Henry Murger
Die Bohème
Henry Murger

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XX. Romeo und Julia

Elegant wie ein Modekupfer aus seiner Zeitschrift ›Der Regenbogen‹, in Handschuhen und Lackschuhen, frisiert, mit gekräuseltem Schnurrbart, den Spazierstock in der Hand, das Monokel im Auge, strahlend, jung und einfach hübsch – so stand an einem Novemberabend unser Freund, der Dichter Rudolf, und wartete auf eine Droschke, um sich nach Hause fahren zu lassen.

Rudolf, der auf eine Droschke wartete? Was für ein Geldstrom war da plötzlich in sein Leben hineingeflossen?

Zu dieser selben Stunde, da der verwandelte Dichter seinen Schnurrbart drehte und auf einer ungeheuren Regaliazigarre kaute, während seine Blicke nach schönen Damen ausschauten, kam auch einer seiner Freunde über den nämlichen Boulevard. Es war der Philosoph Colline. Rudolf sah ihn kommen und erkannte ihn schnell, wie ihn ja jeder, der ihn nur einmal gesehen hatte, für immer im Gedächtnis behielt. Colline war wie stets mit einem Dutzend alter Scharteken beladen. In seinem unsterblichen braunen Mantel, bei dessen Unverwüstlichkeit man auf den Gedanken kam, er sei schon von den alten Römern erbaut, und in dem berühmten Hut mit den breiten Krempen, den man den Mambrinshut der modernen Philosophie nannte, ging Gustav Colline mit langsamen Schritten dahin und deklamierte ganz leise das Vorwort zu einem Werk, das seit drei Monaten – in seiner Phantasie im Druck war. Als er sich der Stelle näherte, wo Rudolf stand, glaubte ihn Colline einen Augenblick zu erkennen, aber die unendliche Eleganz, die der Dichter ausstrahlte, stürzte den Philosophen doch wieder in Zweifel und Ungewißheit.

»Rudolf in Handschuhen mit einem Spazierstock! Halluzination, Utopie, Geistesverwirrung! Rudolf frisiert – mit seinem kahlen Kopf! Wo hatte ich denn nur meine Augen? Übrigens wird zu dieser Stunde mein armer Freund dabei sein, in wehmütigen Versen den Verlust der jungen Mimi zu beklagen, die ihn ja verlassen haben soll. Eigentlich ist es schade, daß diese junge Schöne fort ist, sie verstand es ganz ausgezeichnet, den Kaffee zuzubereiten, diesen Trank erlesener Geister. Aber Rudolf wird sich hoffentlich trösten und sich bald eine neue Kaffeemaschine anschaffen.«

Colline war über sein Wortspiel so entzückt, daß er sich am liebsten selbst Bravo! zugerufen hätte, aber in diesem Augenblick langte er dicht bei Rudolf an und mußte sich hier vor der Macht der Tatsachen beugen. Es war doch Rudolf, frisiert, mit Handschuhen und Spazierstock! Das Unmögliche erwies sich als wahr.

»Donnerwetter!« rief Colline. »Ich täusche mich nicht. Das bist du, ich zweifle nicht mehr!«

»Ich auch nicht«, antwortete Rudolf.

Colline begann jetzt mit dem größten Erstaunen seinen Freund in Augenschein zu nehmen, und er bemerkte plötzlich zwei seltsame Gegenstände an ihm, über deren Zweck er nicht ins klare kam, nämlich eine Strickleiter und einen Käfig, in dem irgendein Vogel sich bewegte.

»Nun ja,« sagte Rudolf zu seinem Freund, »ich sehe dir deutlich am Gesicht ab, wie du dich vor Neugierde verzehrst. Ich will dich zufriedenstellen. Aber wir wollen die Straße verlassen, es ist so kalt, daß deine Fragen und meine Antworten erfrieren würden.«

Und sie traten beide in ein Café hinein.

Die Augen Collines verließen indessen weder die Strickleiter noch den Käfig, in dem der kleine Vogel, den die Luft im Café erwärmt hatte, nunmehr zu singen anfing. Aber es war eine Sprache, die der polyglotte Colline durchaus nicht verstand.

»Zunächst,« fragte der Philosoph, indem er auf die Strickleiter wies, »was ist das?«

»Das ist ein Bindeglied zwischen meiner lieben Freundin und mir«, antwortete Rudolf in einem singenden Ton.

»Und dies da?« fragte Colline und wies auf den Vogel.

»Das«, sagte der Dichter mit fast schmelzender Stimme, »ist eine Uhr.«

»Bitte sprich zu mir ohne poetische Vergleiche, in gemeiner Prosa, aber so, daß man es verstehen kann.«

»Gern. Hast du Shakespeare gelesen?«

»Ob ich ihn gelesen habe! To be or not to be. Er war ein großer Philosoph ... Jawohl, ich habe ihn gelesen.«

»Erinnerst du dich an Romeo und Julia?«

»Ob ich mich daran erinnere!« sagte Colline.

Und er begann zu deklamieren:

»Willst du schon gehn? Der Tag ist ja noch fern.
Es war die Nachtigall und nicht die Lerche,
Die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang ...

Zum Donnerwetter, ich erinnere mich schon. Aber was soll das?« »Wie?« fragte Rudolf, indem er auf die Strickleiter und den Vogel wies. »Das begreifst du nicht? Es ist doch genau wie in dem Drama: Ich bin verliebt, mein Freund, verliebt in eine Frau, die Julia heißt.«

»Ja, und dann ...?« fuhr Colline ungeduldig fort.

»Nun, da meine neue Göttin Julia heißt, so bin ich auf den Gedanken gekommen, mit ihr das Drama von Shakespeare zu spielen. Vor allem nenne ich mich nicht mehr Rudolf, sondern Romeo Montague, und du tust mir einen Gefallen, wenn du mich nie anders nennst. Ich werde mir übrigens, damit es die ganze Welt erfährt, neue Visitenkarten machen lassen. Aber das ist nicht alles, ich werde, da wir uns im Karneval befinden, die Gelegenheit benützen und ein Samtwams mit einem Degen tragen.«

»Um Tybald zu töten?« fragte Colline.

»Natürlich«, fuhr Rudolf fort. »Die Strickleiter schließlich, die du hier siehst, benutze ich dazu, um zu meiner Geliebten zu gelangen, die zufällig wirklich einen Balkon besitzt.«

»Aber der Vogel, der Vogel?« fragte Colline hartnäckig.

»Nun, der Vogel, der eine Taube ist, soll die Rolle der Nachtigall spielen und mir jeden Morgen den genauen Zeitpunkt ansagen, wenn ich mich den angebeteten Armen meiner Geliebten entziehen will, und sie, indem sie meinen Hals umschlingt, mit ihrer süßen Stimme genau wie in der Balkonszene sagen wird: ›Nein, der Tag ist ja noch fern, es war die Lerche nicht ...‹ mit anderen Worten: es ist noch nicht elf Uhr, die Straßen sind schmutzig, geh' noch nicht, wir haben es hier gemütlich! Um endlich die Nachahmung vollständig zu machen, werde ich sehen, daß ich eine Amme auftreibe, die ich zur Verfügung meiner Vielgeliebten stelle. Auch hoffe ich, daß der Kalender freundlich genug sein wird, mir von Zeit zu Zeit etwas Mondschein zu verschaffen, während ich den Balkon meiner Julia ersteige. Was sagst du zu meinem Plan, Philosoph?«

»Hübscher kann es nicht sein«, meinte Colline. »Aber könntest du mir nicht auch das Geheimnis deines eleganten Aussehens verraten, das dich ganz unkenntlich macht? ... Du bist also reich geworden?«

Rudolf antwortete nicht, aber indem er dem Kellner winkte, warf er ihm nachlässig ein Zwanzigfrankstück zu und sagte:

»Halten Sie ab!«

Dann klopfte er auf seine Börse, in der es zu klingen begann.

»Du hast wohl einen Glockenturm in der Tasche, daß das so klingt?«

»Nur ein paar Goldstücke!«

»Goldstücke?« fragte Colline mit einer vor Staunen erstickten Stimme. »Zeig' doch einmal eins her, wie sie aussehen.«

Dann trennten sich die beiden Freunde, Colline, um überall die Nachricht von Rudolfs verschwenderischem Leben und seiner Liebe zu erzählen, der Dichter, um nach Hause zu fahren.

Dieses Zusammentreffen ereignete sich in der Woche nach dem zweiten Abbruch der Liebesbeziehungen zwischen Rudolf und Mimi. Der Dichter hatte, als ihn seine Geliebte verlassen, das Bedürfnis empfunden, sein Logis zu wechseln, und war mit seinem Freund Marcel in ein anderes Haus gezogen. Das Zimmer, das Rudolf diesmal wählte, war unvergleichlich schöner als alle, die er früher gehabt hatte. Es gab hier fast anständige Möbel, vor allem ein Sofa, dessen roter Bezug sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Samt hatte.

Ferner standen auf dem Kamin zwei Porzellanvasen mit aufgemalten Blumen und in der Mitte eine Alabasterstanduhr mit schrecklichen Verzierungen. Rudolf setzte die Vasen in einen Schrank, und da der Hauswirt gerade kam, um die Uhr, die stehengeblieben war, in Gang zu setzen, bat ihn der Dichter, es nicht zu tun.

»Ich habe nichts dagegen,« sagte er, »daß die Uhr auf dem Kamin bleibt. Aber sie bleibt nur als Kunstgegenstand. Sie zeigt jetzt gerade Mitternacht, das ist eine schöne Stunde, und darauf soll sie stehenbleiben! Am Tage, wo sie fünf Minuten nach zwölf anzeigt, ziehe ich aus.«

Wenige Tage später erstrahlte dieses Zimmer im hellsten Glanz und hallte von dem Lärm froher Gäste wider. Es wurde das Einweihungsfest gefeiert, und zahlreiche Flaschen erklärten die lustige Stimmung der Eingeladenen. Rudolf selbst verfiel dem ansteckenden Frohsinn seiner Freunde, und in einem Winkel begann er einer zufällig erschienenen jungen Frau aufs zärtlichste den Hof zu machen. Gegen Ende des Festes waren sie so weit, daß sie für den folgenden Tag ein Zusammentreffen verabredeten.

Fräulein Julia fand sich auch am nächsten Abend pünktlich ein, doch kamen sie an dem Tage nicht über gegenseitige Erklärungen hinaus. Julia hatte erfahren, daß Rudolf sich erst kürzlich von einem blauäugigen Mädchen, das er sehr geliebt, getrennt hatte. Sie wußte auch, daß einer früheren Trennung schon einmal eine Versöhnung gefolgt war, und wollte nicht das Opfer einer Wiederkehr der alten Liebe werden.

»Sehen Sie,« sagte sie mit einer hübschen, eigenwilligen Geste, »ich möchte nicht gern eine lächerliche Rolle spielen. Ich sage Ihnen jetzt schon, daß ich sehr böse werden kann. Bin ich erst einmal hier die Herrin, so bleibe ich auch und weiche nicht vom Platze.«

Rudolf bot seine ganze Beredsamkeit auf, um sie zu überzeugen, daß ihre Furcht unbegründet sei, und sie kamen auch zu einer Verständigung. Aber sie ließ sich doch nicht davon abbringen, um Mitternacht aufzubrechen.

»Wozu diese Eile?« sagte sie. »Wir kommen doch dahin, wohin wir wollen, wenn wir uns auch unterwegs aufhalten. Ich bin morgen wieder da.«

Und so kam sie eine Woche lang jeden Abend, um, sobald es zwölf schlug, wieder fortzugehn.

Dieses kleine, gefühlvolle Vorspiel hatte zur Folge, daß Rudolf sich tiefer in die Sache verstrickte, als er anfangs beabsichtigt hatte. Fräulein Julia arbeitete auch bewußt darauf hin, aus seiner anfänglichen Laune durch ihr geschicktes Widerstreben eine wirkliche Liebe zu entwickeln.

Bei jedem neuen Besuch, den sie Rudolf machte, bemerkte sie in allem, was er sagte, seine zunehmende Neigung. Er zeigte, wenn sie sich etwas verspätete, jene bezeichnende Ungeduld, die das junge Mädchen entzückte, und er schrieb ihr sogar Briefe, deren Sprache in ihr die Hoffnung erweckte, daß sie demnächst seine legitime Geliebte werden würde.

Indessen bemerkte auch Rudolf, daß es jetzt nur noch an ihm lag, diesem kleinen Roman einen glücklichen Abschluß zu geben, und es geschah gerade hierbei, daß er auf den Gedanken kam, Shakespeare in seinem Liebesspiel von Romeo und Julia nachzuahmen. Seine zukünftige Geliebte fand die Idee herrlich und versprach, den Scherz voll und ganz mitzumachen.

Es war gerade an dem Abend, da die Vereinigung stattfinden sollte, als Rudolf den Philosophen Colline traf. Der Dichter hatte soeben die seidene Strickleiter gekauft, um damit den Balkon seiner Julia zu erklettern. Der Vogelhändler, an den er sich wandte, besaß leider keine Nachtigall, und so erstand Rudolf dafür eine Taube, von der man ihm sagte, daß sie jeden Morgen beim Beginn der Morgendämmerung sänge.

Zu Hause angekommen überlegte der Dichter, daß es keine so leichte Sache sei, an einer Strickleiter hinaufzuklettern, und daß es daher gut sei, die Balkonszene etwas einzuüben, wenn er nicht, ganz abgesehen von einem Absturz, Gefahr laufen wollte, in den Augen derer, die ihn erwartete, lächerlich und ungeschickt zu erscheinen. Er befestigte also seine Strickleiter an zwei Nägeln, die er gut in die Zimmerdecke geschlagen hatte, und verbrachte die ihm noch verbleibenden zwei Stunden mit turnerischen Übungen. Schließlich gelangte er nach unzähligen Versuchen so weit, daß er etwa zehn Sprossen erklettern konnte.

»Gut,« sagte er sich, »ich bin jetzt meiner Sache sicher. Und sollte ich übrigens wirklich steckenbleiben, so würde die Liebe mir Flügel verleihen.«

Und so begab er sich, mit der Strickleiter und dem Taubenkäfig beladen, zu Julia, die in seiner Nachbarschaft wohnte. Ihr Zimmer lag im Gartenhaus und besaß tatsächlich eine Art Balkon. Nur befand sich dieses Zimmer im Erdgeschoß, und so konnte man den Balkon auf die leichteste Art von der Welt ersteigen.

Rudolf war auch äußerst verblüfft, als er diesen Zustand entdeckte, der sein ganzes poetisches Kletterprojekt zuschanden machte. »Es schadet nichts,« sagte er zu Julia, »wir können trotzdem die Balkonszene spielen. Hier ist ein Vogel, der uns morgen durch seine melodiöse Stimme wecken und uns den genauen Zeitpunkt sagen wird, wann wir uns verzweiflungsvoll voneinander trennen müssen.« Damit stellte Romeo seinen Käfig in eine Ecke des Zimmers.

Am andern Morgen um fünf Uhr tat die Taube auch ihre Schuldigkeit und erfüllte das ganze Zimmer mit einem anhaltenden Gurren, das die Liebenden sicher geweckt hätte, wenn sie überhaupt geschlafen hätten.

»Hörst du?« fragte Julia. »Jetzt ist der Augenblick da, um auf den Balkon zu gehen und uns verzweifelt voneinander zu verabschieden. Was hältst du davon?«

»Die Taube geht vor«, sagte Rudolf. »Wir sind im November, und da steht die Sonne erst um Mittag auf.«

»Das ist egal,« sagte Julia, »ich stehe jetzt auf.«

»Warum? Was willst du tun?«

»Mein Magen ist leer, und ich kann dir nicht verbergen, daß ich gerne etwas essen möchte.«

»Es herrscht doch eine wunderbare Harmonie in unseren Gefühlen, ich habe ebenfalls einen furchtbaren Hunger«, sagte Rudolf, indem er sich auch erhob und schnell in die Kleider schlüpfte.

Julia hatte schon Feuer angemacht und suchte in ihrem Speiseschrank nach eßbaren Dingen. Rudolf half ihr beim Suchen.

»Halt,« sagte er, »Zwiebeln!«

»Und Speck«, sagte Julia.

»Und Butter.«

»Und Brot.«

Ach, das war alles!

Während ihres Suchens sang die Taube froh und unbesorgt auf ihrer Stange weiter.

Romeo sah Julia an, Julia sah Romeo an, dann richteten sie gemeinsam ihre Blicke auf die Taube.

Sie sagten sich weiter nichts. Das Schicksal der Taubenuhr war besiegelt. Und hätte sie auch Berufung eingelegt, es wäre vergebene Liebesmühe gewesen, denn der Hunger ist ein grausamer Richter.

Rudolf hatte ein Kohlenfeuer angezündet und briet Speck in zerlassener Butter. Er machte eine ernste und feierliche Miene.

Julia enthäutete in melancholischer Haltung Zwiebeln.

Die Taube sang noch immer, es war ihr Schwanengesang.

Und als Begleitung zu diesem Sterbelied zischte die Butter in der Pfanne.

Fünf Minuten später sang nur noch die Butter, die Taube war verstummt.

Romeo und Julia hatten ihre Uhr in einen Braten verwandelt. »Sie hatte eine hübsche Stimme«, sagte Julia, indem sie sich an den Tisch setzte.

»Sie war ein zartes Wesen«, meinte Romeo und zerschnitt seine braungebratene Weckeruhr.

Die beiden Liebenden sahen sich an, und zu ihrem Staunen bemerkten sie jeder eine Träne im Auge des andern.

... Diese Heuchler! Es waren die Zwiebeln, die sie zum Weinen gebracht hatten.


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