Henry Murger
Die Bohème
Henry Murger

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II. Ein Engel der Vorsehung

Schaunard und Marcel, die schon seit dem frühen Morgen angestrengt gearbeitet hatten, hielten plötzlich inne.

»Verflucht, ich habe Hunger«, sagte Schaunard. Und in müdem Ton fügte er hinzu: »Wird denn heute nicht gefrühstückt?«

Marcel schien über diese gänzlich unangebrachte Frage sehr erstaunt zu sein.

»Seit wann frühstücken wir denn zwei Tage hintereinander?« sagte er. »Gestern war doch Donnerstag.«

Und zur Bekräftigung seiner Worte deklamierte er das Kirchengebot, indem er mit dem Malstock den Takt dazu schlug:

»Am Freitag sollst kein Fleisch du essen
Und nichts, was diesem ähnlich ist.«

Schaunard fand darauf keine Antwort und machte sich wieder an sein Gemälde, das eine Ebene mit einem blauen und einem roten Baum darstellte, deren Zweige sich die Hände zu schütteln schienen. Zweifellos sollte dies eine geistreiche Anspielung auf das hehre Glück der Freundschaft sein.

In demselben Augenblick klopfte der Portier an der Tür. Er brachte einen Brief für Marcel.

»Er kostet drei Sous«, sagte er.

»Wirklich?« erwiderte der Künstler. »Gut, dann werden wir sie Ihnen schuldig bleiben.«

Und er schloß ihm die Tür vor der Nase zu.

Marcel hatte den Brief genommen und das Siegel abgerissen. Bei den ersten Worten, die er las, machte er einen Akrobatensprung durch das Atelier und begann das famose Lied zu singen, das bei ihm den Gipfelpunkt des Entzückens bezeichnete:

»Vier junge Leute auf einer Bank,
Die waren alle vier so krank,
Keiner mehr einen Tropfen trank.
       Au! Au! Au! Au!«

»Schön«, sagte Schaunard und sang die Fortsetzung:

»Man brachte sie in ein Lazarett,
Man steckte die vier in ein einzig Bett –«

»Unterbrich mich nicht immer,« schrie Marcel und tanzte und sang weiter:

»Da kam eine Schwester, und die war nett.
       Ei! Ei! Ei! Ei!«

»Wenn du jetzt nicht still bist,« meinte Schaunard, der schon die Symptome beginnenden Wahnsinns zu spüren glaubte, »dann spiele ich dir das Allegro aus meiner ›Symphonie über den Einfluß der blauen Farbe in der Kunst‹ vor.«

Und er näherte sich dem Klavier.

Diese Drohung wirkte wie kaltes Wasser, das in eine kochende Flüssigkeit gegossen wird. Marcel beruhigte sich, als hätte ihn ein Zauberstab berührt.

»Hier!« sagte er, indem er seinem Freund den Brief reichte. »Lies!«

Es war eine Einladung zu einem Diner. Sie kam von einem Abgeordneten, einem glänzenden Protektor der Künste und besonders der Marcels, seitdem dieser sein Landhaus abgemalt hatte.

»Es ist für heute«, sagte Schaunard. »Schade, daß die Einladung nicht für zwei Personen gilt. Übrigens fällt mir ein, dein Abgeordneter ist ja Regierungsanhänger, da kannst du unmöglich annehmen. Deine Grundsätze verbieten dir, Brot zu essen, an dem der Schweiß des Volkes klebt.«

»Pah,« sagte Marcel, »mein Abgeordneter gehört zum linken Zentrum, und er hat neulich gegen die Regierung gestimmt. Übrigens muß er mir einen Auftrag verschaffen, und er hat mir auch versprochen, mich zu empfehlen. Schließlich paßt es mir auch gerade an diesem Freitag, denn ich habe einen Hunger wie Ugolino im Hungerturm, und ich gehe darum heute zum Diner, damit du es weißt.«

»Es gibt aber noch andere Hinderungsgründe«, fuhr Schaunard fort, der doch etwas Neid verspürte über das große Glück, das seinem Freund in den Schoß gefallen war. »Du kannst doch nicht in einer roten Jacke und einer Holzträgermütze in die Stadt zum Diner gehen.«

»Ich werde mir die Kleider von Rudolf oder von Colline leihen.« »Törichter Jüngling! Vergißt du, daß wir schon über den Zwanzigsten hinaus sind, und daß jetzt die Kleider dieser beiden Herren längst im Pfandhaus sind?«

»Ich werde aber schon bis fünf Uhr einen schwarzen Rock auftreiben«, sagte Marcel.

»Ich habe drei Wochen gebraucht, um einen zu finden, als ich zu meinem Vetter auf die Hochzeit mußte. Und das war noch dabei zu Anfang Januar.«

»Nun, dann gehe ich so, wie ich bin«, erwiderte Marcel, indem er mit stolzen Schritten durch das Zimmer ging. »Ich werde mich doch nicht durch eine einfache Toilettenfrage behindern lassen, meinen ersten Schritt in die feine Gesellschaft zu machen.« »Übrigens,« meinte Schaunard, dem es viel Vergnügen zu machen schien, seinen Freund zu beunruhigen, »wie steht es mit den Schuhen?«

Marcel verließ die Wohnung in einer Aufregung, die sich unmöglich beschreiben läßt. Nach zwei Stunden kehrte er, mit einem Kragen belastet, zurück.

»Das ist alles, was ich auftreiben konnte«, sagte er kläglich.

»Wegen der Kleinigkeit hättest du nicht fortzugehen brauchen«, antwortete Schaunard. »Wir haben hier genug Papier, um ein Dutzend Kragen daraus auszuschneiden.«

»Aber«, sagte Marcel, indem er sich die Haare ausraufte, »wir müssen doch, zum Teufel, noch Sachen haben.«

Und er begann ein langes Suchen in allen Winkeln der beiden Zimmer. Nachdem er eine Stunde lang alles durchstöbert hatte, besaß er ein Kostüm, das aus folgenden Teilen zusammengesetzt war: einer karierten Hose, einem grauen Hut, einer roten Halsbinde, einem Handschuh, der einmal weiß gewesen war, und einem schwarzen Handschuh.

»Die kannst du zur Not als zwei schwarze Handschuhe tragen«, sagte Schaunard. »Aber wenn du dich angezogen hast, wirst du wie das Sonnenspektrum aussehen. Immerhin, schließlich bist du ja Farbenkünstler!«

Inzwischen versuchte Marcel die Schuhe. Es war ein Pech, sie gehörten beide an denselben Fuß.

Der verzweifelte Maler entdeckte jetzt in einem Winkel noch einen Schuh, in den sie die ausgedrückten Tuben zu werfen pflegten. Er fiel sofort darüber her.

»Vom Regen in die Traufe«, meinte sein spöttischer Genosse. »Der eine ist spitz, der andere breit.«

»Das sieht man nicht, wenn ich sie lackiere.«

»Da hast du recht: Es fehlt dir also nur noch der unentbehrliche schwarze Rock.«

»Ach,« sagte Marcel und biß sich in die Finger, »ich gäbe wahrhaftig zehn Jahre meines Lebens und meine rechte Hand her, wenn ich einen hätte.«

Von neuem klopfte jemand an die Tür, Marcel öffnete.

»Herr Schaunard?« fragte ein Fremder, indem er auf der Schwelle blieb.

»Das bin ich«, sagte der Maler und bat ihn, einzutreten.

»Mein Herr,« sagte der Fremde, an dessen biederem Gesicht man den Provinzonkel erkannte, »mein Vetter hat mir viel von Ihrer Begabung für die Porträtmalerei erzählt. Da ich als Delegierter für die Zuckerraffineure der Stadt Nantes eine Reise nach den Kolonien mache, so möchte ich meiner Familie ein Andenken an mich hinterlassen. Aus diesem Grunde habe ich Sie aufgesucht.«

»O heilige Vorsehung!« murmelte Schaunard. »Marcel, gib dem Herrn einen Stuhl!«

»Mein Name ist Blancheron«, fuhr der Fremde fort. »Blancheron von Nantes, Delegierter der Zuckerindustrie, ehemaliger Bürgermeister von V..., Hauptmann der Nationalgarde und Verfasser einer Broschüre über die Zuckerfrage.«

»Ich fühle mich hochgeehrt, daß Ihre Wahl auf mich gefallen ist«, sagte der Künstler, indem er sich vor dem Zuckerdelegierten verneigte. »Wie wünschen Sie Ihr Porträt?«

»In Miniatur wie das da«, antwortete Herr Blancheron und wies aus ein Ölbildnis. Denn für den Delegierten war alles, was nicht zur Anstreicherarbeit gehörte, Miniatur.

Nach dieser treuherzigen Antwort sah Schaunard wohl, wie er seinen Kunden zu behandeln hatte, besonders als dieser noch hinzufügte, er möchte sein Porträt mit seinen Farben gemalt haben.

»Ich verwende niemals andere Farben«, sagte Schaunard. »In welcher Größe wünscht der Herr das Porträt?«

»So groß wie das da«, antwortete Herr Blancheron und wies auf eine Leinwand. »Aber wieviel soll das kosten?«

»Fünfzig bis sechzig Franken. Fünfzig ohne die Hände, sechzig mit.«

»Teufel! Mein Vetter sprach mir von dreißig Franken.«

»Das ist je nach der Jahreszeit«, sagte der Maler. »Die Farben sind in manchen Monaten bedeutend teurer.«

»Halt, das ist ja gerade wie beim Zucker?«

»Natürlich.«

»Gut, dann also für fünfzig Franken«, sagte Herr Blancheron.

»Sie handeln unklug, denn für zehn Franken mehr hätten Sie auch die Hände, und ich würde Ihre Broschüre über die Zuckerfrage hineinlegen, was für Sie sehr schmeichelhaft wäre.«

»Wahrhaftig, da haben Sie recht.«

»Barmherziger Himmel«, sagte Schaunard zu sich selbst. »Wenn das so weiter geht, platze ich laut heraus und werde ihn dadurch vor den Kopf stoßen.«

»Hast du's gesehen?« flüsterte ihm Marcel ins Ohr.

»Was?«

»Er hat einen schwarzen Rock.«

»Ich verstehe, das ist eine großartige Idee.«

»Nun wohl, mein Herr«, sagte der Delegierte. »Wann wollen wir dann beginnen? Wir dürfen die Sache nicht hinausschieben, denn ich reise bald wieder ab.«

»Ich habe auch eine kleine Reise zu machen, übermorgen verlasse ich Paris. Darum, wenn Sie wollen, können wir sofort beginnen. Bei einer guten Sitzung kommen wir ziemlich vorwärts.«

»Aber es wird bald dunkel, und man kann doch nicht bei Licht malen«, sagte Herr Blancheron.

»Mein Atelier ist so eingerichtet, daß man darin zu jeder Zeit arbeiten kann«, antwortete der Maler. »Wenn Sie daher Ihren Rock ausziehen und die Stellung einnehmen wollen, dann können wir beginnen.«

»Meinen Rock ausziehen? Warum das?«

»Sagten Sie mir nicht, das Porträt sei für Ihre Familie bestimmt?«

»Jawohl.«

»Nun, dann müßten Sie auch in Ihrer häuslichen Tracht gemalt werden, in einem Schlafrock. Es ist das übrigens Sitte.«

»Aber ich habe keinen Schlafrock hier.«

»Ich habe einen. Der Fall ereignet sich öfters«, sagte Schaunard und zeigte seinem Modell einen mit Farbenklexen beschmierten alten Kittel, bei dessen Anblick der biedere Provinziale denn doch zurückfuhr.

»Das ist ein etwas merkwürdiges Kleidungsstück«, sagte er.

»Und ein sehr kostbares«, antwortete der Maler. »Ein türkischer Wesir hat es Herrn Horace Vernet verehrt, und der schenkte es mir. Ich bin nämlich sein Schüler.«

»Sie sind ein Schüler des berühmten Vernet?« fragte Blancheron.

»Ja, mein Herr, ich darf mich dessen rühmen. O ihr Götter,« murmelte er dann vor sich hin, »so verleugnet man seine künstlerische Ehre.«

»Darauf können Sie auch stolz sein, junger Mann«, fuhr der Delegierte fort und zog jetzt die Hausjoppe an, die eine so vornehme Herkunft hatte.

»Hänge den Rock des Herrn an den Garderobehalter«, sagte Schaunard zu seinem Freund mit einem bezeichnenden Augenzwinkern.

»Höre einmal,« murmelte Marcel, indem er seine Beute ergriff und auf Blancheron wies, »der Kerl ist wirklich ein Typ. Von dem mußt du dir eine Zeichnung bewahren.«

»Ich werde es versuchen. Aber nun zieh dich schnell an und scher dich weg. Mach, daß du um zehn Uhr zurück bist, ich werde ihn so lange festhalten. Vor allen Dingen bring' mir was in den Taschen mit.«

»Ich werde dir eine Ananas mitbringen«, sagte Marcel und machte sich davon.

Hastig kleidete er sich an. Der Rock saß ihm wie angegossen, und er entwischte durch die zweite Tür des Ateliers.

Schaunard hatte sich an seine Arbeit gemacht. Als es dunkel geworden war, schlug es sechs Uhr, und Herrn Blancheron fiel ein, daß er noch nicht diniert hatte. Er sagte es dem Maler.

»Mir geht es gerade so, doch wollte ich Ihnen zuliebe darauf verzichten, obgleich ich in einem Haus auf dem Faubourg Saint-Germain eingeladen war«, sagte Schaunard. »Wir dürfen die Sitzung jetzt nicht unterbrechen, die Ähnlichkeit würde darunter leiden.«

Damit ging er wieder an sein Werk.

»Übrigens«, sagte er plötzlich, »können wir auch dinieren, ohne daß die Arbeit darunter leidet. Es gibt unten ein ausgezeichnetes Restaurant, das uns alles heraufschickt, was wir haben wollen.«

»Sie haben da eine gute Idee,« sagte Herr Blancheron, »und ich hoffe, daß Sie dabei mein Gast sein werden.«

Schaunard verneigte sich.

»Wahrhaftig,« sagte er bei sich, »das ist ein braver Mensch und ein wahrer Engel der Vorsehung. Wollen Sie nach der Karte speisen?« fragte er seinen Gastgeber.

»Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie diese Sorge auf sich nähmen«, antwortete dieser höflich.

»Das sollst du am Kreuze bereuen«, jubelte der Maler vor sich hin, indem er, immer vier Stufen auf einmal, die Treppen hinabstürmte.

Er betrat das Restaurant, ging ans Büfett und bestellte ein Menü, das den Küchenchef erbleichen machte.

»Bordeaux von der gehabten Sorte.«

»Aber wer bezahlt das alles?«

»Ich nicht, das ist klar«, sagte Schaunard. »Aber ein Onkel von mir, den Sie oben sehen werden, ein verwöhnter Feinschmecker. Also versuchen Sie, Ehre einzulegen, und sorgen Sie, daß in einer halben Stunde serviert wird, natürlich auf feinem Porzellan.«


Um acht Uhr hatte Herr Blancheron schon das Bedürfnis, seine Ansichten über die Zuckerindustrie dem Busen eines Freundes anzuvertrauen, und er deklamierte Schaunard den Inhalt der Broschüre her, die er geschrieben hatte.

Dieser begleitete ihn dabei auf dem Klavier.

Um zehn Uhr tanzten Herr Blancheron und sein Freund Galopp und duzten sich. Um elf Uhr schwuren sie sich, sich niemals zu verlassen, und schrieben jeder ein Testament, in dem sie sich gegenseitig ihr Vermögen vermachten.

Um Mitternacht kam Marcel zurück und fand sie Arm in Arm. Sie zerflossen in Tränen, das Wasser stand im Atelier schon einen halben Zoll hoch. Marcel stieß an den Tisch und bemerkte die köstlichen Reste des vornehmen Mahles. Er betrachtete die Flaschen, sie waren vollständig leer.

Er wollte Schaunard aufwecken, aber dieser drohte, ihn zu ermorden, wenn er ihm Herrn Blancheron fortnähme, den er als Kopfkissen brauchte.

»Undankbarer!« sagte Marcel und zog aus seiner Tasche eine Hand voll Haselnüsse. »Dabei habe ich ihm noch zu essen mitgebracht.«


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