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Fünfzehntes Kapitel

Es dämmerte bereits, als die beiden Kavaliere am Joch standen. Der Schlitten mit den vier Schleppern passierte gerade die Talsohle unter ihnen. Sie sahen den kleinen Zug über die Bachbrücke kriechen und zur Engelswiese, dem flachen Auslauf der Jochfahrt, vordringen.

Wenn es gut ginge, sagte Xaver, würde es noch eine halbe Stunde dauern, bis sie da wären. Obwohl der Hang, den ein richtiger Läufer in einer halben Minute abführe, heute besonders gut trüge. Trüge er nicht so gut, hätte es dem Schnee anders gepaßt, dann hätte es unter Umständen einen halben Tag schwere Arbeit gekostet, diese kleine Strecke hinter sich zu bringen.

Sie setzten sich auf einen nackt geblasenen Felsen und warteten. Die Sonne war unter die Grate getaucht. Blaue Schatten fielen über die Alpen. Unerschütterlich stiegen drüben die Nordwände in den elektrischen Äther.

»Erinnern Sie sich noch an unsre letzte Zusammenkunft, Doktor Ragaz?« fing Glenn an.

»O ja«, sagte Xaver und lachte ein kleines Lachen. »Das war doch an der Grube vom Alten Mann, wenn ich mich recht besinne?«

»Das war doch kindisch, nicht?«

»Ich weiß nicht, war es kindisch?«

»Ich glaube, es war kindisch«, sagte Glenn. »Und unser Gespräch in der lärchenen Arche Noah, die ich in Brand setzen wollte? Das war auch kindisch. Finden Sie nicht?«

»Nein. Kindisch finde ich das nicht. Es war eher greisenhaft. Greisenhaft von beiden Parteien.«

»Sehr richtig«, sagte Glenn.

Sie hatten sich verstanden.

»Leben die Eltern von Fräulein Purgasser noch?« fragte Xaver.

»Der Vater ist gestorben, die Mutter lebt noch. Ich fürchte, ich muß sie nach Windbach schaffen. Ich muß heute abend noch telegraphieren. Wie lange kann man hier telegraphieren? Das Postamt im Dorf schließt wohl schon um sechs Uhr?«

»Sie können das Telegramm telephonisch aufgeben. Vom Pürschhaus aus. Oder von meinem Hof aus. Wollen Sie nicht bei uns übernachten? Es wird ein bißchen einsam im Pürschhaus sein.«

»Ich denke, ich bleibe bei ihr.«

»Sie muß ins Tal. Ich würde sie gern über Nacht in unserm Hof beherbergen, aber es ist besser, wir machen den Transport ins Dorf auf einen Schubs. Sonst geht morgen früh die ganze Quälerei von vorne an.«

»Ganz recht«, sagte Glenn. »Dann übernachte ich im Dorf drunten, im Wirtshaus, da bin ich ihr am nächsten.«

»Wenn Sie wollen, fahre ich mit Ihnen hinunter und helfe Ihnen? Oder wollen Sie lieber allein sein? Wie Sie wünschen.«

»Kommen Sie mit, wenn es Ihnen nicht zuviel Zeit wegnimmt. Ich wäre dankbar, wenn Sie mitkämen. Aber ich fürchte, ich belästige Sie damit?«

»Aber ich bitte Sie, ich tu's gern«, sagte Xaver. »Ich fahre voraus, wenn die Leute hier sind, und spanne meinen Fuchs ein. Ich will auch meine Kinder wegschaffen, bevor der Zug am Hof anlangt. Es ist nicht nötig, daß sie es sehn. Meine Frau muß sie im Zimmer festhalten, während wir vor dem Haus umladen.«

»Selbstverständlich«, sagte Glenn.

Jetzt war der Zug auf halbem Hang. Man hörte die Schlepper miteinander sprechen. »Halt, halt, nieder, aus, Abwechslung vor«, klang es herauf. Unaufhaltsam drang die Nacht heran. Die Nordwände waren bereits jenseits von allen menschlichen Begriffen angelangt.

»Was geb ich den Leuten?« fragte Glenn.

»Was Sie wollen«, sagte Xaver. »Zwanzig Mark pro Kopf, das genügt auf alle Fälle. Mit dem Ploner werden Sie ja ein Abkommen getroffen haben? Dem geben Sie seinen Lohn und zehn Prozent Trinkgeld.«

»Gut. Besten Dank.«

»Es ist eine gräßliche Arbeit, einen Menschen ins Tal zu schaffen und in die Erde zu legen. Die Behörden werden wohl auch noch angerückt kommen und Sie mit allerlei Klimbim belästigen.«

»Dazu sind sie ja da.«

»Man muß es ganz blind und taub über sich ergehn lassen.«

»Natürlich.«

»Es ist ganz gut so. Es schiebt die Trauer zurück.«

»Ich bin nicht traurig«, sagte Glenn.

»Nein?«

»Nein, wenn ich es offen zugeben soll, nein. Ich hab sie geliebt, o ja. Sie war sozusagen meine einzige Liebe, obwohl sie mir nicht gehört hat. Und wir wollten heiraten, eine richtige Heirat mit dem großen Sakrament. Hier auf diesem Joch, vor sechs, sieben Stunden, da haben wir es vermutlich zu Ende geführt und gefunden. Aber ich bin nicht traurig. Seltsamerweise.«

»Das ist nicht so seltsam, wenn man dort hinüberschaut«, erwiderte Xaver. »Betrachten Sie dieses Licht auf den Nordwänden – da ist doch alles andere Wahnsinn, nicht?«

»So ist es«, sagte Glenn. »Alles andere ist Wahnsinn.«

»Liebe, Familie, Staat, Freundschaft, was geht es uns an?«

»Nichts«, sagte Glenn. »Sie hat sich schrecklich mit diesen Dingen abgequält. Sie war sehr deutsch in diesen Dingen. Ich glaube, Sie kennen das alles von Ihrer eigenen Frau her. Eine Wahrheitssucherin, heroisch angelegt. Und heute, schien es mir, war sie daran, ihre Gnade zu finden.«

»Sie hat wohl ihre Gnade gefunden«, sagte Xaver.

»Das wollen wir nicht sagen, Doktor Ragaz. Wir sind ja keine Pfaffen.«

»Nein. Richtig.«

»Nur insofern haben Sie recht, als ihr starrer Wille sie jetzt nicht mehr quält. Darin hat sie jetzt Gnade gefunden. Das ist's wohl, warum der Tod so gnädig wirkt, weil er uns diesen schlimmen starren Willen wegnimmt. Aber das ist ein schlechter Trost. Warum konnte sie nicht das Leben leben ohne diesen schlimmen starren willen? Das wäre ihre Gnade gewesen.«

»Wir sind alle krank an zuviel Willen«, sagte Xaver. »Heute früh hab ich meine Kinder ein Lied gelehrt, das Wolloho und das Solloho und die Zukunft, ein Lied gegen diese Willensteufelei.«

»Und was ist, wenn wir jetzt offen sprechen?« sagte Glenn. »Im Testament dieses Mädchens steht ein Passus, ich soll mich mit Männern befreunden, ich soll einen neuen Männerstamm begründen, das war ihre Idee –« Er brach ab.

»Hat sie ein Testament hinterlassen?« lenkte Xaver ab. »Ein paar Gedichte hat sie hinterlassen, das wird wohl alles sein – aber ich kenne ihr Testament, auch wenn es nicht ausgeschrieben worden ist. Sie wollte das gleiche, was wir zwei im letzten Sommer gewollt haben, mein lieber Doktor Ragaz, als wir uns beschimpft und verhauen und gebissen haben, wissen Sie's nicht mehr?«

»Das war derselbe Wahnsinn, derselbe schlimme Wille um jeden Preis.«

»Ja, Wahnsinn, von Ihnen und von mir und von der Purgasser. Ganz abgesehn von uns beiden hier und ganz abgesehn von meinem Mädchen: alles, was man mit solchen festen Riemen, selbst wenn die Riemen aus dem besten Leder geschnitten sind, aneinanderbinden will, geht schief. Ob das eine Familie oder ein Staat oder eine Männerfreundschaft oder sonst was ist.«

»Richtig. Genau das gleiche hab ich in den letzten Tagen auch gefunden. Es scheint in der Luft zu liegen.«

»Gewiß liegt's in der Luft«, sagte Glenn. »Auch dieses Mädchen war nah dran, es zu finden. Daß man sich aus seinem Willen keine Riemen schneiden soll, das ist der Witz.«

»Nein, man soll es nicht länger tun«, sagte Xaver. »Auch wir zwei nicht.«

Sie sahn sich zum erstenmal offen ins Gesicht. In Xavers Stirn hingen die Haare, seine Haut war rot von den viele frischen Winden, die schon darüber weggestrichen waren. Glenns Gesicht war trotz der vielen Sonnentage noch wenig gebräunt, noch immer stadtfarben und verhalten; er hatte sich in den letzten Wochen seinen kleinen Bart wieder stehenlassen, aber man sah noch nicht, ob's ein fuchsfarbener Modebart sein sollte, oder ob's nur ein unrasiertes Stoppelfeld war.

»Ehre dem Andenken der Purgasser«, sagte er, »große Ehre ihrem Andenken – aber ihrem Testament kann ich nicht Folge leisten.«

»Nein«, sagte Xaver. »Man soll keinem Weib Folge leisten, selbst einer heroischen Toten nicht.«

»Kein neuer Männerstamm, keine neue Freundschaft.«

»Nein, keine neuen Riemen.«

»Das wird nichts.«

»Nein, das schafft nur wieder neuen Wahnsinn, Qual und Haß, sonst nichts.«

»Sehr richtig. Man versteht sich auch so, ohne die alten und ohne die neuen Riemen. Man beginnt sich wieder ohne die Riemen des Willens und des Verstandes zu verstehn.«

»Und wenn man sich nicht versteht? Dann ist's auch gut, ebenso gut.«

»Gewiß, wir begründen unsre Freundschaft darauf, daß wir es gehn lassen, etwas zu begründen.«

»Sicher. Morgen können wir uns auf Nimmerwiedersehn sagen, ohne daß es uns leid tut.«

Glenn lachte.

Xaver stand auf und reckte sich.

Die Kolonne war dicht unterm Joch, in wenigen Minuten war das schwerste Stück geschafft. Es war auch höchste Zeit, die Spur war kaum noch zu erkennen. Nach Ladiz hinunter brauchten sie Fackeln. Die Nordwände verschwanden bereits. Xaver kam vielleicht noch ohne Licht hinunter, wenn er sofort abfuhr. Glenn blieb bei der Kolonne.

Sie blickten sich mit einem nackten Blick in die Augen. Dann blieben sie schweigend nebeneinander stehn, bis die Träger da waren.

Die letzten zehn Meter unterm Joch waren vereist, da gab es noch eine Masse Flüche und eine kleine Schimpferei zwischen dem Wegarbeiter und dem Ploner. Schließlich aber lag die Last neben dem kleinen Steinmann am Joch, still und schwer. Die Schlepper traten zu einer kurzen Rast zur Seite.

Xaver und Glenn stellten sich an den Steinmann dicht neben die ruhende Last.

»Armes Kind, so fest verschnürt«, sagte Glenn.

»Ich fahre jetzt los«, sagte Xaver, »und bereite drunten alles vor. Und Sie bleiben bei den Leuten, Herr Glenn.«

Der sah auf den schweren, schneebehangenen Packen, ohne zu antworten.

»Der große Griffel«, murmelte Xaver, »das ist das Missing-Link.« Er sprach mehr zu sich selbst.

»Was ist?« fragte der andere. Er stand wie gebannt vor der Last.

»Kein besonderer Unterschied zwischen dem da und uns«, brummte Ragaz. »Kadaver und Kadaverriemen.« Und: »Der große Griffel, zwischen die Dinge schreibend«, brummte er, »mit unsichtbarer Schrift, doch immer gegenwärtig, das ist das Missing-Link.«

Glenn hörte nicht auf ihn. Er hätte ihn wohl auch nicht verstehen können, wenn er hingehört hätte.

Xaver war froh, daß sein Gebrumm überhört worden war, und riß sich zusammen. »Das Wetter schlägt um. Spüren Sie nicht den Föhnwind? Riechen Sie's nicht?«

Glenn schnüffelte gehorsam in die Luft.

»Drum war das Licht auf den Nordwänden so besonders, aha, aha, weil der Himmel heute in der Kippe liegt. Morgen kommt der Föhn und bringt den Tauwind.«

»Meinetwegen«, sagte Glenn. Er roch nichts. Aber es war nicht zu leugnen, daß der Wind sich gedreht hatte. Im Westen konnte man schon die ersten Föhnwölkchen entdecken.

Xaver schnallte seine Bretter an und gab den Trägern ein paar Tips für den Transport durch den Wald, dann fuhr er los.

Im Wettlauf mit dem letzten Licht ging's dahin. Zwischen den Bäumen fuhr er tief in der Hocke und überließ es den Brettern, den Weg in der ausgefahrenen Spur zu suchen. Zweimal stürzte er, aber nicht schlimm. Das letzte Steilstück im Wald – eh die Spur ins freie Gelände führte – war am verwegensten. Er nahm es rodelnd, auf den Brettern sitzend, so kam er am besten auf den Kuhbrunnenhang hinaus. Hier war wieder ein wenig Sicht, man konnte den Endspurt im Schuß machen, freudig hinunterbrausend.

Im Haus brannte schon Licht, im Kinderzimmer und in der Tenne, in der Küche und in der lärchenen Stube. Der Knecht zog gerade den Fuchs aus dem Stall, der Schlitten stand schon vor der Tür. Der Führeraspirant hatte ihnen im Vorbeifahren die Kunde gebracht. Terese war auf dem Posten.

Sie hatte den Kindern bereits ein Märchen vorerzählt, von der fremden Dame, die sich den Knöchel verrenkt hatte und mit den Schlitten abgefahren werden mußte. Und auch dies, daß der Vater die arme Dame vermutlich bis ins Dorf zum Onkel Doktor begleiten mußte. Nur ein bißchen verrenkt war ihr Knöchel, der linke, gar nicht schlimm. In ein paar Tagen kam sie wieder zu Besuch, um mit Barbi zu spielen und mit Lois Slalomkonkurrenz zu machen.

Daraufhin hatte Barbi sofort ihr Album beigeschleppt und noch einmal die zwei fremdländischen Postmarken studiert, den dickköpfigen Onkel in Hellblau, die aufgeregte faltenreiche Tante mit der Fahnenstange in Rosa. Und damit der kaputte Knöchel schneller heilte, gab sie, auf den Rat der Mutter hin, den zwei Marken ein paar feste Küsse. Den Vers hatte sie schon auswendig gelernt. Ganz geschwind konnte sie ihn schon herunterleiern.

»Wenn du einmal als Frau Mama
Im Lehnstuhl sitzt bei Herrn Papa,
Dann denk in deinem großen Glück
An Fanny Purgasser zurück.«

Es war alles in Ordnung. Xaver hatte nichts anderes zu tun, als sich zu ihnen zu setzen, Terese zuzunicken, wie es stand, und zu warten, bis der Knecht ihn rief.


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