Henry Murger
Die Bohème
Henry Murger

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VI. Fräulein Dudelsack

Fräulein Dudelsack war ein hübsches Mädchen von zwanzig Jahren, das bald nach seiner Ankunft in Paris zu dem geworden, was alle hübschen Mädchen werden, wenn sie eine elegante Figur, viel Koketterie und etwas Ehrgeiz haben und mit der Orthographie auf dem Kriegsfuß stehen. Nachdem sie lange Zeit die Vergnügungsabende des Studentenviertels verschönt und dort mit einer sehr gefühlvollen, wenn auch nicht immer richtigen Stimme eine Menge ländlicher Liedchen gesungen, die ihr den Beinamen eintrugen, unter dem sie von da ab von den hervorragendsten Vertretern der kommenden Dichtergeneration gefeiert wurde, verließ sie plötzlich die ärmliche Rue de la Harpe und zog nach dem eleganteren Quartier Breda.

Sie wurde jetzt bald eine der Löwinnen der vornehmen Vergnügungswelt und näherte sich nach und nach jenem Höhepunkt der Berühmtheit, der darin besteht, daß man in den Pariser Zeitungen genannt oder für die Kunsthandlung lithographiert wird.

Trotzdem unterschied sich Fräulein Dudelsack doch von den übrigen Damen, zwischen denen sie lebte. Wie alle echten Frauen liebte sie innerlich Eleganz und Schönheit. Sie sehnte sich nach Reichtum und den Genüssen des Reichtums. Aber sie wäre doch nie die Geliebte eines Mannes geworden, der nicht wie sie selbst jung und schön war, und sie hatte mehr als einmal glänzende Anerbietungen reicher alter Lebemänner zurückgewiesen.

Ihre Liebesneigungen waren heftig und impulsiv, sie dauerten aber nie lange genug, um zu wirklichen Leidenschaften anzuwachsen. Und die außerordentliche Veränderlichkeit ihrer Gefühle, die geringe Sorgfalt, mit der sie auf den Geldbeutel und die Kleidung derer sah, die um ihre Gunst warben, brachten eine große Beweglichkeit in ihr Leben und verursachten bei ihr einen ständigen Wechsel zwischen einem eigenen Wagen und dem Omnibus, zwischen hochherrschaftlicher Wohnung und einem Schlafquartier im Hinterhaus, zwischen seidenen und baumwollenen Kleidern.

Zu der Zeit, da sie die Geliebte eines jungen Staatsrats war, der ihr in galanter Weise die Verfügung über sein Erbteil überließ, hatte sie die Gewohnheit, einmal wöchentlich in ihrem hübschen kleinen Salon in der Rue de la Bruyère einen Gesellschaftsabend zu geben. Ihre Abende glichen so ziemlich den meisten Pariser Gesellschaftsabenden, nur daß man sich bei ihr besser als anderswo amüsierte. Wenn es nicht genügend Stühle gab, so setzte sich einer auf den Schoß des andern, und es kam oft vor, daß ein Paar aus einem Glas trank. Rudolf, der der Freund von Fräulein Dudelsack war, und der niemals (sie wußten beide nicht, warum) mehr war als ihr Freund, bat sie eines Abends, seinen Freund, den Maler Marcel einführen zu dürfen. »Er ist ein talentvoller Junge«, fügte er hinzu, »und wird sicher einmal auf einem Sessel der Akademie sitzen.«

»Bringen Sie ihn nur her«, antwortete sie.

An dem Abend, wo sie zusammen hingehen wollten, stieg Rudolf zu Marcel hinauf, um ihn abzuholen. Der Maler machte gerade Toilette.

»Wie, du willst in einem farbigen Hemd in eine Gesellschaft gehen?« fragte Rudolf.

»Ist das denn nicht Sitte?« erwiderte Marcel ruhig.

»Sitte? Unglücksmensch, es ist ein tödlicher Verstoß!«

»Wirklich?« meinte Marcel und betrachtete sein Hemd, das auf einem blauen Untergrund Vignetten mit einem von einer Meute vorfolgten Eber zeigte. »Ach was, ich binde einen Vatermörder um, und da mein Methusalem sich bis zum Halse knöpfen läßt, so sieht man nichts von meinem Hemd.«

»Du willst doch nicht den Methusalem anziehen?« fragte Rudolf beunruhigt.

»Ich muß leider«, antwortete Marcel. »Gott und mein Schneider haben mir keinen neueren Rock beschert. Außerdem hat er neue Knöpfe bekommen, und ich habe ihn auch kürzlich erst frisch geschwärzt.«

Marcels Rock trug den Beinamen Methusalem auch nicht ohne Berechtigung, denn er hatte mit der neuesten Mode weniger als nichts zu tun und war außerdem von einer unangenehmen grünen Farbe. Aber Marcel behauptete, bei Licht könne er für schwarz durchgehen.

Nach fünf Minuten war Marcels Toilette beendet. Sie zeigte den denkbar schlechtesten Geschmack, und er sah aus wie ein Malerlehrling, der sich in eine Gesellschaft verlaufen hat.

Aber die beiden Freunde sollten an diesem Abend noch eine Überraschung erleben. Fräulein Dudelsack hatte sich nämlich mit ihrem Freund, dem Staatsrat, überworfen und war nach einer heftigen Auseinandersetzung von ihm verlassen worden. Ihre Gläubiger und der Hausherr hatten darauf ihre Möbel gepfändet und diese auf den Hof heruntergeschafft, von wo sie am nächsten Tage zur Versteigerung abgeholt werden sollten. Trotz dieses Zwischenfalls dachte Fräulein Dudelsack keinen Augenblick daran, ihren Gesellschaftsabend ausfallen zu lassen. Sie ließ ganz ruhig den Hof in einen Salon umwandeln, legte einen Teppich auf das Pflaster, traf alle Vorbereitungen wie sonst, zog eine Empfangstoilette an und lud alle Mieter des Hauses zu ihrem kleinen Fest ein, wobei sie nur die Sorge für die Beleuchtung der Gnade des Himmels überlassen mußte.

Dieser Schwank hatte einen ungeheuern Erfolg. Noch nie war ein Abend bei Fräulein Dudelsack so unterhaltsam und lustig verlaufen. Man sang und tanzte noch, als in der Frühe die Arbeiter kamen, um die Möbel, die Teppiche und Sessel fortzuholen. Nun war man allerdings gezwungen, aufzubrechen, und die Gesellschaft ging in fröhlichster Stimmung auseinander.

Marcel und Rudolf blieben noch bei Fräulein Dudelsack, die in ihre Wohnung hinaufgegangen war, wo sich nichts mehr als ihr Bett befand.

»Ach ja,« sagte sie, »jetzt fängt mein Abenteuer an, weniger lustig zu sein. Ich werde wohl bei Mutter Grün logieren müssen. Ich kenne schon dieses Hotel, es zieht da manchmal sehr.«

»Oh, gnädiges Fräulein,« sagte Marcel, »wenn ich die Schätze eines Krösus besäße, ich würde Ihnen einen Tempel anbieten, kostbarer als der des Salomo, aber ...«

»Aber Sie sind kein Krösus, mein Freund. Ich bin Ihnen auch für die Absicht dankbar ... Übrigens,« setzte sie hinzu, indem sie ihr Gemach mit einem Blick streifte, »ich langweile mich hier. Die Möbel waren schon alt, ich hatte sie schon sechs Monate. Außerdem, nach dem Ball geht man gewöhnlich zum Souper.« »Auf zum Souper, Torero!« sang Marcel, der gerne faule Witze machte, besonders des Morgens.

Da Rudolf bei einem Kartenspiel, das während der Nacht gemacht worden war, etwas Geld gewonnen hatte, führte er Fräulein Dudelsack und Marcel in eine Wirtschaft, die gerade geöffnet wurde.

Nach dem Frühstück hatte keiner von den dreien Lust, schon zu Bett zu gehen, und so beschlossen sie, den begonnenen Tag auf dem Lande zu verbringen. Sie befanden sich in der Nähe eines Bahnhofs, nahmen den nächstbesten Zug und kamen so nach Saint Germain.

Den ganzen Tag durchstreiften sie die Wälder und kehrten erst abends um sieben wieder nach Paris zurück. Marcel wäre gerne noch länger geblieben. Er meinte, es könnte höchstens halb eins sein, und die zunehmende Dunkelheit käme nur daher, daß der Himmel mit Wolken bedeckt sei.

Marcels Herz, das sich schon während der Nacht entzündet hatte, stand nämlich in hellen Flammen, und er versprach seiner Begleiterin, ihr ein noch viel schöneres Mobiliar als das frühere zu kaufen. Das Geld wollte er sich durch den Verkauf seines berühmten Gemäldes ›Der Durchgang durch das Rote Meer‹ verschaffen. Aber der schöne Gegenstand seiner Liebe ließ sich zwar die Hände, den Hals, und was sonst an ihr zugänglich war, küssen, wollte aber von einem Einbruch in ihr Herz nichts wissen.

In Paris trennte sich Rudolf von den beiden andern, und der Maler erhielt die Erlaubnis, das junge Mädchen bis zu ihrer Tür zu begleiten.

»Darf ich Sie besuchen?« fragte Marcel. »Ich werde Ihr Porträt malen.«

»Lieber Freund,« sagte die Kleine, »ich kann Ihnen nicht meine Adresse geben, da ich ja gar nicht weiß, wo ich morgen wohne. Aber ich werde Sie besuchen und Ihren Rock ausbessern, der ein Loch hat, daß ein Heuwagen hindurchfahren kann.«

»Ich werde Sie erwarten wie den Messias«, sagte Marcel.

»Aber nicht so lange«, meinte die Kleine lachend.

»Was für ein reizendes Mädchen«, sagte Marcel, indem er langsam weiterging. »Sie ist die Göttin der Heiterkeit. Ich werde mir noch ein Loch in den Rock machen.«

Er war noch keine dreißig Schritte gegangen, als ihm jemand auf die Schulter klopfte. Es war Fräulein Dudelsack.

»Lieber Herr Marcel,« sagte sie, »sind Sie ein Kavalier?«

»Durch und durch. Rubens und meine Dame, so lautet mein Wahlspruch.«

»Nun, dann vernehmet meine traurige Mär, hochedler Ritter«, antwortete Fräulein Dudelsack, die etwas von der Literatur in sich aufgenommen hatte, obgleich sie mit den Regeln der Grammatik manchmal auf gespanntem Fuße stand. »Mein Hauswirt hat den Schlüssel zu meiner Wohnung entfernen lassen, und es ist elf Uhr nachts – begreifen Sie meine Lage?«

»Ich begreife sie«, sagte Marcel und bot seiner Dame den Arm. Dann führte er sie nach seinem Atelier, das auf dem Quai aux Fleurs lag.

Fräulein Dudelsack fiel fast um vor Schlaf, hatte aber noch die Kraft, Marcel, dem sie die Hand drückte, zu sagen: »Sie vergessen doch nicht, was Sie mir versprochen haben?«

»O geliebtes Mädchen«, sagte der Künstler mit etwas bewegter Stimme. »Sie sind hier unter einem gastlichen Dach. Schlafen Sie in Frieden, gute Nacht. Ich gehe fort.«

»Warum denn?« fragte sie, und die Augen fielen ihr fast zu. »Ich versichere Ihnen, ich habe keine Furcht. Außerdem sind ja hier zwei Zimmer, ich lege mich auf Ihr Sofa.«

»Mein Sofa ist zu hart, um darauf zu schlafen. Es ist wie mit Kieselsteinen gepflastert. Ich schlafe bei einem Freund, der im selben Block wohnt. Es ist besser so, denn wenn ich auch gewöhnlich mein Wort halte, ich bin zweiundzwanzig Jahre alt und Sie sind achtzehn. Gute Nacht.«

Am nächsten Morgen um acht kam Marcel mit einem Blumentopf nach Hause, den er auf dem Markt gekauft hatte. Fräulein Dudelsack, die sich ganz bekleidet aufs Bett gelegt hatte, schlief noch immer. Bei dem Geräusch, das er machte, erwachte sie und streckte ihm die Hand entgegen.

»Guter Junge!« sagte sie.

»Guter Junge?« wiederholte er. »Heißt das nicht so viel wie Dummkopf?«

»Oh,« antwortete Fräulein Dudelsack, »warum sagen Sie so etwas? Das ist nicht nett. Anstatt mir Bosheiten an den Kopf zu werfen, sollten Sie mir lieber den hübschen Blumentopf schenken.«

»Ich hab' ihn ja eigens für Sie mitgebracht«, sagte Marcel. »Nehmen Sie ihn, und als Dank für meine Gastfreundschaft singen Sie mir eins Ihrer schönen Liedchen. Vielleicht bleibt etwas von dem Echo Ihrer Stimme in diesem Atelier zurück, und ich höre es noch, wenn Sie fortgegangen sind.«

»Sie wollen mich doch nicht vor die Tür setzen?« fragte sie. »Jetzt, da ich keine Wohnung habe. Hören Sie, Marcel, ich ziere mich nicht lange, wenn ich meinem Herzen Luft machen will. Sie gefallen mir, und ich gefalle Ihnen. Wenn das auch keine Liebe ist, so ist es vielleicht ein Ansatz dazu. Also, ich gehe nicht. Ich bleibe hier, solange die Blumen, die Sie mir geschenkt haben, nicht verwelken.«

»Ach,« seufzte Marcel, »die werden schon in zwei Tagen verwelkt sein. Hätte ich das gewußt, ich hätte Immortellen gekauft.«


Vierzehn Tage wohnten Fräulein Dudelsack und Marcel schon zusammen, und sie führten, obgleich sie oft ohne Geld waren, das wundervollste Leben von der Welt. Fräulein Dudelsack fühlte für den Maler eine Neigung, die nichts mit ihren früheren Leidenschaften zu tun hatte, und Marcel begann zu fürchten, er hätte sich ernsthaft in seine Freundin verliebt. Er wußte nicht, daß sie dieselbe Sorge hatte, und sah jeden Morgen nach, ob auch die Blumen noch frisch wären, deren Welken ja das Ende ihres Verhältnisses bedeuten sollte. Er begriff nicht, warum sie sich so gut hielten, bis er eines Nachts erwachte und Fräulein Dudelsack nicht neben sich fand. Er stand auf und schlich in das Atelier, wo er seine Geliebte fand, die jede Nacht seinen Schlaf benutzte, um den Blumen Wasser zu geben, damit sie nicht verwelken konnten.


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