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Zwanzigstes Kapitel

Kutscher spann die Pferde ein! Es war noch Nacht, als sie sich auf den Weg machten. Eine ganze Kanne voll Kaffee mußte auf der Feuerstelle zurückgelassen werden, nach dem Frühstück und dem Füllen der Thermosflasche, Xaver hatte verschwenderisch aufgekocht. Sie sperrten die Hütte ab, versteckten den Schlüssel hinterm Fensterbalken und marschierten los.

Xaver trug seinen abgewetzten braunen Manchesteranzug. Die weiten langen Hosen wurden am Knöchel zugebunden, wenn die Kletterei begann, vorerst flatterten sie noch. Glenn trug eine kurze weiße Kordhose und eine verblichene blaue Leinenjacke.

Die zwei Seile hatte Xaver sich umgehängt. Die Schlingen stauten sich über seiner Brust zu einem dicken Panzer aus Manilahanf. Der Rucksack war heute Glenns Sache. Es war aber nicht viel drin. Keine photographischen Apparate wie bei der letzten Nordwandreise, kein mechanischer Ballast. Nur der Proviant und die Kletterschuhe, zwei Sweater und zwei Reservehemden fürs Biwak, die Mauerhaken und die Rebschnüre, ein bißchen Verbandzeug. Dazu noch die kleine geschnitzte Flötenpfeife aus Samarkand, welche seit schier zwanzig Jahren in diesem alten Sack herumgeschleppt wurde, obwohl sie längst keinen Ton mehr von sich gab.

Viele Gespenster waren da, bis endlich der Tag anbrach. Xaver leuchtete zuweilen mit der elektrischen Taschenlampe hinter sich, um Glenn den Weg zu zeigen. Es geschah aber weniger wegen des Wegs – bis zum Einstieg in die Felsen war's eine bequeme Promenade – als wegen der Gespenster. Da man gegen die Schwerkraft anzusteigen plante, wurden die Geister der Nacht hämisch und frech. Und auch noch, als die ersten Lichtsignale am östlichen Himmel kamen, war's zu spüren.

Sie spürten's beide. Mit verbissenem Schweigen drangen sie gegen das Massiv vor. »Warum, warum?« kicherte es von allen Seiten. »Warum denn müssen die Menschchen immer wieder gegen die Schwerkraft angehn? Ihr wißt ja, wie ungeschützt euer Körper der Schwerkraft ausgeliefert ist. Oder? Eine falsche Bewegung, und es reißt euch zurück, bis zum Mittelpunkt der Erde zurück, wo eure wahre Nacht auf euch wartet. Ein fallender Stein, und er zerschmettert euch, eure komplizierten Gelenke, eure armseligen Eingeweide, eure zarten Augenlichter, die nichts sind als zwei dünnhäutige Wasserkugeln. Dann aber, bitte, winselt uns nichts vor, wer hat es euch geheißen?«

Im Kar, am Fuß der kleinen Geröllzunge, die zu den Felsen emporführte, blieb Xaver stehn und wartete auf Glenn, der einige Schritte zurückgeblieben war. »Feines Wetter!« rief er ihm entgegen. »Ich glaub, wir schaffen's an einem einzigen Tag.« Es sollte ein lustiger Peitschenknall sein, aber es kam ziemlich beklommen und dunkel heraus. Er glaubte nicht daran, daß sie den Gipfel bis zum Abend erreichten. Das letztemal waren es zwanzig Stunden gewesen. Am zweiten Tag waren zwar keine Schwierigkeiten mehr gekommen – die drei großen Bastionen dieser Route, die gelbe Wand mit den Bändern, die große Schlucht, die Traverse in den letzten Kamin, hatte er auch im vorigen Jahr am ersten Tag hinter sich gebracht – am zweiten Tag waren es nur noch wenige Stunden gewesen, einen halben Tag lang war er auf dem Gipfel herumgelümmelt – aber wenn sie nicht bis zum frühen Nachmittag an seinem vorigjährigen Nachtplatz mit der Steinbrechblüte waren, konnten sie nicht riskieren, heute noch weiterzugehn, denn dann war drei, vier Stunden lang keine passable Biwakgelegenheit mehr zu erwarten.

»Ich glaub's auch«, sagte Glenn und stoppte neben ihm. »Am Abend stehn wir auf dem Gipfel. Dann ziehn wir unsre gelbseidenen Pyjamas an, trinken einen schönen Kamillentee und legen uns ins Bettchen. Wärmflaschen werden ja wohl droben sein?«

Es klang zuversichtlicher und heller als Xavers Bannspruch gegen die Gespenster. Glenn hatte ja auch das leichtere Stück Arbeit vor sich. Er wußte, er hing sicher am Seil seines Führers. Und den Unterschied zwischen dieser Route und ihren bisherigen Kletterfahrten konnte der Neuling wohl nicht ganz ermessen? Man hatte sich da wohl, besessen von dem heroischen Plan, eine kleine Unterschlagung zuschulden kommen lassen? Wenn's bisher Hundesachen waren, dies hier war eine Katzensache. Vielleicht hätte man dem Freund den Unterschied mit krasseren Worten schildern müssen? Abgesehn von der Geschmeidigkeit, welche die Katze dem Hund voraus hatte: sie hatte sich auch noch das ungebrochene Herz bewahrt, während das Herz des Hundes gebrochen worden war, als er aus der Steppe zu den Menschen gekommen war. Und diese Katzensache hier verlangte nicht nur die geschmeidige Katzenkraft, nein, auch das ungebrochene Katzenherz. Besaßen sie's? War nicht noch Zeit zur Umkehr? Noch konnte man zum Rückzug blasen, oder?

Sie setzten sich wieder in Gang. Dösend schritt Glenn hinter dem breiten Buckel des Vordermannes dahin. Seine Gespenster verzogen sich allmählich im grauen Frühlicht des Kars. Um so schwerer wurde Xaver bedrängt. »Wozu? Warum? Kehr um, Ragaz, kehr um!« Und: »Einmal werden wir dich erwischen, wir haben bisher noch jeden erwischt, der den Kampf gegen die Schwerkraft nicht zur rechten Zeit aufgegeben hat. Was ist denn mit den Nameraden vom Tian-Schan, mit den Kapitänen vom Labrador, mit den gleichaltrigen Karwendelkletterern? Sie haben's aufgegeben, haben resigniert, oder wir haben sie erwischt, einen nach dem andern. Die kühnen Fliegerkerlchen erwischen wir zum Schluß, die arroganten Wolkenkratzerkerlchen erwischen wir. Entweder das Genick oder das Herz, eins von beiden brechen wir euch zum Schluß. Also laßt euch lieber das Herz brechen als das Genick. Ja, euch zwei werden wir auch noch erwischen, wenn ihr's auch ohne Maschine versucht, aus eigener Kraft und Herrlichkeit.« Und: »Kleine Buben seid ihr, kleine Buben bleibt ihr euer Leben lang, kleine Buben, welche auf die Nase fallen wollen. Tut euch nur nicht wichtig mit euren vierzig Jahren und der ausgewachsenen Männerseele, wir wissen Bescheid. Ein Leben, sagt ihr, wenn's nicht aufschwebt mit Leib und Seele, der Schwerkraft trotzend, wäre nicht lebenswert? Aber es ist ja schon genug, daß ihr euch auf zwei Beinen halten könnt, übergenug, daß ihr nicht mehr auf allen vieren krabbeln müßt, Wunder über Wunder eure ganze Existenz, auch wenn ihr euch bescheidet: sobald man die Gewalt und Bosheit der Schwerkraft in Betracht zieht. Schweben wollt ihr? Schweben? Einer göttlichen Stimme Folge leisten, die euch schweben heißt? Jawohl! Bitte, nur zu! wie immer ihr's versucht, zum Schluß geht's schief, denn in dem Zentrum des Planeten hockt der stärkere Götze.« Und: »Hihihi!« und: »Bäbäbäbäbä-bäbä!«

Aber schließlich gab's ja ein Mittel gegen dieses Nacht- und Dämmerungsgelichter, ein patentes Mittel. Man mußte ihre Warnung annehmen. Nicht indem man kuschte und umkehrte, sondern indem man sich's bewußt machte. Man mußte sich diese Geister zu eigen machen, das war ein altes Ladizer Patent. Gefährlich wurden nur die Gespenster, die man an sich vorbeiflattern ließ, ohne sie am Gespensterzipfel zu erwischen.

Merkt's euch, Leute! Greift zu, wenn ihr eins von euren Gespenstern um euch herumtanzen fühlt! Packt's an dem letzten Zipfelchen, mit dem's durch euer Bewußtsein huscht! Dann braucht ihr's nicht mehr zu fürchten, in keiner Gestalt. Dann wird's, mit freiem Mut bewußt gemacht, zum rettenden Engel.

Oder? Ja!

Auch der Passant der Großstadtstraße, ehe das Auto ihn erwischt und mit Blitz und Donner zu Boden reißt und zerquetscht, auch er hat sein Gespenst zuvor gespürt, beim Rasieren am Morgen, oder es flatterte noch am Rand des Trottoirs an ihm vorbei, aber er war faul, er war nicht wach genug, er hat's nicht festgehalten, erst in seiner letzten Sekunde, unter dem erbarmungslosen Gummi des Ungeheuers, erinnert er sich dran. O nein, er hätte nicht umkehren sollen, er hätte sich's nur bewußt machen sollen, das hätte genügt. Vor jedem Mörder flattert's daher, aber das Opfer besinnt sich zu spät, es gespürt zu haben. Macht's euch bewußt, Leute! Macht's euch bewußt, wenn's an euch vorbeihuscht, wenn's durch euch hindurchhuscht, wenn's vor einem andern Menschen einherhuscht! Seid nicht faul, seid wach, macht einen Schutzengel draus! vor den Volksrednern flattert's daher, alle Hörer spüren es, aber wenige machen es sich zu eigen. Vor den Kaufleuten mit den falschen Gewichten ist's zu finden: wie lang denn wollt ihr euch noch sehenden Auges betrügen lassen? Vor den eitlen Lehrern und Richtern und Schreibern, vor ganzen Modeströmungen, vor ganzen Epochen tanzt's daher: laßt euch nicht vergebens warnen, packt's, wenn ihr's spürt – ihr spürt's öfter, als ihr wahrhaben mögt. Packt's, macht's euch zu eigen, und ihr seid gefeit. Oder auch vor den falschen eigenen Taten, vor den falschen Geschäften, vor den falschen Gesellschaften. Oder auch vor allen euren Krankheiten, solang sie noch heilbar sind. Immer flattert's voraus, man muß es nur nicht fliehn, wenn man's spürt, man muß es greifen. Oder auch vor den falschen Weibern, die ihr Weibtum verloren haben. Oder auch vor dem falschen Mitleid, ob ihr's austeilt, ob ihr's empfangt –

oder auch vor der Göttin des Mobs, dem alternden Filmstar, doch auch sie selber erfuhr's schon, ihr eigenes Gespenstchen: An jenem Abend zum Beispiel, als sie, nach der Massage, bürstend ihr schönes Gebiß, plötzlich es fallen ließ, und es flog auf die Fliesen, der Kautschuk zerschellte – heute, just heute, es ist eine große Premiere,

und sie soll in der Loge sitzen und weithin lächeln,
und die Minister sind da und der ganze Mob,
und das Reservegebiß ist grade in Reparatur –
ja, auch sie hat's gespürt, sie trällerte grad einen Song,
als es vorübergeflattert kam, das Gebißgespenstchen,
aber sie hielt's nicht fest, sie machte sich's nicht bewußt,
jetzo hat sie den Dreck; mit zusammengekniffenen Lippen
muß sie den Mob und die Reichsminister bezaubern;
und das göttliche Lächeln, von welchem die Dichter künden,
fällt ihr nun extra schwer, gelingt ihr nun extra mies–

drum, Leute, haltet's fest, zur rechten Zeit, folgt dem Ladizer Rat, dem Xaverschen Patent.

Sie kamen zum Einstieg. Die Nagelstiefel mußten ausgezogen und im Rucksack verstaut werden. Auch das Reserveseil kam vorerst in den Rucksack. An den schweren Stellen sollte der Rucksack nachgeseilt werden. An den leichten Stellen trug ihn Glenn, der Hintermann, der gesicherte.

Nachdem das Hauptseil abgewickelt war, seilte Xaver sich und den Freund an. Mit Zärtlichkeit und mit Bedacht schlang er die Knoten, an denen nun für eine lange Spanne Zeit ihr Leben hing. Dann zogen sie die Kletterschuhe an, verschnürten sie und blieben noch ein bißchen hocken, schweigend.

Es war Tag geworden. Die Sonne selber war noch nicht zu erwarten, doch ihre Majestät lag bereits ungeschmälert über den Alpen. »Was ist das für ein Gestein«, sagte schließlich Glenn, »ist das reiner Dolomit?« und langte an den Fels, und: »Nein, das ist Marzipan«, sagte Xaver, sprang auf und begann's.

Ein böses Stück, gleich zur Begrüßung. Die schwarze Schlucht dort droben mußten sie erreichen, das war der Schlüssel zu ihrer Route. Aber diese Schlucht brach hundertfünfzig Meter über ihnen in einer gelben Steinwand zum Geröllfeld ab. Glenn hätte sicherlich geglaubt, sie wären an der falschen Stelle, wenn Xaver ihn nicht vorbereitet hätte. So aber wußte er, daß der erste Riegel, den ihnen die Wand vor die Nase setzte, schon zu den besonderen Stellen zählte, und faßte sich in Geduld.

Nach wenigen Minuten verschwand Xaver hinter einer kleinen Rippe. Jetzt war Glenn allein mit dem Seil. Vorsichtig hielt er's zwischen den Fingern und ließ es Meter um Meter nachgleiten. Etwa zwanzig Meter waren abgelaufen, die Hälfte der Seillänge, da kam endlich der Ruf, daß droben ein Standplatz zur Sicherung des zweiten Mannes erreicht worden war. Schnell wurde der Rest des Seiles nach oben gezogen, es straffte sich, es kam der Ruck, man konnte nachkommen.

Jetzt waren alle Gespenster weg, jetzt kam der Zauber. Uralter Fels war's, wenige Griffe bot er nur, doch was er bot, war fest und zuverlässig. Er selbst, der ragende Fels, stand da zum Trotze gegen die Schwerkraft. Und wurde nun betastet und ergriffen von den Menschenhänden, und auch dies zum Trotze gegen die Schwerkraft. So war's ein doppelter Rausch, ein steinerner, ein männlicher, Brust an Brust.

Xaver steckte in einer senkrechten engen Rinne, mit der linken Körperhälfte verklemmt. Er mußte sich zwei Meter höher schieben, als der Freund ankam. Sie nickten sich zu und lachten, dann ging's weiter.

Die Rinne führte auf ein breites Band, das sie ein gutes Stück schief emporführen sollte. Aber bevor sie auf dieses Band gelangten, kam ein übles Stück, der Ausstieg aus der Rinne. Wie's Xaver ohne Sicherung bewältigte, blieb Glenn ein Rätsel. Er selber mußte sich während der letzten zehn Meter fast ganz auf die Seilhilfe verlassen. Am glatten Ausstieg zu dem Band, da nützte alles nichts mehr, da hing er wie ein Mehlsack an dem Seil.

Jetzt saßen sie bequem am Band und rasteten. Erst ging der Atem noch keuchend, bei Glenn vom letzten Stück, bei Xaver von der Zieherei, dann wurde es still. Die Sonne kam gerade hoch. Vollkommen unbeteiligt zog sie ihren Bogen.

Sie nannten dieses Band das Purgassersche Band, der toten Kameradin zu Ehren. Xaver schlug es vor. Zum Dank benannte Glenn das andre Band, das ihnen noch bevorstand – ehe sie zur zweiten Bastion ihrer Route, zur Schlucht, gelangen sollten –, schon jetzt das Teresesche.

Das Purgassersche Band wurde bis zu seinem Ende nach links verfolgt, in leichter Kletterei. Hinter einer wulstigen Rippe lag hier der Weiterweg versteckt. Hier mußte Glenn vorausgehn. Denn man mußte sich fünf Meter frei abseilen, bevor man sich in einem luftigen Quergang um die wulstige Rippe herumschmuggeln konnte, hinein in einen schützenden Kamin.

Es war eine Stelle mit schlechter Sicherungsmöglichkeit. Das erste Stück hing Glenn am freien Seil, da ging's noch, weil ihn Xaver hielt. Doch die Traverse mußte er aus eigener Kraft vollenden. Wenn er fiel, pendelte er in die Wand hinaus, bis unter Xavers Standplatz. Jedoch es glückte ohne Zwischenfall. Und Xaver, als der zweite – nachdem sie sich verständigt hatten, daß Glenn gut gelandet war und sich im Kamin verstaut hatte–, begrüßte mit kindischer Freude seinen Mauerhaken vom vorigen Jahr und seilte sich dran ab, bis zur Traverse, die er schnell bezwang.

Nun kam ein willkommenes Stück, hinauf zum Tereseschen Band. Ein Kamin mit eingeklemmten Blöcken, prächtige Sicherung. Faustdicke Griffe und Tritte, rechts und links, so viele man haben wollte. Dazu das trauliche Gefühl, daß man nur bis zum nächsten Block stürzte, wenn man stürzte.

Xaver sang: »Jack is every inch a sailor«, während er vordrang. Die ganze Seillänge kletterte er aus. Glenn rief ihm nach: »Sie Katzenviech, werden Sie nicht frech! Wie sind Sie nur vorhin über den schiefen Riß hinaufgekommen, Sie gemeiner Kerl? Sie sind ein Katzenviech!« Aber Xaver, als er sich zur Sicherung des Freundes auf dem Band niederließ, rief zurück: »Bubi? Bubi? Ei wer dommt denn da? Ja lach doch mal! Kann' du schon lachen? Hoppla! Braver Bubi, brav, brav!« Bis Glenn wütig wurde, denn es war immerhin ein Klimmzug nach dem andern, es nahm ihm den Atem. Er schrie: »Halt's Maul, Idiot!« zu dem grinsenden Kumpan hinauf. Worauf der in ein Gelächter ausbrach, das durchs ganze Massiv zu hören gewesen wäre, wenn jemand dagewesen wäre, es zu hören. Indessen, es war niemand da, außer den Freunden, dem Fels und der Sonne.

Jetzt lag der erste Riegel der Tour hinter ihnen. Erfüllt war das erste Drittel der großen Forderung. Bequem führte das Teresesche Band zur Schlucht empor. Über eine kleine Klippe, die sie Barbi-Klippe nannten. Zum Schluß in breiten Stufen, die Lois-Treppe hinan. Zehn Uhr war's, die Hitze kam.

Sie standen am Fuß der Schlucht. Hier war Luzifer abgefahren, als er auf Erden gelandet war – seinerzeit, als der Mond sich schämte und die Sonne sich verdunkelte und die Erde taumelte in ihren Grundfesten. Man sah zwar nichts mehr von dem Fenster in der Höhe, aus dem der Fürst der Hölle herabgeschleudert worden war. Man sah auch nichts mehr von der Spur, die er im Äther gezogen hatte, weithin ausgebreitet die Arme. Doch dies hier war sein Landungsplatz auf Erden gewesen.

Solang er durch den Luftgürtel des Planeten gestürzt war, war's noch ein halbes Schweben gewesen, da waren ihm noch die Schwingen der verlorenen Engelschaft verblieben. Dann aber war's, in dieser Schlucht, zum vollen Sturz geworden. Ein zerschellender donnernder schwefelstinkender Sturz mußte es gewesen sein. Man roch den Schwefel noch. Man sah noch, wo er aufgeschlagen war. Von Block zu Block, die Wand in ihrem ganzen Mittelteil zerreißend, so war's dahingegangen.

Dann hatte es ihn hinausgeschleudert, über die gelbe Steilwand hinweg, und er war verschwunden. In die Erde hinein war's gegangen, hinunter bis zu ihrem Mittelpunkt, dort war jetzt sein Bereich. Dort saß er jetzt und hielt Gericht und Rache, der Fürst der Hölle, Luzifer, die ewige Schwerkraft. Doch diese Schlucht war seine letzte Spur im Licht der Sonne. Hier war noch, zwischen dem unsichtbaren Fenster in der Höhe und dem Mittelpunkt des Erdensterns, der längst vergessene Zusammenhang bewahrt.

Sie also folgten jetzt der umgekehrten Route, himmelwärts. Zuweilen gelang's im Grund der Schlucht. Da fühlte man sich geborgen, wenn auch die Pulse in der stärkeren Hitze stärker pochten. Doch oft auch drängte es einen in die Wand hinaus. Ein paar gewaltige Überhänge, nachdem man schon eine gute Höhe gewonnen hatte, mußten in weiten Quergängen umschmuggelt werden.

Am luftigsten war das Mittelstück. Da mußte man wegen eines uneinnehmbaren Überhangs von ganz geringer Höhe beinahe hundert Meter in die westliche Wand hinaustraversieren, dort draußen frei empor, dann wieder zurück zur Schlucht, zwei Mauerhaken setzen und sich pendeln lassen, bis man endlich auf dem umgangenen Block landete, wiederum in Luzifers Spur.

Jedoch zuletzt, ein feuchter glatter Stemmkamin, nicht hoch, kaum höher als das lärchene Haus im Tal, doch schwarzes nächtliches Gestein, das war's, das war der große Trick der Schlucht. Danach kam ein Geröllfleck, ein bequemer Platz zur Mittagsrast.

Dieser Kamin hatte sich in seinem letzten Stück zu einem Wulst verengt. Die letzten zwei Meter waren die schwierigsten gewesen. Das galt aber nur für Xaver, denn Glenn mußte sich hier zum zweitenmal ganz ins Schlepptau nehmen lassen, bei aller Bravour, mit der er bisher gefolgt war. Aber der Vordermann hatte es in freier Kletterei vollbringen müssen, ohne Sicherung. Zwar war Glenn nur wenige Meter tiefer gestanden und hatte das Seil um einen verklemmten Block geschlungen, jedoch die doppelte Seillänge wäre Xaver ausgestürzt, wenn's mißlungen wäre, und das hätte genügt. Keuchend saßen sie jetzt, nach Glenns Landung auf der neuen Stufe der Schlucht, in einem kleinen Kessel.

»Wahnsinn«, sagte Glenn, nachdem seine Lungen wieder funktionierten.

Xaver antwortete nicht. Er hatte den Kopf an einen Geröllblock gelehnt und die Augen geschlossen. Bleich und eingefallen war sein Gesicht. Da er den Unterkiefer herunterhängen ließ, sah er wie ein Toter aus.

»Was ist?« fragte Glenn. Er sah's erst jetzt, er hatte seit der Landung noch nicht hingesehn. »Was ist los?«

Xaver blieb stumm und rührte sich nicht. Es war zuviel gewesen. Die letzte Strecke, über die Verengung des Kamins hinüber, purer Schwindel war's gewesen. Er hatte es vom vorigen Jahr her nicht so schlimm in Erinnerung. Oder doch? Wulstig, grifflos. Und teuflisch schwarz. Jetzt war der große Trick vorüber, doch es war zuviel gewesen. Nicht weil's ihn so sehr ausgepumpt hatte, daß die Gelenke jetzt noch zitterten, das war natürlich. Aber der tiefe Schreck war über ihn gekommen. Der letzte Abschwung, der letzte Stoß, weg von dem letzten kleinen Tritt, über den glatten Wulst hinüber zu dem rettenden Zacken, er hatte selbst sein verzerrtes tierisches Gesicht gesehn, als es geschehn mußte, und es mußte geschehn, es gab kein Zurück und kein Halten mehr – es war zuviel gewesen.

Glenn merkte es erst jetzt. Bei aller Bewunderung für den Vordermann, er hatte auch diese Stelle ganz vertrauensvoll hingenommen. Er selber hatte sich auch hier so gut gehalten, wie es ging, das war nicht zu leugnen – aber offenbar hatte er's diesmal doch sehr laienhaft unterschätzt, als er ruck-zuck nachgezerrt worden war. Während er das Gesicht des Freundes betrachtete, ging ihm ein Licht auf.

Xaver öffnete die Augen und lächelte ihm zu. »Entschuldige«, brummte er, »es wird bald vorbei sein.«

»Was denn, was denn?« rief Glenn, »Was hast du denn? Ist dir schlecht?«

»Ein bißchen – das kommt so nach solchen Stellen – hat nichts zu sagen –« Er schloß die Augen wieder. »Aber du hast mich doch noch tadellos heraufgehißt? Ich hätte warten sollen, bis du wieder Luft hast! Das ist ja Wahnsinn, ich hatte keine Ahnung von dieser Stelle, ich hätte eine halbe Stunde dort unten warten sollen!«

»O nein«, sagte Xaver, ohne die Augen zu öffnen. Wie ein Sterbender brummelte er vor sich hin. »Das ging noch ganz gut mit drein, du wiegst ja nicht mehr wie ein Spatz – so etwas kommt immer erst später über einen, pfui Teufel – wir müssen eine halbe Stunde rasten, es ist sowieso Mittag –«

»Natürlich, natürlich«, sagte Glenn. Er seilte den Rucksack nach, der noch drunten hing, und holte die Thermosflasche heraus. »Trink, mein Lieber! Kaffee, wunderbar heiß und stark!«

»Nein, danke«, flüsterte Xaver. »Trink du – keine Angst, es kommen keine solche Stellen mehr – trink, trink –« Er drehte sich ein bißchen auf die Seite und summte: » Jack is every inch a sailor –« Gleich danach schien er eingeschlafen zu sein.

Glenn langte hinüber und patschte ihm ein wenig auf die Hand. Ganz leise patschte er drauf, erst zaghaft, dann immer weiter, aber so sanft, daß es ihn nicht wecken konnte, wenn er wirklich schlief.

Müde lag diese Hand auf den Seilschlingen. Sie schien ihren eigenen Schlaf zu schlafen. Sie war bereits zerschunden. Am Daumenballen klebte halb getrocknetes Blut. Es spiegelte sich in der Sonne wie ein alter Schmuck.

Schließlich wurde Glenns Patschen rhythmisch. Tabb-tabb-tabb, tabb-tabb, tabb-tabb-tabb, tabb-tabb. Wie ein Puls ging's hin und her, doch zarter als ein Menschenpuls. Tabb-tabb-tabb, tabb-tabb, tabb-tabb-tabb, tabb-tabb.

Bis Xaver mit einemmal zupackte und die patschende Hand festhielt und mit einem brutalen Klatsch seine zweite Hand daraufschlug: hab ich dich! Jawohl, er war wieder bei sich, er war wieder da, er lachte wieder sein altes Lachen.

Sie aßen zu Mittag. »Vor den Sturmangriffen im Feld«, sagte Xaver, »haben wir immer gefastet, können Sie sich nicht erinnern? Wegen der Bauchschüsse, damit die Därme leer waren, können Sie sich erinnern?«

»Selbstverständlich«, sagte Glenn und schob ein Stück von dem roten Käse als Horsdoeuvre in den Mund. Denn jetzt war's aus mit der Diät, jetzt mußte die Maschine geheizt werden. »Ich möchte wissen, ob die Quendel schon im Pürschhaus einpassiert ist? Der Fergus hat gesagt, sie kommt in diesen Tagen wieder.«

»Wieviel Geld hat dieser Fergus eigentlich?« fragte Xaver. »Der muß doch schwer reich sein, der alte Schweinepriester?«

»Mir kann's gleich sein, ob das Josephinchenkindchen kommt oder nicht«, antwortete Glenn. »Mich kann sie nicht mehr haben, die blöde Ziege. Ich rühr kein Weib mehr an. Hat ja gar keinen Zweck.«

»Mein Gott, die gute Terese«, sagte Xaver und schnitt den Speck an.

»Wozu denn«, sagte Glenn, »alles nur Einbildung!«

»Terese ist richtig«, sagte Xaver, »gib mal 'n Stück von dem Roggenbrot her!«

»Jetzt haben wir weiß Gott das altbackene erwischt«, sagte Glenn. »Nein, es stimmt schon, es ist schon das richtige.« Er schnitt ab, rund um den Laib. »Terese ist richtig. Überhaupt, wunderbar können die Weiber sein. Nur schade, daß sie's nicht sind. Feines Brot!«

»Gib mal her! Glück muß der Mensch haben!« Ob er damit Terese meinte oder das feine Brot oder den wulstigen Überhang, war nicht zu erkennen. »Lois soll Arzt werden«, sagte er mit vollem Mund. »Das ist, wenn er keine besonderen Anlagen zu etwas anderem entwickelt, noch immer das beste, meinen Sie nicht auch?«

»Was ist denn mit dem Wetter?« antwortete Glenn.

»Gut, gut. Zwei Drittel vom ganz Schweren haben wir. Jetzt kommt nur noch die Traverse in den Kamin, die ist noch haarig, dann wird's leicht.«

»Aber 'n bißchen schwül, was? Hält's aus?«

»Heute kommt nichts mehr«, sagte Xaver und schnüffelte gedankenlos in die Luft. »Morgen kann's unsertwegen regnen, soviel's will!« Er öffnete die Sardinenbüchse. »Portugiesische? So eine Schweinerei! Ich hab gedacht, es sind französische?«

»Jetzt weiß ich doch alles von Ihnen«, sagte Glenn, »aber ob Sie schon mal in Paris waren, weiß ich nicht.«

»In Paris?«

»Waren Sie schon mal dort?«

»Wo?«

»In Paris?«

»Was ist mit Paris?«

»Ob Sie schon mal dort waren?«

»Wo?«

»Himmelherrgott, ob Sie schon mal in Paris gewesen sind, frag ich!«

»Natürlich, Mensch. Selbstverständlich. Mit Terese. Vier Tage, das hat uns genügt. Herrliche Stadt.«

»Nous passerons joyeux sous des arcs triomphaux«, sang Glenn los, »pour y loger les dieux jaillis de nos cervaux –«

»Reisen is was Blödes, wenn man's richtig bedenkt.«

»Et l'on couronnera de lauriers nos fronts pales – nein, das stimmt nicht – in Paris hab ich die Purgasser getroffen, waren Sie schon mal dort?«

»Wo?«

»In Paris?«

»Mensch, ja, ich hab's doch grad gesagt, mit Terese, vier Tage.«

»Aber in Bamberg waren Sie noch nicht?«

»Nein, aber einen Doktor Bamberger kenne ich, einen Millionär, ein kolossales Rindvieh.« Er lachte los und machte den Doktor Bamberger nach: »Lüber Rachaz, äch bin dafür, und äch bin dagegen.«

»Die Purgasser«, flüsterte Glenn vor sich hin, »die Fanny Purgasser.«

»Ein kolossales Loch! Aber Geld wie Heu! Ja, die Menschheit sollte tatsächlich nur einen einzigen Hintern haben, das wär das Richtige.«

»Was ist?«

»Ein furchtbarer Kerl, dieser Doktor Bamberger. Am besten ist, Sie erzählen keinem Menschen, daß Sie aus Bamberg stammen, mein Lieber, da lachen ja die Hühner. Da ist noch besser, Sie sagen gleich, Sie stammen aus Leipzig oder Köln.«

»Was war das mit dem Hintern?«

»Ich sage, die Menschheit sollte nur einen einzigen Hintern haben, nicht Milliarden Hintern, sondern einen einzigen, können Sie das nicht kapieren? Damit man ihr, der Menschheit, einen einzigen Fußtritt geben könnte. So wie's jetzt eingerichtet ist, geht das doch nicht weiter, wer kann denn das bewerkstelligen?«

»Was ist denn mit diesen Ananas, wenn ich fragen darf?«

»Augenblicklich tun Sie die Büchse weg! Das ist für heute abend, wir verdursten im Biwak, Sie haben sowieso schon zuviel Kaffee gesoffen.«

Glenn steckte gehorsam die Ananasbüchse in den Sack zurück. »Aber ein paar getrocknete Pflaumen und Aprikosen? Das können wir uns doch leisten?«

»Schaun Sie, so essen die Pferde«, sagte Xaver, nahm eine Handvoll Dörrobst und aß wie ein Pferd aus der flachen Hand. »Das stammt aber nicht von mir, das mit den Hintern, das hat der Captain Kingly von unsrer Labrador-Expedition immerzu gesagt. Das war immer das erste, was man in der Früh in unserm Zelt gehört hat, lang vor dem Zähneputzen. Das Zähneputzen kam erst Monate später, in New York.«

»Was ist?«

Er lachte und machte den Captain Kingly nach: » Oh, if only they had but one arse, that I could give it a mighty kick!«

»Großartig«, sagte Glenn, »sagen Sie's noch mal.«

» Oh, if they had only one arse, that I could give it a mighty kick!«

»Das ist nur eine Variation von einem alten Spruch«, sagte Glenn. »Der Kaiser Tiberius oder sonst einer von den alten römischen Kaisern hat das einmal gesagt.«

»Was? Sieh mal den Kingly an, den alten Schuft! Ich hab immer geglaubt, das wär sein eigenes Patent? Na ja, der arme Kerl ist längst tot, im Kaukasus hat's ihn erwischt, bei der amerikanischen Uschba-Sache. Was hat der Römer gesagt?«

»Die Menschheit sollte nur einen einzigen Kopf haben, um ihn abgeschlagen zu bekommen mit einem einzigen Hieb. Aber das von dem Captain gefällt mir gradso gut – wie war's?«

»Oh, if they had only one arse, that I could give it a mighty kick!«

»Von den Kunsthändlern wenigstens«, sagte Glenn, »könnte man's wirklich verlangen, damit man weiß, wo man hinzutreten hat.«

»Und von den Universitätsprofessoren vielleicht nicht?« sagte Xaver. »Mensch, wenn ich bedenke, daß ich im Winter meine Vorlesungen in der Universität halten muß, das ist ja Wahnsinn.«

»Nette Kerle, der Hellmann und der Boll«, sagte Glenn und gähnte ein schreckliches Gähnen. »Ich glaub, es gibt viel mehr von der guten Sorte, als man ahnt.«

»Meine Damen und Herren«, dozierte Xaver los, »wir stehn hier auf alten Meeresablagerungen, unsere Gesteinsmassen gehören der Trias, der Jura- und Kreidezeit an. Indem daß ich Ihnen aber dieses Sowohl-als-Auch ins Stammbuch schreibe, schließe ich das Entweder-Oder nicht aus – soll ich nun sagen: ›Meine Damen und Herrn‹ oder: ›Meine Herrn und Damen?‹ was würden Sie sagen?«

»Wunderbar sind die Menschen«, sagte Glenn. »Man kann ebensogut sagen: ›Oh, wenn doch nur alle Menschen ein einziges Herz hätten, damit man's an sich reißen könnte.‹«

Xaver sah ihn betroffen an. Er hatte mitten in der Blödelei in einem herrlich klingenden Ton gesprochen. Er schien einen Gedankengang vollendet zu haben, dessen Verlauf von dem vorhergehenden Hin und Her nur verschüttet gewesen war, nicht aufgehalten. Tatsächlich, zuweilen konnte diese häßliche Fistelstimme klingen wie die Stimme eines Cherubs.

»Jawohl«, sagte Glenn, »daher kommt es nämlich, euer Zeug, wir wünschen gar nichts anderes als dieses einzige Herz der Menschen, statt der Milliarden Herzen, und weil's nicht sein kann, sind wir giftig und wünschen diesen only-one-arse für den bösen kick

»Kann schon sein«, sagte Xaver, »aber Idioten sind wir doch, wie wir daliegen und quatschen, anstatt unsre Hemden zum Trocknen aufzuhängen! Fühlen Sie mal, wie die Sonne auf diese Platte da brennt, in zehn Minuten wär die ganze Wäsche trocken! Dann kämen wir etwas trockner ins Biwak und könnten vielleicht die alten Hemden noch gebrauchen, über die Reservehemden hinüber. Wir sind ja vollkommen verrückt, daß wir in diesem quietschnassen Zeug hockenbleiben.«

»Los«, rief Glenn, sprang auf und zog sich das Hemd über den Kopf.

Xaver steckte zwei Mauerhaken in eine kleine Rinne, die sich oberhalb der sonnendurchglühten Platte entlang zog, befestigte das Seil daran und konstruierte eine tadellose Wäscheleine. Dann knoteten sie ihre zwei Hemden dran fest, so daß sie sicher hingen. Dann setzten sie sich wieder nebeneinander ins Geröll, am Fuß der Platte. Die zwei Hemden hingen über ihnen wie zwei Hingerichtete Märtyrer.

Richtige Rast. Xaver legte sich wieder zurück und schloß die Augen, doch diesmal war's ein ruhiger Schlaf. Gelassen lag sein muskelbepackter Körper auf dem Geröll. Glenn rauchte eine Zigarette. Er war nervös, er konnte nicht schlafen. Zuweilen blickte er auf den Kameraden, doch meistens blickte er geradeaus. Über Luzifers Spur hinweg, in den nördlichen Himmel hinein. Dann warf er den Zigarettenstummel in weitem Bogen über den wulstigen Kamin in die Tiefe, stützte den Kopf in die Hände und blickte auf seinen schweißbeperlten Nabel.

Nun war der wahre Mittag da. Die Nordwandmauern, obgleich immer still, jetzt waren sie besonders still. Nichts rührte sich, kein Steinschlag, kein Adler, nichts. Nichts, und in Zenit die Sonne, alles andre war weg. Höchstens dies vielleicht noch, der Geruch der zwei Leiber im Geröll. Sie stanken bereits ein wenig, doch wie zwei Pferde mehr, wenn sie nach einem langen Trabe abgesattelt werden, nach Schweiß und Hanf und zerriebenem Lederzeug. Sonst nichts. Verzauberung. Tod und Leben eins. Und als die große Bürgin, daß es eins war, im Zenit die Sonne.

Xaver unterbrach's zuerst. »Auf! Auf! Allons, entfants de la patrie, le jour de gloire est arrive!«

»Schade«, sagte Glenn und riß sich ebenfalls zusammen. »Hier hätten wir noch ein paar Wochen bleiben sollen.«

Die Hemden waren trocken, die Wäscheleine wurde abmontiert. Sie kleideten sich an und verschnürten, was verschnürt werden mußte, die Kletterschuhe, die Hosenbeine und Jackenärmel, die Seilschlingen. Sie mußten jetzt die Schlucht verlassen. Mit einem gewaltigen schwarzen Dach ging's über ihren Häupten zu Ende. Adieu, Luzifer, auf Nimmerwiedersehn! Die Route führte nach links, in die freie Wand hinaus.


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