaft, sondern auf denen einer neuen. Es handelt sich um eine andere junge Dame, mit der ich mich schon halb verständigt habe.«

»Wirklich!« rief der Dichter. »Sie scheinen eine sehr verliebte Natur zu sein!«

»Ich kann es nicht ändern«, antwortete Rudolf. »Mein Herz gleicht einer möblierten Wohnung, die man weitervermietet, wenn der frühere Mieter sie verläßt. Wenn eine Liebe aus meinem Herzen auszieht, schlage ich einen Zettel an, um eine neue Liebe zu finden. Die Wohnung ist übrigens neu hergerichtet und gleich beziehbar.«

»Und wer ist die neue Göttin? Wo und wann haben Sie sie kennengelernt?«

»Erzählen wir es der Reihe nach«, sagte Rudolf. »Als Mimi mich verlassen hatte, glaubte ich, ich würde mich nie wieder in meinem Leben verlieben. Für mich war die Liebe tot, sehr tot, ganz und gar tot, und um sie feierlich zu begraben, gab ich ein kleines Trauermahl, zu dem ich einige Freunde einlud. Die Tischgenossen sollten betrübte Gesichter machen, und die Flaschen waren mit schwarzem Flor umbunden.«

»Mich haben Sie aber nicht eingeladen.«

»Verzeihung, aber ich wußte nicht die Adresse der Wolke, auf der Sie zu thronen pflegen. Nun, einer der Gäste hatte ein junges Mädchen mitgebracht, das ebenfalls vor kurzem von ihrem Geliebten verlassen war, und ein Freund von mir, der immer sehr stark auf dem Cello der Gefühlsseligkeit spielt, erzählte ihr meine Geschichte. Er sprach mit dieser jungen Witwe über die prächtigen Eigenschaften meines Herzens, das wir gerade begraben wollten, und lud sie ein, auf die ewige Ruhe dieses Herzens zu trinken. ›Ach was‹, sagte sie, indem sie ihr Glas erhob, ›ich trinke im Gegenteil auf sein fröhliches Weiterleben‹, und sie warf mir einen Blick zu, der wirklich Tote erwecken konnte. Jedenfalls wirkte der Blick bei mir so, denn sie hatte ihren Trinkspruch noch nicht beendigt, als ich auch schon einen Auferstehungskantus anstimmte. Oder hätten Sie an meiner Stelle anders gehandelt?«

»Eine nette Frage! ... Wie heißt sie?«

»Das weiß ich noch nicht, ich werde sie erst nach ihrem Namen fragen, wenn wir unseren Ehebund schließen. Ich weiß sehr gut, daß ich nach der ehrsamen Ansicht gewisser Leute noch nicht die gesetzliche Trauerzeit hinter mir habe, aber ich werde bei mir selbst ein Gesuch einreichen und mir Dispens erteilen. Jedenfalls bringt mir meine Zukünftige als Mitgift ihren Frohsinn mit, der die Gesundheit der Seele, und ihre Gesundheit, die der Frohsinn des Körpers ist.«

»Ist sie hübsch?«

»Sehr hübsch, ihr Gesicht ist reizend. Man sollte glauben, sie schminke sich jeden Morgen mit dem Pinsel Watteaus:

Blond ist sie, Freund, und wo ihr Blick hingeht,
Ein jedes Herz in hellen Flammen steht –

Beweis, das meinige!«

»Eine Blondine? Wirklich?«

»Ja, ich habe genug von Elfenbein und Ebenholz, ich gehe zu Blond über.«

»Arme Mimi,« sagte der Freund, »so schnell bist du vergessen!«

Zwei Tage später erfuhr Fräulein Mimi, daß Rudolf eine neue Geliebte hätte. Sie erkundigte sich vor allem nach einer Sache, ob er der neuen auch so häufig die Hand küsse wie früher ihr.

»Mindestens so oft«, antwortete Marcel. »Außerdem küßt er ihr auch noch die Haare, eins nach dem andern, und sie werden wohl zusammen bleiben, bis er mit allem durch ist.«

»Ach,« sagte Mimi und strich sich mit der Hand über ihre Frisur, »es ist nur ein Glück, daß er nicht schon bei mir auf den Gedanken gekommen ist, wir wären unser ganzes Leben lang zusammengeblieben. Glauben Sie wirklich, daß er mich gar nicht mehr liebt?«

»Bah! ... Lieben Sie ihn denn noch?«

»Ich, ich habe ihn überhaupt noch nie geliebt.«

»Doch, Mimi, doch. Sie haben ihn in den Stunden geliebt, wo das Herz der Frauen sich hingibt. Sie haben ihn geliebt und brauchen sich nicht zu entschuldigen, denn gerade das spricht für Sie.«

»Ach was,« sagte Mimi, »jetzt liebt er aber doch eine andere.«

»Das ist wahr,« meinte Marcel, »aber das macht nichts. Später wird die Erinnerung an Sie für ihn einmal wie eine jener Blumen sein, die man ganz frisch und noch duftend zwischen die Blätter eines Buches legt. Man findet sie später erstorben, entfärbt, verwelkt, aber immer noch von einem leisen Duft ihrer ersten Frische erfüllt.«


Eines Abends sagte der Vicomte Paul zu Mimi, die mit leiser Stimme vor sich hinträllerte: »Was singen Sie da, lieber Schatz?«

»Das Grablied unserer Liebe, das mein Geliebter Rudolf kürzlich gedichtet hat.« Und sie begann zu singen:

»Der letzte Sou ist nun entschwunden,
Das ist für uns ein wichtiger Scheidungsgrund,
Und ohne Tränen nach so schönen Stunden,
So trennen wir uns kühl von Bett und Mund.

Es war ein Kranz von wundervollen Tagen,
Von Nächten, die durch Glück und Liebe hell,
Und waren kurz sie auch – wozu da klagen?
Die schönen Stunden schwinden immer schnell.«


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