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XI. Die Enttäuschung

Seit dem Tage, an welchem Joseph Fredersdorf den jungen Lupinus zu Eckhof geführt, hatte ein immer innigeres Verhältnis sich zwischen diesen beiden gebildet, ein Verhältnis, das beide aufs höchste zu beglücken schien, und von dem der immer fröhliche und neckische Fredersdorf immer behauptete, daß es mehr von der Liebe als von der Freundschaft an sich trage, und daß Lupinus eigentlich nicht der Freund, sondern die Braut seines Freundes Eckhof sei. In der Tat, Lupinus hatte wenig von dieser ungezwungenen, offenen und rückhaltlosen Art eines jungen Mannes, er war immer schüchtern, immer zurückhaltend, er suchte Eckhof niemals auf, aber wenn Eckhof zu ihm kam, färbten sich seine bleichen Wangen mit einem sanften Rot, und seine großen Augen strahlten in einem so wundervollen Glanze, daß Eckhof wohl erkennen konnte, wie sehr sein verschwiegener junger Freund sich seiner Gegenwart freue. Auch kam Eckhof täglich zu Lupinus; das stille, sanfte und zarte Antlitz seines Freundes anzuschauen, war ihm inmitten seines bewegten, unruhigen und geplagten Künstlerlebens ein Trost und eine Erquickung, es beruhigte sein von Stürmen und Leidenschaften bewegtes Herz und machte ihn selber milde und sanft und friedlich. Es bedurfte nicht einmal der Worte, des Gesprächs dazu, schon dieses stille Zimmer, diese fremdartige Umgebung der Bücher und Papiere, der gewichtigen Folianten und glänzenden medizinischen Instrumente, diese ernste strenge Wirklichkeit, welche so sehr kontrastierte gegen das glänzende, flimmernde und leichtsinnige Scheinleben der Bühne, dieses alles übte einen beruhigenden und besänftigenden Einfluß auf den Künstler aus. Oft kam er, belastet von Sorgen, niedergedrückt von Anstrengungen, oder in fieberischer Spannung über irgendeine neue Rolle, welche er eben studierte, zu Lupinus, nicht um ihm von seinem Leben und Streben zu erzählen, sondern um ganz schweigend neben ihm zu sitzen und ihn nur anzuschauen.

Sprich gar nicht zu mir, mein Lupinus, sagte Eckhof zu ihm. Laß mich mein stürmisches, wildes Herz unter den Mondschein deiner Blicke legen, wärme es und kühle es zu gleicher Zeit, laß dein mildes Angesicht über mir leuchten und mein Herz besänftigen und heilen. Siehst du, wenn ich mein Haupt so an deine Schulter lehne, so meine ich, daß ich nun aller Trübsal entronnen sei, daß weitab in der Ferne all das Geräusch der unruhigen Welt verklinge, und ich die Stimme meiner Mutter vernehme, wie sie in meiner Kinderzeit vor meinem Bettchen erklang, in dem ich halb entschlummernd lag und mir von Gott und dem Paradiese und den Engeln erzählen ließ. Saß mich so an deiner Schulter träumen, mein Lupinus!

Und er schloß die Augen und schwieg, und sah nicht diesen wunderbaren, zärtlichen, sehnsuchtsvollen Ausdruck, mit dem Lupinus zu ihm herniederschaute, er fühlte nicht, daß des Jünglings Herz heftiger und wilder hämmerte und pochte, wenn Eckhofs Haupt auf seiner Schulter ruhte.

Zu andern Zeiten wieder war es für Eckhof eine Erleichterung, alle seine Kümmernisse und Sorgen, sein Kämpfen und Ringen, seinen Zorn über die Intrigen und Kabalen, welche schon damals, wie noch jetzt, der notwendige und unabwendbare Stickstoff und Sauerstoff der Bühnenwelt waren, seinem Freunde in leidenschaftlichen Worten zu klagen. Dann hörte Lupinus ihm mit einem milden Lächeln zu, bis der wilde Katarakt seines Zornes aufhörte zu brausen und zu schäumen, und er hoffen konnte, daß seine sanften und liebevollen Trostesworte wieder beruhigend an Eckhofs Herz klopfen konnten.

So vergingen Monate, und Lupinus, treu seinem Eckhof gegebenen Wort, war noch immer der fleißige, gelehrte Student, saß noch immer in stiller Andacht auf den Bänken der Auditorien und hörte den gelehrten Vorträgen der Professoren zu, oder studierte daheim vor seinen Büchern.

Aber diese Prüfungszeit war nun bald vorüber, wenn Lupinus sein Doktorexamen überstanden, hatte Eckhof gesagt, dann solle er sich entscheiden, ob er wirklich noch die glänzende Laufbahn der Wissenschaft verlassen wolle, um die rauhen und dornigen Pfade des Künstlertums zu wandeln.

In den nächsten Tagen schon sollte dieses wichtige Ereignis stattfinden, an dem Lupinus in öffentlicher, feierlicher Promotion sich die Doktorwürde erkämpfen und damit die Berechtigung sich verdienen sollte, als Arzt der leidenden Menschheit zu nützen.

Aber nicht daran dachte Lupinus, er sagte sich nur, daß jener Tag die wichtige Entscheidung über seine ganze Zukunft bringen sollte, daß er an jenem Tage mit seinem Schicksal um das Glück oder Unglück seines ganzen Lebens zu kämpfen habe, und daß dabei sein Herz aufjauchzen werde vor Glück oder brechen vor Kummer und Qual.

Wenn ich ihm seinen Willen getan habe, sagte Lupinus zu sich selber, als er jetzt, am Tage vor dem feierlichen Akte, allein auf seinem Zimmer war, wenn ich von der Fakultät als Doktor anerkannt bin, dann will ich mich Eckhof zeigen in meiner wahren Gestalt, dann will ich vor ihn hintreten, und an seiner Überraschung und seinem Erschrecken werde ich dann sehen, ob der Freund Lupinus ihm willkommener war als –

Er vollendete nicht, sondern vor seinen eigenen Gedanken errötend, wandte er sich ab und flüchtete sich zu seinen Büchern. Aber die Aufregung und Unruhe seiner Seele war heute mächtiger als sein Wille. Die Buchstaben flirrten und tanzten vor seinen Augen, sein Herz klopfte so freudevoll stürmisch und laut, seine Seele flatterte mit so lebensvollen kühnen Schwingen, es hielt ihn nicht länger an diesem ernsten, bestäubten, düstern Schreibtisch. Er sprang auf, und das Buch zuschlagend und die Feder beiseite werfend, eilte er in das anstoßende Gemach, in dieses kleine, stille Schlafgemach, das niemals von einem andern Fuß als dem seinen war betreten worden, das er stets sogar vor seinen vertrautesten Freunden verschlossen gehalten. Und allerdings, dieses kleine Schlafgemach barg ein Geheimnis! Ein Geheimnis, welches die Lachlust Joseph Fredersdorfs und das erschrockene Staunen Eckhofs erregt haben würde! Auf dem Bett lag ein Gewand, aber nicht das Kleid eines jungen Mannes, sondern ein Frauenkleid, ein glänzendes, weißes Atlasgewand, wie es die Bräute an ihrem Hochzeitstage zu tragen pflegen. Dort auf jenem Tisch standen weiße Atlasschuhe, lagen duftende gestickte Frauenhandschuhe, Bänder und Blumen zum Schmuck der Haare, Was bedeutete das alles? Was bedeutete dieses Toilettenzimmer einer Frau neben der Studierstube des jungen Studenten? Hatte er da eine Geliebte verborgen, die er schmücken wollte mit diesem Brautanzug, oder war das nur ein Kostüm, in dem er seine erste Rolle als Schauspieler spielen wollte?

Er betrachtete alle diese zierlichen Sachen mit freudigen, lächelnden Blicken, und nichts von der ernsten, feierlichen Gelehrtenmiene war in seinem schönen, zarten Angesicht, als er das weiße Atlasgewand prüfend in die Höhe hob und mit ihm lächelnd durch die Stube tänzelte zu jenem großen Spiegel dort. Aber plötzlich zuckte er zusammen und stand horchend still. Es war ihm gewesen, als habe da jemand an seine Tür geklopft! Jetzt wieder und lauter!

Das ist Eckhof! flüsterte Lupinus mit einem stillen Lächeln, indem er eiligst wieder das kleine geheimnisvolle Gemach verließ und, es sorgfältig verschließend, den Schlüssel wieder in seinem Busen verbarg.

Dann erst ging er hin, die andere Tür zu öffnen. Ja, es war Eckhof, und er kam heute mit einem strahlenden Antlitz, mit einer so heitern, glücklichen Miene, wie Lupinus ihn lange nicht gesehen; er schloß seinen jungen Freund so stürmisch in seine Arme, daß dieser kaum noch zu atmen vermochte, er drückte einen so glühenden Kuß auf seine Lippen, daß Lupinus schaudernd seine Augen schloß, ganz überwältigt von seiner eigenen inneren Erregung.

Sieh, mein Lupinus, wie ich dich liebe, sagte Eckhof, den jungen Freund noch immer in seinen Armen haltend. Zu dir komme ich zuerst, um dich teilnehmen zu lassen an meinem Glück. An dich dachte ich zuerst, als es wie ein funkelnder Sternenschleier über mich herabsank und mich ganz niederdrückte mit seiner heiligen Fülle und Gewalt. Ich muß zu Lupinus hin, er allein wird mich verstehen, er allein wird sich mit mir freuen, sagte ich zu mir selber, und so bin ich wie ein Wahnsinniger durch die Straßen gerannt, und so bin ich hier, um zu dir zu sagen: Freue dich mit mir, denn ich bin glücklich! Oh, ich habe dich meine Leiden nicht sehen lassen, ich habe meinen Kummer vor dir verborgen gehalten, weil ich dich grenzenlos liebe, und weil ich deine junge keusche Seele nicht mit Trauer erfüllen wollte, aber mein Entzücken darfst du sehen, mein Glück sollst du mit mir teilen, mein trauter, geliebter Freund!

So laß es mich teilen, so sage mir, was dich glücklich gemacht hat, sagte Lupinus mit zitternden Lippen und ganz bleich vor innerer Aufregung und Angst.

Du fragst noch, mein unschuldiges, keusches Kinderherz? lachte Eckhof. Du weißt noch nicht, daß, was des Mannes eigentliches Glück oder Unglück macht, doch immer nur die Liebe ist! Ich war unglücklich und elend, weil ich nicht wußte, ob ich geliebt werde, weil diese Ungewißheit, dieses Hangen und Bangen mich rasend machte.

Und jetzt? fragte Lupinus tonlos.

Und jetzt bin ich glückselig, weil sie mich liebt, weil sie es mir heute endlich gestanden hat. O Freund, ich habe ihr dieses süße, dieses göttliche Geheimnis fast mit Gewalt entreißen müssen, ich habe ihr gedroht, ich habe sie verwünscht, ich habe weinend zu ihren Füßen gelegen und mit wilden Scheltworten sie verflucht, ich war ein Rasender, ein Wahnsinniger, ich war entschlossen mich zu töten, wenn ich nicht endlich Gewißheit erhielte, endlich erführe, ob sie mich verachtete oder mich liebte, und so wagte ich alles, um mir alles zu gewinnen! Sie stand bleich und zitternd vor mir, sie hob mit demütigem Flehen ihre Hände zu mir empor, als ich ihr zürnte, oh, sie war schön wie ein verzeihender Engel mit diesen leuchtenden Tränen in ihren wundervollen Augen, schön wie eine Houri des Paradieses, als sie sich endlich, hingerissen von ihrem eigenen Herzen, zu mir neigte und mir gestand, daß sie mich liebte, daß sie mein sein wolle, mein, trotz ihrer vornehmen Geburt, trotz ihres Gemahls, trotz all dieser tausend Hindernisse, die sich unserer Liebe und unserem Glück entgegensetzten. Oh, meint Gott, mein Gott, eines Tages sagte ich: Ich bin berufen ein Künstler zu sein, denn du hast mir die Weihe des Unglücks gegeben; heute fühle ich, daß man nur wahrhaft schaffen kann, wenn man glücklich ist. Von heute an werde ich in Wahrheit ein Künstler sein, denn ich habe die himmlische Weihe des Glücks empfangen!

Eckhof wandte seine leuchtenden Blicke auf den Freund hin, aber er verstummte, als er in dieses bleiche, aschfarbene Antlitz sah, in diese gläsernen, toten Augen, welche in das Leere starrten, auf diese bläulichen Lippen, welche heftig zusammengepreßt waren.

Lupinus, du bist krank, du leidest! rief Eckhof entsetzt, indem er die Arme ausbreitete, um den Freund an seine Brust zu ziehen.

Aber die Berührung seiner Hand machte ihn erbeben, weckte ihn aus seiner todesähnlichen Erstarrung. Ein einziger, gellender Schrei rang sich aus seiner Brust hervor, ein Strom von Tränen entstürzte seinen Augen, und wie zerschmettert sank er in sich zusammen.

Mein Freund, mein Geliebter, rief Eckhof, du leidest, und du sagst es mir nicht! Was ist es, was dich betrübt, warum leidest du, warum weinst du? Laß mich teilnehmen an deinem Kummer, sage mir deinen Schmerz!

Nein, nein! rief Lupinus, ich leide nicht, ich habe keinen Kummer und keine Schmerzen. Rühre mich nicht an, deine Berührung tut mir weh! Geh fort von hier, geh und laß mich allein!

Ah, du liebst mich also nicht, rief Eckhof traurig. Du leidest und du willst mir deine Schmerzen nicht sagen, du weinst und verlangst, daß ich dich verlasse?

Er meint, daß ich ihn nicht liebe, murmelte Lupinus mit einem traurigen Lächeln. Mein Gott, mein Gott, wen liebe ich denn, wenn ich ihn nicht liebe!

Wenn deine Freundschaft zu mir wirklich echt und wahr ist, so wirst du mir deinen Kummer sagen, bat Eckhof. Ich habe dich teilnehmen lassen an meinem Glück, dafür fordere ich aber jetzt mein heiliges Recht, dafür fordere ich, daß du mich teilnehmen läßt an deinen Schmerzen!

Lupinus antwortete nicht. Er duldete es, daß Eckhof ihn vom Boden emporzog und, ihn sanft und leise in seine Arme hebend, nach dem Diwan trug, auf den er ihn sanft niedergleiten ließ und sich neben ihn setzte.

Lupinus lehnte sein Haupt an Eckhofs Brust und wie Eckhof seine Arme um ihn legte und mit seiner schönen sanften Stimme ihm Worte des Trostes und der Liebe ins Ohr flüsterte, flog ein konvulsivisches Zittern durch des Jünglings Gestalt, und er weinte bitterlich.

Aber plötzlich trocknete er seine Tränen und richtete sich auf. Der Krampf des Schmerzes war vorüber, seine Lippen zitterten noch, aber er preßte sie fest aufeinander, seine Augen standen noch voll Tränen, aber er schüttelte heftig sein Haupt und schleuderte sie von sich.

Es ist vorüber, alles vorüber, sagte er, meine Träume sind zu Ende, ich wache wieder!

Und jetzt, nicht wahr, mein Lupinus, jetzt wirst du zu mir reden?

Nein, nicht heute, morgen! Morgen sollst du alles erfahren. Und darum geh, mein Freund, und laß mich jetzt allein. Geh hin zu deiner Geliebten, schau in ihre Augen und träume dir darin einen Sternenhimmel, und wenn du's tust, so denke an mich, dessen Sterne erblichen sind, und der einhergeht unter dem schweren Gewölke des Grams. Geh, geh, wenn du mich liebst, so geh!

Du willst es, und da ich dich liebe, so tue ich deinen Willen, Lupinus. Aber mein Herz trauert um dich, und mein eigenes Glück ist wie umschleiert. Doch ich gehe! Und morgen, sagst du, willst du mir alles sagen?

Morgen!

Wann soll das sein? Wann sehe ich dich wieder?

Morgen um zehn Uhr ist meine Doktorpromotion. In der Aula will ich dich zuerst wiedersehen, und ich bitte dich, daß du Joseph Fredersdorf dich begleiten läßt.

So sei es, mein Freund. Also morgen um zehn Uhr in der Aula sehen wir uns wieder. Bis dahin, lebe wohl!

Lebe wohl, Eckhof!

Sie reichten sich die Hände und sahen sich tief in die Augen und winkten sich stumm den letzten Abschiedsgruß. Dann wandte sich Eckhof der Türe zu, Lupinus stand in der Mitte des Zimmers und schaute ihm nach, als aber Eckhof die Tür schon geöffnet hatte, als seine hohe, stolze Gestalt die Schwelle überschritt, da flog Lupinus ihm nach, da hing er sich an seinen Hals und schloß ihn fest in seine Arme, und drückte ihn an sich mit überwältigender Kraft und murmelte unter Tränen: Lebe wohl, lebe wohl! Denke an mich, Eckhof, denke, daß kein Weib dich je so lieben wird, wie ich dich geliebt habe! Gott segne dich, Gott segne deine Geliebte!

Nun noch einen letzten, glühenden Kuß, ein letztes, stummes Anschauen, dann drängt er ihn hinaus, dann schließt sich hinter Eckhof die Tür, und mit einem lauten Jammerschrei sinkt Lupinus zusammen.

Wie lange er so gelegen, wie lange er geweint und gebetet, verzweifelt und gejammert hatte, das wußte er selber nicht, denn die Stunden der Schmerzen sind lang und öde, und die Minuten, welche man durchweint, dehnen sich zu einer Ewigkeit. Nach langer Zeit richtete er sich auf, nicht, weil er getröstet war, sondern weil er auf der Treppe schwere Männerschritte vernahm, und weil er sie erkannte und wußte, was sie zu bedeuten hatten.

Jetzt öffnete sich die Tür und zwei Männer traten herein. Der erste ein Mann mit ergrauendem Haar, mit ernsten, strengen Zügen, mit einer stolzen, imponierenden Gestalt, der andere ein jüngerer Mann von bleichem, kränklichem, aber zugleich mildem und sanftem Aussehen. Während der ältere Herr mit gerunzelter Stirn und zürnenden Blicken auf Lupinus hinschaute, begrüßte der andere ihn mit einem sanften Lächeln, und ließ seine blauen Augen mit einem Ausdruck unendlicher Liebe auf ihm ruhen.

Mein Vater! rief Lupinus, vorwärtseilend, um sich dem ältern Manne in die Arme zu werfen. Aber er wehrte sie zurück, und seine Stirn ward noch finsterer.

Wir haben deine Briefe erhalten, sagte er, und deshalb sind wir schon heute gekommen. Wir wollten sehen, ob du im Fieber oder im Wahnsinn geschrieben, oder wenn das nicht, so sollst du uns wiederholen, was in jenen Briefen stand, die ich zerknittert und unter meine Füße getreten habe! Rede also, wir sind da, dich zu hören!

Nein, noch nicht, sagte der jüngere Mann. Erholen Sie sich erst, überlegen Sie Ihre Worte, bedenken Sie wohl, daß dieselben entscheiden über Ihr Glück, über das Ihres Vaters und endlich auch – über mein Glück. Aber seien Sie fest in dem, was Sie wollen, und keine Rücksicht und kein Nebengedanke möge Sie verwirren. Denken Sie nur an Ihr eigenes Glück, und daß Sie dieses auf festen Stützen erbauen sollen.

Lupinus schüttelte traurig das Haupt. Ich habe kein Glück und rechne auf keins!

Was stand in jenem Briefe? fragte der alte Lupinus strenge.

Es stand darin, mein Vater, daß ich meinen Schwur getreulich erfüllt, und niemandem das Geheimnis, welches ich Ihnen zu bewahren gelobt, verraten hätte, es stand darin, daß morgen meine Doktorpromotion sein werde, und daß, wie Sie es mir gelobt, ich von jenem Tage frei sei, frei in der Wahl meiner Zukunft, frei, mein Geheimnis zu bekennen.

Und war das alles?

Nein! Es stand ferner darin, daß ich entschlossen sei, eine neue Bahn einzuschlagen und die alten Wege zu verlassen, entschlossen, mit meiner Vergangenheit zu brechen, und an Eckhofs Seite ein neues Leben zu beginnen!

Mein Kind an der Seite eines Komödianten! rief der alte Doktor Lupinus verachtungsvoll. Ja, ich entsinne mich, das stand in dem Briefe, aber ich glaubte es nicht, und deshalb bin ich gekommen, dich zu fragen: Ist das wahr, was in jenem Briefe an mich stand? Ist das wahr, was du an Erxleben dort geschrieben?

Lupinus hatte die Augen zum Himmel erhoben, und seine Lippen bewegten sich leise, vielleicht betete er.

Ist das wahr, was in jenen Briefen stand? wiederholte sein Vater.

Lupinus senkte das Auge zu seinem Vater nieder und reichte ihm die beiden Hände dar. Nein, sagte er, es ist nicht wahr. Es war nur eine Phantasie des Fiebers. Jetzt ist es vorübergegangen, und ich bin von meinem Wahnsinn genesen. Morgen werde ich als Doktor promovieren, und dann, mein Vater, begleite ich dich in die Heimat, und Sie, mein Freund Erxleben, gehen mit uns. –

Am andern Tage strömten die Studenten der Medizin in die Aula der Universität, um dem Disputatorium ihres Kommilitonen, des gelehrten und ehrbaren Herrn Lupinus, beizuwohnen, und nicht bloß die Studenten und Professoren, sondern auch viele andere Bewohner von Halle waren gekommen, dieser feierlichen Handlung beizuwohnen und den jungen Mann zu sehen, von dem die Professoren sagten, daß er nicht bloß ein Wunder von Gelehrsamkeit, sondern auch ein Wunder an Tugend, Sittsamkeit und Bescheidenheit sei. Sogar Künstler bemerkte man heute in den heiligen Hallen der Wissenschaft, und die Studenten lächelten vor Vergnügen und schrien Bravo, als sie da drüben neben Fredersdorf das edle, scharf markierte, prächtige Angesicht Eckhofs erkannten. Sie waren so oft zu ihm in die Hallen der Kunst geeilt, warum sollte er nicht auch einmal zu ihnen in die Hallen der Gelehrsamkeit kommen?

Aber Eckhof achtete nicht auf die freudige Begrüßung der Studenten, er blickte nur mit gespannten Mienen nach jener Tür hin, durch welche sein junger Freund Lupinus in den Saal treten mußte, und als jetzt die festgesetzte Stunde schlug, neigte er sich zu Fredersdorf hin und faßte lebhaft seine Hand.

Freund, sagte er, mich überfällt ein wunderbares Bangen, und mir ist, als stände ich eben einer Sphynx gegenüber, welche im Begriff sei, mir ein seltsames Rätsel zu lösen. So feig bin ich, daß ich aus dem Saal entfliehen möchte, um es nicht zu hören, und doch bannt mich die Neugierde an meinen Platz und läßt mich nicht weichen.

Du hast es dem armen Lupinus versprochen, hier zu sein, sagte Joseph ernst. Es ist vielleicht der letzte Liebesdienst, den du ihm erzeigen kannst, also – Ah, da ist er!

Ein Schrei der Überraschung tönte von aller Lippen, denn da drüben in der geöffneten Tür stand nicht der Student Lupinus, sondern ein junges Mädchen im weißen Atlasgewande, ein junges Mädchen mit dem bleichen und durchsichtig zarten Antlitz des jungen Lupinus. Ihr zur Seite gingen zwei Männer, und als sie jetzt langsam durch den Saal schritt nach dem Katheder hin, mußte sie sich auf den Arm des einen derselben, auf den Arm ihres Vaters lehnen, um nicht umzusinken. Ihre großen Augen überflogen mit einem fragenden, angstvollen Ausdruck die Zuhörer, – jetzt begegneten ihre Blicke denen Eckhofs und eine tödliche Blässe bedeckte ihre Wangen, aber sie suchte doch zu lächeln und neigte ihr Haupt, ihn zu begrüßen.

Das war das Geheimnis, welchem ich entfliehen wollte! murmelte Eckhof. Seit gestern ahnte ich es!

Und ich wußte es seit lange, sagte Joseph Fredersdorf traurig. Es war mein schönster Traum, daß euere Herzen sich zusammenfinden und ihr euch lieben würdet. Habe ich dir nicht oft gesagt, daß Lupinus nicht dein Freund, sondern deine Braut sein solle, und daß kein Weib dich jemals so lieben würde, wie Lupinus dich liebte? Aber du wolltest mich nicht verstehen! Dein Herz war wie ein tauber Fels, und sie hat ihr Glück und ihr Herz daran zerschellt!

Armes unglückliches Mädchen, seufzte Eckhof, und zwei Tränen rannen langsam über seine Wangen nieder. Ich habe an ihr gehandelt wie ein roher Barbar, ich habe ihr gestern mit lachendem Munde den Dolch ins Herz gestoßen, und sie hat mir nicht geflucht, sondern sie hat mich gesegnet. Aber horch, sie spricht! Laß uns hören!

Es war des Mädchens Vater, welcher sprach. Mit einfachen, würdigen Worten bat er die hohe Fakultät um Vergebung, daß er es gewagt, ihr statt eines Sohnes eine Tochter zu senden. Aber es sei, sagte er, sein Lieblingswunsch gewesen, der Welt zu beweisen, daß nur das Vorurteil und der Hochmut der Männer die Frauen aus den Hörsälen der Universität vertreibe, und daß nur das Herkommen den Frauen verbiete, sich eine wissenschaftliche Laufbahn zu erwählen. Da ihm der Himmel einen Sohn versagt, und er an seiner Tochter eine seltene Begabung frühe schon entdeckt habe, so hätte er sich entschlossen, dieselbe als seinen Sohn zu erziehen und zu bilden, und sich den Verlust zu ersetzen, den ihm das Schicksal bereitet habe. Seine Tochter sei bereitwillig auf seine Pläne eingegangen und habe ihm feierlich geloben müssen, bis zur Beendigung ihrer Studien das Geheimnis treulich zu bewahren, und das habe sie getan, und so stände sie jetzt hier, um die hohe Fakultät zu fragen, ob man ihr gestatten wolle, zum Doktor zu promovieren, obwohl sie nur ein Weib sei, und des hohen Vorzugs entbehre, dem Männergeschlecht anzugehören?

Die Professoren besprachen sich leise untereinander, dann erklärte ihr Vorsitzender, daß Lupinus immer der fleißigste und hoffnungsvollste Student, die Freude und der Liebling aller Professoren gewesen, und daß daher die Änderung des Geschlechts keine Änderung in ihren Ansichten über ihn bewirken könne, sondern daß die Jungfrau Lupina mit ebensolcher Freude und Genugtuung von ihnen als Doctor medicinae begrüßt werden würde, als der Jüngling Lupinus, daß somit dem Beginn des Disputatoriums gar nichts mehr im Wege stehe.

Ein Gemurmel des Beifalls ließ sich von den Bänken der Zuhörer vernehmen, aber es verstummte schnell, als man jetzt die klare, helle und doch leise erzitternde Stimme des jungen Mädchens vernahm, die ihre Dissertation zu lesen begann. Wie seltsam stimmten die schweren pomphaften lateinischen Worte zu der zarten, schlanken und feenhaften Erscheinung des jungen Mädchens! Wie eine Braut stand sie da im Schmuck ihrer seidenen Gewänder, aber nicht wie eine Braut der Erde und der Liebe, sondern wie eine Braut des Himmels, welche im Begriff ist, vor dem Altar das Gelübde abzulegen und der Freude und dem Glück auf ewig zu entsagen! Und so fühlte sie sich, und so, wie das Gelübde eines freudlosen, entsagungsvollen Daseins hielt sie ihre Rede, nur daß sie nicht vor dem Altar des Herrn, sondern vor dem Altar der Wissenschaft stand, nur daß sie sich nicht einem müßiggängerischen, nutzlosen Klosterleben angelobte, sondern daß sie die ganze Welt zu ihrem Kloster machte, und mit heiligem Schwur sich selber gelobte, der Menschheit zu dienen, denen, welche da litten, ihre Schmerzen zu lindern, an dem Krankenbette der Frauen und der Kinder die Liebe zu betätigen, welche sie so groß und stark in sich fühlte, auf die ganze leidende und weinende Menschheit diese Liebe zu übertragen, welche sie dem Einzelnen geweiht, und die zu ihr zurückgekehrt war, wie eine blutende Taube, mit gelähmten Schwingen, kraftlos und hoffnungslos!

Das Disputatorium war zu Ende. Der Dekan erhob sich und erklärte die Jungfrau Dorothea Christine Lupinus zum Doctor medicinae und wohl berechtigt und befähigt zur Ausübung und Praxis der Arzneiwissenschaft Dorothea Christine Cupmus, Tochter des Arztes Lupinus in Quedlinburg, geboren 1715, verheiratete sich, nachdem sie in Halle ihr Doktorexamen gemacht und in dem Disputatorium über die »Gründe, welche bisher das weibliche Geschlecht am Studieren verhinderten«, eine glänzende lateinische Rede gehalten, an den prediget Erxleben in Quedlinburg, woselbst sie als praktischer Arzt, welcher indeß nur dem weiblichen Geschlecht seine Kräfte widmete, eine sehr ausgedehnte und segensvolle Wirksamkeit übte. Sie starb im Jahre 1762. ( Denina: La Prusse litteraire sous Frédéric II. Berlin 1790. II, 26.); die Studenten brachen in freudige Beifallsrufe aus, und die Professoren näherten sich dem alten Lupinus, um ihn zu beglückwünschen und die Bekanntschaft früherer Tage mit ihm zu erneuern.

Die junge bleiche Braut der Wissenschaft achtete auf das alles nicht. Sie schaute nur hinüber nach Eckhof; ihre Blicke wurzelten fest ineinander, fest und tränenlos. Dann winkte sie ihm mit der Hand zu gehen, und Eckhof, ihrem Winke gehorsam, erhob sich und ging der Tür zu. Aber noch einmal wandte er sich um, noch einmal begegneten sich ihre Blicke, dann hatte sie den Mut, sich von ihm abzuwenden. Mit einem sanften Blick wandte sie sich zu ihrem Jugendfreund Erxleben hin, der mit ihrem Vater gekommen war.

Ich werde das Gelübde meines Vaters erfüllen, sagte sie, ich werde Ihnen eine treue Gattin sein. Sehen Sie, dort erlischt der Stern, welcher mein Auge blendete. Jetzt sieht es wieder hell!

Sie deutete mit zitternder Hand auf Eckhof hin, welcher eben, auf Fredersdorfs Arm gelehnt, aus der Tür schwankte.

Freund, sagte Eckhof schwermutsvoll, wenn die Götter wirklich ein großes Opfer verlangen zur Versöhnung des Glückes, so denke ich, daß ich es heute gebracht habe. Meinen Polykratesring habe ich ins Meer geschleudert, und ein Teil meines Herzblutes haftete daran. Möge das Schicksal nun versöhnt sein, und mir das Glück gönnen, welches dieses schöne bleiche Mädchen mit ihren Tränen gesegnet hat. Lebe wohl, Christine, lebe wohl! Unsere Wege gehen auf ewig auseinander, und wer weiß, ob wir einst im Himmel uns wiedersehen werden! Du gehörst zu den Heiligen, und ich bin nur ein armer Komödiant, der sich durch das ekle Leben mit einigen pomphaften Fetzen der Kirnst und Schönheit hindurchlügt, und dem vielleicht die Engel im Himmel einen Platz versagen, wie ihm die Priester auf Erden ein Grab versagen! Nachdem Eckhof lange Zeit in den größten Städten Deutschlands mit der Schönemannschen Gesellschaft gespielt und in Deutschland den Sinn und die Liebe für das deutsche Theater überall erweckt hatte, übernahm er ein eigenes Theater in Gotha, dem er bis zu seinem Tode 1778 (er war geboren 1720) als Direktor und darstellender Künstler angehörte. Eckhof hatte das doppelte Verdienst, zuerst der deutschen Schauspielkunst Bedeutung, Ansehen und Wert, und dem deutschen Schauspieler auch als Menschen Achtung und Anerkennung verschafft zu haben.


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