Henry Murger
Die Bohème
Henry Murger

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Zur Einführung

Wie ein Stück Frühling über Paris ist dieser Roman jung geblieben, wie ein Zipfel eines blauen Maimorgens über der allen Künsten zugeneigten Stadt an der Seine, wenn die Kastanienbäume auf den Boulevards im ersten zarten, goldenen Grün stehen, wenn die frisch geweißten Dampfer auf dem Fluß zu Ausflügen nach Sèvres, Auteuil und Charenton locken, wenn draußen in Versailles die Brunnen springen, und wenn aus den vielen buschigen Plätzen und Gärten mitten in der Stadt in die Hupen der Kraftwagen die Nachtigallen ihren ewigen Aufruf für die Menschen flöten: »Liebt euch! Liebt euch!«

Besonders der köstliche Anfang dieser Folge von Szenen, die zu einem Roman zusammengewachsen sind wie eine Reihe von Blumen zu einem Strauß, duftet frisch wie erste Rosen noch in die Gegenwart hinein. Untermischt freilich, wie fast alles, was Murger geschrieben hat, mit einem Hauch, der nach Vergänglichkeit riecht. »Sie ist vorbei, die Blütezeit der Bohème!« stellt ein jedes Geschlecht mehr oder weniger klagevoll fest, wenn es altert und die lockern Zügel der Jugend den Neuen reicht, die natürlich in ihren Augen viel zu ernst sind, um sich noch wie sie freuen zu können. »Wir haben als junge Burschen bei Kahnfahrten auf der Seine gelacht, wie heutzutage nicht mehr gelacht wird«, schrieb Maupassant, der Dichter des Romans vom »Schönen Freund«, diesem gewissenlosen Weiberhelden, an einen seiner Schulfreunde. Ach, schreibt nicht das Alter stets so frohlockend über die Tage der eigenen Jugendzeit und stets so wehmütig krittlig über das neue Geschlecht, das heraufrückt und sich an die Ruderbänke setzt? Der Alternde vergißt in seinem berechtigten Groll über seine dahingeschwundene Schönheit und Kraft, daß die Jugend unsterblich ist wie die Bohème, das Zigeunerleben der jungen Männer und Künstler in den großen Städten. Gewiß! Es mag im lateinischen Viertel von Paris und oben auf dem Montmartre nicht ganz mehr so behaglich und verbrüdert zugehen, wie es Murger beschrieben hat. Beklagt er doch selber schon in seiner »Bohème« gegen Ende den Rückgang der alten Fröhlichkeit und Vertraulichkeit in einer Zeit, wo aus der munteren anspruchslosen Grisette, wie er sie in »Mimi« und »Musette« geschildert hat, die Lorette geworden ist, »ein Zwittergeschlecht von frechen Geschöpfen«, wie er selber sagt, »halb aus Fleisch und halb aus Schönheitsmitteln, ein Geschlecht, deren Wohnung ein Zahlzimmer ist, in dem sie Stücke von ihrem Herzen feilhalten, wie man Rostbeefschnitten feilhält«. Was würde der Dichter der »Musette« erst über die »Cocotte« geschrieben haben, die auf die Lorette des französischen Kaisertums gefolgt ist, über jenes kalte, nur mehr berechnende Geschlecht käuflicher Weiber, die heute die Boulevards des veramerikanisierten Paris bevölkern!

Und doch gibt es wahrscheinlich dort, in dieser Stadt des Leichtsinns und der »joie de vivre«, die noch ein so ernster Künstler wie Zola gefeiert hat, auch heute noch »Mimis« und »Musettes«, die einen Vicomte um eines jungen Dichters oder Malers willen verlassen und einen kalten Winter lang oder zwei, nur von Liebe durchwärmt, bei ihrem Liebsten aushalten? Die Bohemiens, deren Name Murger für das Künstlervölkchen, wie wir im Deutschen es nennen, erfunden hat, haben ja eine Mitgift, um die man jede Not und Entbehrung erträgt: eine unverwüstliche, unbezahlbare Heiterkeit. Die Bohème, das Kunstzigeunertum, ist darum recht eigentlich eine Sache der Jugend und wird es ewig bleiben. Ein alter Bohemien ist ein Unding, ein Wesen, das sich selbst überlebt hat und eigentlich nicht mehr Daseinsberechtigung besitzt. Das erkannte schon Murger, der den Namen für sie, nicht etwa den Begriff erfunden hat – denn »Bohemiens« sind schon Homer und Li-Tai-Pe gewesen – und läßt darum gegen den Schluß seiner Szenen seine früheren Kunstzigeuner sich mit ihrer Jugend oratorisch selber zu Grabe tragen. »Wir können nicht länger mehr dies uns einförmig und nutzlos gewordene Landstreicherleben neben der Gesellschaft, beinahe neben dem Leben fortführen«, stellt der Maler als Stimmrohr seines Schöpfers fest. »Du hast recht«, muß ihm der Dichter seufzend erwidern. Und dieser Seufzer lautet ausgeschrieben: »Wir würden sonst sentimental werden.«

Ein wenig ins Sentimentale, ins Gefühlsselige, das kraftlos alte vergangene schönere Zeiten bejammert, rückt bereits auch dieser Roman von der »Bohème« gegen sein Ende, das uns etwas rührsam den Abschied und den Tod Mimis ausmalt, die, eine Vorläuferin der empfindsamen »Cameliendame«, im Spital an der Schwindsucht erlischt. »Ihre letzten Seiten erinnern an den Blätterfall im Herbst, dies regelmäßige erschütternde Sterbeereignis, das ich gestern im Luxembourggarten mit Ihrem Roman auf einer Bank in einem Seitengang genossen habe«, schrieb der Dichter Musset an Murger, nachdem er das Buch von der Bohème ganz dicht bei der Stelle gelesen hatte, wo heute ein Denkmal Murgers unfern der Fontaine de Médicis emporragt. Und in der Tat muten diese letzten Blätter der Szenen uns auch heute noch vergilbter und welker an als die immergrünen, mit denen er mit der Begründung des Bohèmebundes anhebt. Wenn Ausgelassenheit und Jugendübermut die eine Seite des Künstlerzigeunertums ausmachen, so steht auf der andern Seite diesen Tugenden mit Recht ein ebenso kecker Stolz entgegen. Ein rechter Bohemien kann wohl die Reichen, die Seßhaften, die Bürger, auf denen er lebt und die er, nicht zu vergessen, mit seinen Scherzen unterhält und mitergötzt, gelegentlich anpumpen. Aber er wird darum nie ein berufsmäßiger Schnorrer sein. Im Gegenteil, zu einem wahren Bohèmetum gehört die stolze Verschwendung als notwendige Begleitung. Der junge Bohemienmaler, der ein Bild »verkloppt«, der angehende Dichter, der einen Zeitungsaufsatz an irgendein Modeblatt wie »Die Schärpe der Iris« im Künstlerkauderwelsch »verklitscht«, sie denken nicht daran, das Geld auf Zinsen zu legen oder Staatsanleihen davon zu kaufen. Sie schmeißen das mühsam Erworbene sofort wieder aufs freigebigste hinaus. Ja, noch mehr, sie laden sich sofort ihre Genossen und Kumpane, ja oft sogar noch ein paar Spießer als Füllsel ein, um ihren Verdienst schleunigst wieder zu verhauen. Ganz mit Recht verweilt Murger ausführlicher bei diesem Künstlerstolz, als er die umständliche und schwierige Aufnahme des braven Hauslehrers Carolus Barbemuche in das Reich der Bohème schildert, in das nur derjenige auf die Dauer eingelassen wird, der von seiner Natur aus einen Paß für diese Zigeunerwelt bekommen hat, für dies »Böhmen«, das zwischen den Kasten und Klassen und außerhalb der Gesellschaft liegt. Man kann nicht so ohne weiteres ein Bohemien werden. Es gehört eine ganz bestimmte Begabung dazu. Und wer sie, diese göttliche Leichtigkeit, nicht besitzt, der kann sich wohl in den unförmlichen unfeierlichen Orden der Bohème aufnehmen lassen, aber er wird dort nie Heimatsrecht erwerben. Folgerichtig scheidet drum der Außenseiter Barbemuche am frühesten und wie von selbst aus der unsichtbaren Gemeinde der Bohemiens aus, in die er eigentlich nur als Gast eingetreten war. Die andern, die echten Bohemiens, schleichen erst viel später ins Spießbürgertum, ins Philistertum, um sich, so gut es gehen mag, den seriösen Leuten anzupassen. Aber die Bohème selber stirbt niemals aus, trotzdem ihr Schöpfer Murger es, zum Schluß grämlich werdend, verkündet hat. Sie wird blühen, solange es eine Kunst und Künstler gibt. Wir in Deutschland kennen sie, wenigstens im Norden, selten, und haben darum noch immer kein rechtes eigenes Wort dafür gebildet. Nur das Studentenleben auf unseren Universitäten und Hochschulen hat manches mit der Bohème gemeinsam, die nach Murgers eigenen Worten nur in Paris besteht und möglich ist. Aber dies unser Studententreiben ist immerhin noch geregelt, lebt auf einem festen Wechsel und hat eine Verfassung wie seinen Komment, eine strenge Verkehrsform, vor der jeder Bohemien, der nicht einmal sich selber Satisfaktion gibt, schaudern würde. Es gibt ja überhaupt zu denken, daß unser Studententum vielfach noch eine Rauf- und Streitlust züchtet, während die Gemeinschaft der Bohemiens – und das ist ihr schönster Zug – vor allem auf die Kameradschaft gegründet ist. Allenfalls in München und seinem Schwabinger Viertel ist etwas der Bohème Verwandtes bei uns erwachsen, wie man auch dort allein in Deutschland einen Kreis oder gar Kreise von Bohemiens finden kann. Auf der Leopoldstraße und zwischen den Häusern ringsum in der Isarstadt können einem wohl auch gegenwärtig noch ähnliche Wesen wie die von Murger hier beschriebenen begegnen. Kerle wie Schaunard, Marcel, Rudolf und Colline, der unserm toten Dichter Peter Hille zum Verwechseln gleicht, Kerle, die ihre Pfeife, ihren Nasenwärmer, kaum zwischen den Lippen hervorziehen, und deren Möbel aus einer Staffelei und ein paar Rahmen oder einem geborgten Flügel bestehen. Und auch Mädchen wie Louise, wie Mimi und Musette können noch an der Isar wie an der Seine und in Wien an der Donau wachsen, Mädchen, die in Musselin und Druckkattun lustiger als die vornehmen Damen herumspazieren und ihre Jugend wie einen Tag im Lenz genießen, und wenn sie sich von ihrem Geliebten trennen, um solide zu werden, scherzend einen Trauerflor um die Abschiedsflasche binden, die man gemeinsam mit dem nunmehrigen »Freund« auf die herrliche Vergangenheit trinkt.

Von dem Dichter der Szenen aus dem Leben der Bohème, von Henri Murger, steht im Konversationslexikon zu lesen, daß er in Paris geboren, in kümmerlichen Verhältnissen dort gelebt habe und am 28. Januar 1861, erst neununddreißig Jahre alt, daselbst gestorben sei. Sie passen gut zu ihm, der die dürftige Glücklichkeit der Bohème besungen hat, diese wenigen Worte, die uns sein ganzes flüchtiges Dasein aufs kürzeste enthüllen. Gerade daß er, der auch die bittere Seite des Bohèmelebens erfahren hat, nicht unter allen Umständen heiter wirken mag, ist noch ein besonderer Vorzug von ihm. Seine Munterkeit hat darum nichts Erquältes und Gezwungenes bekommen. »Ich habe keineswegs geschworen,« sagt er an irgendeiner Stelle, »um jeden Preis Lachen zu erwecken. Die Bohème ist auch nicht alle Tage lustig.«

Aber seine Frohnatur und sein goldenes Herz, wie es die Wiener nennen, die alle halbe Bohemiens sind, haben ihm sicherlich zeitlebens auch die Entbehrungen und Enttäuschungen seiner Laufbahn versüßt. Als er begraben wurde, konnten leider um seine Gruft noch nicht die Lieder und Chöre erklingen, die spätere Opernschöpfer wie Massenet, Puccini und andere zu dem Text gemacht haben, den seine heiteren Szenen, ein Fries von fröhlichen Einfällen, ihnen darboten. Musset, in dessen starken Bann Murger nach seinem prächtigen Erstlingswurf der Bohème später geriet, war ihm auch im Sterben bereits vorangegangen und fünf Jahre vor ihm geschieden. Und darum konnte auch der Dichter, der dazu berufen gewesen wäre, an seiner Gruft zu sprechen, ihm nicht die schöne Nachrede halten. Aber Paris, dessen Frühling er so köstlich, und nicht zuletzt in seinen jungen Menschen, hingezeichnet hat, vergalt späterhin dem Toten, was es dem lebenden Murger zu verdanken hatte und was es ihm leider schuldig geblieben war. Man bestellte bei dem zu seiner Zeit berühmtesten Bildhauer Millet ein weibliches Standbild für das noch ungeschmückte Grab Murgers. Und als der Bildner fragte, was dies Grabmal, das man von ihm forderte, darstellen sollte, gab man ihm zur Antwort: »Nichts anderes als Murgers Bohème selber: Die JugendHerbert Eulenberg.


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