Henry Murger
Die Bohème
Henry Murger

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VIII. Was ein Fünffrankstück kostet.

Eines Sonnabends lernte Rudolf, als er im Restaurant zu Abend speiste, dort eine Putzmacherin kennen, die sich Fräulein Laura nannte. Sobald sie hörte, daß Rudolf Chefredakteur der Modejournale ›Regenbogen‹ und ›Castor‹ war, begann sie herausfordernd mit ihm zu kokettieren, denn sie hoffte, daß er für sie Reklame machen könnte. Auf diese Lockungen antwortete Rudolf mit einem wahren Feuerwerk geistreicher Liebesbeteuerungen, so daß am Schluß des Diners Fräulein Laura, die inzwischen erfahren hatte, daß ihr Nachbar ein Dichter war, ihm offen zu verstehen gab, daß sie nicht abgeneigt sei, ihn zu ihrem Petrarka zu erwählen. Sie bewilligte ihm sogar ohne Umschweife ein Stelldichein für den nächsten Tag.

»Himmel!« sagte sich Rudolf, als er Fräulein Laura nach Hause begleitete, »ist das eine entzückende Person! Sie ist elegant gekleidet und scheint sogar gebildet zu sein. Ich hätte wirklich nichts dagegen, sie glücklich zu machen.«

Vor ihrer Haustür ließ Fräulein Laura Rudolfs Arm los und dankte ihm, daß er sie einen so weiten Weg begleitet habe.

»O meine Gnädigste,« antwortete Rudolf mit einer tiefen Verneigung, »ich wünschte, Sie wohnten in Moskau oder auf den Sundainseln, dann hätte ich so viel länger das Vergnügen, Ihr Begleiter zu sein.«

»Das würde ein weiter Weg sein«, meinte sie kokett.

»Wir hätten die Boulevards genommen«, erwiderte Rudolf. »Gestatten Sie mir, Ihnen die Hand zu küssen.« Und ehe Laura noch an Widerstand denken konnte, hatte er sie auf den Mund geküßt.

»Aber, mein Herr,« rief sie, »Sie gehen sehr schnell vor.«

»Nur, um desto eher am Ziel zu sein«, antwortete er. »In der Liebe muß man die ersten Wegstrecken im Galopp zurücklegen.« »Ein merkwürdiger Kauz«, dachte die Putzmacherin, als sie in ihrer Wohnung war.

»Eine hübsche Person«, sagte sich Rudolf, als er weiterging.

Rudolf schlief in dieser Nacht nicht besonders, er träumte von Fräulein Laura, und als er am nächsten Morgen seiner Gewohnheit gemäß um elf Uhr aufstand, beschloß er, sofort auf der Redaktion des ›Regenbogens‹ sein Geld abzuheben, um seine neue Bekannte in ein vornehmes Restaurant führen zu können.

Auf der Straße begegnete ihm ein Omnibus, an dessen Scheiben ein auffälliges Plakat klebte mit den Riesenbuchstaben:

Heute Sonntag
Wasserkünste in Versailles.

Ein Blitzstrahl, der zu seinen Füßen eingeschlagen wäre, hätte keinen tieferen Eindruck auf ihn machen können als der Anblick dieses Plakats.

»Heute ist ja Sonntag!« schrie er. »Das hatte ich ganz vergessen. Wie soll ich denn da Geld auftreiben? Und alles, was Geld hat in Paris, ist heute unterwegs nach Versailles.«

Trotzdem lief Rudolf, von einer irrsinnigen Hoffnung getrieben, wie sie bei Menschen gerade in der größten Verzweiflung auftritt, zur Zeitung hin. Irgendein glücklicher Zufall konnte ja doch den Kassierer hingeführt haben. Herr Boniface war tatsächlich da gewesen, aber nur einen Augenblick, und sofort wieder gegangen. »Er fährt nach Versailles!« sagte der Junge zu Rudolf.

»Alles ist verloren«, sagte Rudolf. »Aber«, fügte er nach einer Weile hinzu, »mein Rendezvous findet doch erst abends statt, ich habe also noch fünf Stunden Zeit. In jeder Stunde kann ich doch zwanzig Sous auftreiben! Auf, ans Werk!«

Da in dem Viertel, wo er sich befand, ein Literat wohnte, den er den einflußreichen Kritiker nannte, beschloß er, bei ihm einen Versuch zu machen.

»Sicher ist er zu Hause«, dachte er. »Er schreibt Sonntags sein Feuilleton. Er muß mir fünf Franken leihen.«

»Ach, das sind Sie«, sagte der Schriftsteller, als er Rudolf sah. »Sie kommen mir sehr gelegen, Sie können mir einen Gefallen tun.«

»Das trifft sich ja wunderbar«, dachte der Redakteur des ›Regenbogens‹.

»Waren Sie gestern im Odeon?«

»Ich bin jeden Abend im Odeon.«

»Dann haben Sie doch das neue Stück gesehen, ich brauche eine Inhaltsangabe.«

»Die ist leicht geschrieben«, sagte Rudolf und setzte sich an den Schreibtisch.

Als er seine Analyse dem Literaten reichte, nickte dieser befriedigt. »Sehr gut«, sagte er. »Sie ist nur etwas kurz.«

»Wenn Sie Gedankenstriche hineinsetzen«, meinte Rudolf, »und Ihre kritischen Ansichten hinzufügen, so können Sie sie sehr in die Länge ziehen.«

»Leider habe ich wenig Zeit«, sagte der Kritiker. »Aber wie wär's, wenn Sie Ihrer Inhaltsangabe eine kurze oder vielmehr eine lange Würdigung hinzufügten.«

»Schade!« sagte Rudolf. »Ich habe natürlich Ansichten über das Stück, aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß ich sie schon ausgiebig für den ›Castor‹ und den ›Regenbogen‹ geäußert habe.«

»Das macht nichts, schreiben Sie alles noch einmal!«

»Gut«, dachte Rudolf. »Ich schreibe ihm für zwanzig Franken Feuilleton, dafür kann er mir die fünf Franken nicht abschlagen.«

»Himmel und Hölle!« fluchte der Kritiker, als Rudolf fertig war. »Es fehlen immer noch zwei Spalten, womit soll ich diesen Abgrund ausfüllen? Übrigens, da Sie hier sind, schreiben Sie doch noch ein paar paradoxe Bemerkungen hinzu!«

»Hm«, dachte Rudolf, als er sich von neuem an den Schreibtisch setzte. »Ich werde ihn doch nur um zehn Franken anpumpen. Ich darf meine Paradoxe nicht so billig verkaufen.« Und er schrieb noch dreißig Zeilen mit witzigen Bemerkungen über die Klavierpest, die Mode der Goldfische, die Schule des gesunden Menschenverstandes und den Rheinwein.

»Das ist sehr nett«, sagte der Kritiker. »Fügen Sie noch hinzu, daß das Bagno ein vornehmer Aufenthalt ist, weil man dort immer noch die verhältnismäßig anständigsten Leute findet.«

»Warum das denn?«

»Weil noch zwei Zeilen fehlen. Gut, jetzt ist es genug«, sagte der einflußreiche Kritiker und rief seinen Diener, damit er sein Feuilleton in die Druckerei bringe.

»Und nun an's Geschäft!« dachte Rudolf und trug seine Bitte vor.

»Das tut mir aber leid,« sagte der Kritiker; »ich besitze keinen Sou. Lolotte ruiniert mich mit ihren Pomadeschachteln, und vorhin hat sie mich bis aufs Hemd ausgeraubt, weil sie sich in Versailles die Wasserkünste ansehen will.«

»Sie geht auch nach Versailles!« rief Rudolf. »Das ist ja eine Epidemie.«

»Doch wozu brauchen Sie das Geld?«

»Ich will es Ihnen sagen«, antwortete Rudolf. »Ich treffe mich heute abend um fünf Uhr mit einer vornehmen und geistvollen Dame, die sogar Omnibus fährt. Ich wollte mein Schicksal auf einige Tage mit dem ihrigen vereinen und halte es für angemessen sie mit den höheren Genüssen des Lebens, Diner, Tanz, Spazierfahrt und dergleichen, bekanntzumachen. Dafür brauche ich unbedingt fünf Franken, und wenn ich sie nicht finde, wird die ganze französische Literatur in meiner Person blamiert sein.«

»Aber warum leihen Sie sich denn dieses Geld nicht von dieser Dame selbst?« rief der Kritiker.

»Beim erstenmal? Das geht nicht! Nur Sie können mich aus meiner Verlegenheit ziehen.«

»Bei allen Mumien Ägyptens schwöre ich Ihnen auf mein großes Ehrenwort, daß ich nicht so viel besitze, um eine Einsoupfeife oder eine Jungfernschaft zu kaufen. Doch habe ich hier einige alte Schmöker, die Sie versetzen können.«

»Heute, am Sonntag? Ausgeschlossen! Alle Pfandleihen sind zu. Übrigens, was sind das für Schmöker? Poesiebände? Kein Mensch kauft so was!«

»Höchstens, wenn er vom Gericht dazu verurteilt würde«, sagte der Kritiker. »Warten Sie, hier sind noch einige Romane und Konzertbillette. Wenn Sie es geschickt anfangen, können Sie daraus Geld lösen.«

»Lieber wäre mir etwas anderes, zum Beispiel eine Hose.«

»Hier«, sagte der Kritiker. »Nehmen Sie diesen Band Bossuet und die Gipsbüste Odilon Barrets. Auf Ehrenwort, es ist das Scherflein der Witwe.«

»Ich sehe, daß Sie den besten Willen haben«, sagte Rudolf. »Ich werde also diese Schätze mitnehmen. Aber daraus dreißig Sous zu lösen, das ist wirklich die dreizehnte Arbeit des Herkules.«

Nach langem mühevollen Umherlaufen und mit Hilfe einer Beredsamkeit, deren selbst er nur in wenigen wichtigen Augenblicken fähig war, gelang es ihm, zwei Franken auf die Poesiebände, die Romane und die Gipsbüste zu entleihen.

»Die Sauce ist da,« murmelte er, »nun noch der Braten! Jetzt gehe ich zu meinem Onkel.«

Als er eine halbe Stunde später zu seinem Onkel kam, las dieser auf dem Gesicht seines Neffen den Grund seines Kommens. Sofort sammelte er sich zur Abwehr und begann zu klagen.

»Es sind schwere Zeiten, das Leben ist teuer, die Schuldner bezahlen nicht, die Gläubiger wollen ihr Geld, das Geschäft ist elend. Du kannst mir glauben, ich habe mir von meinem Ladengehilfen Geld leihen müssen, um eine Rechnung zu bezahlen.«

»Warum hast du denn nicht zu mir geschickt?« sagte Rudolf. »Ich hätte dir gern das Geld geliehen. Ich habe vor drei Tagen zweihundert Franken eingenommen.«

»Danke, mein Junge«, sagte der Onkel. »Aber du brauchst es wohl selbst. Übrigens, da du gerade hier bist, du könntest mit deiner guten Handschrift mir einige Rechnungen ausschreiben, die ich absenden muß.«

»Die fünf Franken kommen mir teuer zu stehen«, meinte Rudolf, indem er sich an die Arbeit machte.

»Lieber Onkel«, sagte er, als er fertig war, zu Monetti. »Ich weiß, du liebst ja so sehr die Musik, ich habe dir Konzertbillette mitgebracht.«

»Das ist sehr nett von dir, mein Junge. Du ißt doch bei mir?«

»Danke, Onkel, ich werde auf dem Faubourg Saint-Germain zum Diner erwartet. Ich bin sogar in einiger Verlegenheit, weil ich nicht die Zeit hatte, mir zu Hause Geld zum Ankauf von einem Paar Handschuhe zu holen.«

»Du hast keine Handschuhe? Soll ich dir die meinen leihen?«

»Danke, wir haben nicht die gleiche Größe. Aber wenn du mir gerade das Geld leihen könntest ...«

»Gewiß, mein Junge, wenn man in Gesellschaft geht, muß man gut gekleidet sein. Besser Neid erwecken als Mitleid, wie meine Tante zu sagen pflegte. Hier sind neunundzwanzig Sous, ich leihe sie dir. Ich hätte dir auch mehr gegeben, aber ich habe sonst nichts hier unten. Und das Geschäft im Stich lassen, indem ich hinaufgehe, darf ich nicht. Jeden Augenblick kann ein Käufer kommen.«

»Du sagtest mir doch eben, das Geschäft ginge gar nicht.«

Der Onkel Monetti schien nicht zu hören, er sagte zu seinem Neffen, der das Geld einsteckte: »Mit der Rückgabe hat es keine Eile!«

»So ein Geizkragen!« dachte Rudolf, indem er sich davonmachte. »Jetzt fehlen mir noch einunddreißig Sous! Wo soll ich die auftreiben? Das beste ist, ich stelle mich auf den Kreuzweg der Vorsehung.«

Rudolf nannte so den Zentralpunkt von Paris, nämlich das Palais Royal, wo man tatsächlich keine zehn Minuten verweilen kann, ohne ein Dutzend Bekannte, vor allem Gläubiger zu finden. Rudolf stellte sich also vor dem Palais Royal auf Posten, aber es dauerte lange, bis die Vorsehung in Tätigkeit trat. Endlich glaubte Rudolf sie zu bemerken. Sie trug einen weißen Hut, einen grünen Überzieher und einen Spazierstock mit einem goldenen Knopf ... es war also eine sehr gut gekleidete Vorsehung.

»Ich bin entzückt, Sie zu treffen«, sagte der elegante junge Mann, als er Rudolf sah. »Begleiten Sie mich doch etwas, wir wollen plaudern.«

»Um Gottes willen«, dachte Rudolf, denn er kannte den unerträglichen Redestrom des andern.

Am Pont des Arts benutzte endlich Rudolf die Gelegenheit und sagte zu seinem Begleiter: »Ich muß Sie jetzt leider verlassen, ich habe kein Geld für den Brückenzoll.«

»Aber was macht das?« meinte der andere und hielt Rudolf fest, indem er dem alten Wächter zwei Sous hinwarf.

»Jetzt oder nie!« dachte der Redakteur des ›Regenbogens‹, während sie über die Brücke schritten. Als sie das Ende erreicht hatten, blieb er plötzlich vor der Uhr des Instituts stehen und starrte mit verzweifelter Geste hinauf.

»Himmel! Ein Viertel vor fünf!« schrie er. »Ich bin verloren!« »Was gibt's?« fragte der andere erstaunt.

»Leider«, sagte Rudolf, »habe ich dank Ihrer interessanten Unterhaltung eine wichtige Zusammenkunft versäumt.«

»Ist sie wichtig?«

»Sehr, ich sollte um fünf Uhr Geld abholen ... in Batignolles ... Nie werde ich dorthin kommen ... Zum Teufel, was fange ich nur an?«

»Du lieber Himmel,« sagte der Geschwätzige, »das ist doch einfach. Kommen Sie mit mir, ich leihe Ihnen Geld.«

»Unmöglich! Sie wohnen in Montrouge, und ich habe um sechs Uhr eine Geschäftsangelegenheit an der Chaussee d'Antin ... Verfluchtes Pech!«

»Ich habe einiges Geld bei mir«, sagte die Vorsehung ängstlich. »Aber es ist nur wenig.«

»Wenn ich nur soviel hätte, um eine Droschke zu nehmen, vielleicht käme ich dann zur Zeit nach Batignolles.«

»Hier, mein Lieber, alles, was ich hier habe: einunddreißig Sous.«

»Geben Sie es schnell, vielleicht geht es noch«, sagte Rudolf, und dann eilte er davon, um nach dem Ort seines Rendezvous zu gehen.

»Das war eine schwere Geschichte«, sagte er, indem er sein Geld zählte. »Genau hundert Sous! Jetzt werde ich Laura zeigen, was die Literaten für seine Lebensart haben, und daß ihnen nur das nötige Geld fehlt, um zu den reichsten Leuten zu gehören.«

Er traf seine Angebetete schon an der verabredeten Stelle. Er blieb mit ihr den ganzen Abend zusammen und verschwendete seine fünf Franken in freigebigster Weise. Fräulein Laura war entzückt von seiner feinen Lebensart und schien erst zu bemerken, daß Rudolf sie nicht zu ihrer eigenen Wohnung führte, als sie in sein Zimmer trat.

»Es ist unrecht, daß ich das tue«, sagte sie. »Lassen Sie es mich nie bereuen durch eine Undankbarkeit, die Ihrem Geschlecht nun einmal eigen ist.«

»Gnädiges Fräulein,« sagte Rudolf, »ich bin bekannt wegen meiner Anhänglichkeit. Alle meine Freunde staunen über meine Treue und nennen mich deshalb den General Bertrand der Liebe.«


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