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Zehntes Kapitel

Ganz anders war der Herbst von Philipp Glenn. Er war ohne Bedauern von Ladiz geschieden. Meistens litt er unter solchen Abreisen, wo es auch war, wohin es auch ging. Die schwere Sekunde des modernen Nomaden war ihm wohlbekannt: das Todesgefühl tief drinnen im Bauch, wenn das Auto oder das Flugzeug anrollte, wenn die Coupétüren zuflogen und die Zurückgebliebenen Winki-Winki machten. Aber diesmal spürte er nichts davon.

Beim Anfahren des Autos, das ihn und Stettenheimer zur Station brachte, hatte er kein anderes Gefühl, als hätte er sich kräftig ausgeschneuzt. Und als Stettenheimer, der mit ihm bis Berlin fuhr, im Münchner Bahnhof den Trennungsseufzer losließ, schnitt er die Sentimentalität des alten Herrn mit einem kalten, frechen »Gott sei Dank!« ab.

Nein, er war froh, daß er wieder frei war. Er hatte die letzten Tage im Pürschhaus als Zwang empfunden. Er war sich vorgekommen wie ein Schuljunge, der nachsitzen muß.

Im gesellschaftlichen Verkehr mit den Fergus-Gästen hatte er die Note »Kaum genügend«. In der Bewunderung der Alpen die Note »Mangelhaft«. Und in dem Hauptfach »Die neue Männerfreundschaft« war er glatt durchgefallen. Jetzt lag diese blöde Ladizer Schule hinter ihm, Gott sei Dank!

Beim Mittagessen im Speisewagen war er so guter Laune, daß Stettenheimer sagte: »Sie werden natürlich von einer wunderhübschen jungen Dame am Anhalter Bahnhof erwartet, das sieht ein alter Rabbi aus Bremen auf hundert Schritt.«

»Klar«, sagte Glenn und bezauberte seinen Reisegefährten mit einer psychologisch sehr verwickelten Liebesgeschichte, die er ohne viel Nachdenken glatt erfand, dem braven alten Bock zuliebe.

Niemand erwartete ihn am Anhalter Bahnhof. Keine wunderhübsche junge Dame. Kein Freund und kein Kunsthändler. Auch keine alte Mama mit dem brutwarmen Gluckgluckgluck, mit den pekuniären Fragen, mit den frisch gerichteten Socken und Nachthemden. Um einen Einsamen brauste die aufgeregte Stadt.

Ganz mechanisch gab er dem Taxi die Adresse des kleinen Hotels, in dem er immer zu wohnen pflegte, wenn er kein Atelier gemietet hatte. Dorthin hatte er sich auch seine Post bestellt. Aber schon beim ersten Stopp korrigierte er den Fehler und ließ sich in ein Hotel bringen, das er nur dem Namen nach kannte.

Mochte es ein wenig schlechter oder ein wenig teurer sein als das alte! Die Hauptsache war, daß er dort keine Bekannten traf, nicht einmal einen bekannten Portier oder Liftboy. Und die Post sollte liegenbleiben, bis sie gelb war. Er hatte nach dem Abschied von Stettenheimer das Bedürfnis, endgültig allein zu sein.

Wunderbar war die Großstadt, wenn man keine Beziehung zu den einzelnen Menschen mehr hatte. Keine freundschaftliche und keine feindschaftliche Beziehung. Keine gesellschaftliche und keine geschäftliche Beziehung. Keine direkte Geldsorge und kein Telephon. Dann war die kompakte Menge, die sich zwischen den Häuserreihen dahinschob, wie ein uraltes Meer. Jeder einzelne Tropfen dieses großen Menschengewässers steckte zwar voller Dreck und Sorgen, genau wie jeder einzelne Tropfen des wirklichen Ozeans – aber als Ganzes war es eine reine, ewige Masse, von der man sich umspülen lassen konnte wie ein nackter Schwimmer.

Er schlief lang in den Morgen hinein. Er frühstückte im Bett und las dabei die Zeitungen, gedankenlos. Es geschah nur so, als brause es von fernen Klippen herüber – zu einem, welcher döst und hört's und hört's auch wieder nicht.

Natürlich traf er hie und da Bekannte, auf der Straße, in den Kinos, in den Restaurants. Dann sagte er jedesmal das gleiche: »Ich fahr in den nächsten Tagen nach Amerika, verzeihn Sie, leider keine Zeit.« Wenn er sie wiedertraf, wiederholte er es. Es war ihm egal, was sie sich dabei dachten.

Zuweilen fischte er sich einen Bettelmenschen aus der Masse. Ein altes Streichholzweib, einen Blinden mit einem Hund. Er schenkte ihnen ein Fünfmarkstück, schnell, ohne ihr Erstaunen abzuwarten. Bevor sie Dankschön sagten, war er schon dahin und hatte es vergessen.

Nein, keine Liebe, keine gegenseitige Beglückerei! Solang er Geld in seiner Hosentasche hatte, wollte er ihnen davon geben. Jedoch nicht anders, wie man sich die Zähne putzte, solang man noch über eine Bürste und über eine Pasta verfügte. Um Gottes willen nicht mit anderen Gefühlen! Um Gottes willen nichts Soziales mehr! Sobald man sich den Kopf zerbrach, wie man dieser Masse helfen könnte, war man verloren.

Die Menschheitsbeglücker, was für einen Haß strömten sie aus, ihre Gesichter, ihr Gerede, ihre Schriften! Sobald man diese Masse lieben wollte, entwickelte sich ein fürchterlicher Haß, tief in einem drinnen. Sobald man sich um ihre Zukunft sorgte, zertrümmerte man ihnen noch den letzten Rest von Gegenwart, an dem sie hingen. Nein, nein, nicht Liebe und nicht Haß – ein Meer! Und wer die einzelnen Tropfen sammeln wollte in seiner hohlen Hand, der war ein Narr.

Er fühlte, daß er ein böser Mensch war. Ja, im sozialen Sinn war er böse und wollte er böse bleiben. Wer die Masse nicht liebte, war böse – so wenigstens predigte es die Zeit. Aber wer sich zwang, sie zu lieben, der wurde von jenem schrecklichen Haß besessen, den jede aufgezwungene Liebe in sich barg.

Man konnte es an allen Ecken und Enden sehn, wenn man Augen dafür hatte. Wer haßte sich tiefer als zwei Eheleute, wenn sie sich zu einer Liebe zwangen, die nicht da war? Wer war gehässiger als die Pfaffen, welche tauben Ohren Liebe leierten? Die ganze Literatur stank schon gen Himmel von diesem Haß, seitdem sie Menschenliebe propagierte. Nein, nein, viel besser einsam, böse, ganz und gar beziehungslos.

Und schließlich war es besser auch fürs Meer, wenn einer trockenen Auges am Gestade saß und auf die Fluten schaute, als wenn er es mit seiner Tränenflut begoß, gleichzeitig es beschmutzend. Denn wo hat einer schon die Tränen seiner Liebe ausgeweint und schmutzte nicht auch seinen Haß dazu? Seinen Haß nach rechts, wenn er nach links weinte? Seinen Haß nach links, wenn er rechts stand? Seinen Haß aufs Diesseits, wenn er das Jenseits liebte? Seinen Haß auf den Tod, den großen Tod, wenn er mit allzuviel Liebe am Leben hing?

Zwischen sechs und sieben Uhr am Abend war seine beste Stunde. Wenn die Lichter aufflammten, obwohl es noch Tag war. Wenn die Elektrizität gegen die Dämmerung anging wie gegen einen Feind. Wenn die Sonne vor der Zeit verjagt wurde und die Leute zum Geschäftsschluß aufatmeten: »Gott sei Dank, es ist vorüber, die Lichtreklame ist da!« Dann ließ er sich in den Strömungen der Straße hin und her treiben. Wie einer, der auf dem Rücken schwimmt, und das Meer ist voller Salz, so daß es einen trägt, und man braucht sich nicht mit Schwimmbewegungen zu plagen.

Dann, ja dann liebte auch er die Menschen. Aber nicht mit jener Liebe, der christlichen und sozialen, die er abgeworfen hatte wie eine schäbige Badehose. Sondern mit einer neuen nackten Liebe, wie man Wasser liebt, wenn man drin schwimmt. Uraltes Wasser! Kaltes Wasser, und das Nordlicht schien darauf, bleiernes Wasser unter Tropensonnen, Menschenwasser im elektrischen Kanal der Straße.

Indessen, nachdem er mehrere Wochen geschwiegen hatte, kam ihm seine eigene Stimme sehr mißtönend vor. Wenn er mit dem Stubenmädchen oder mit dem Kellner sprach. Oder wenn er auf der Straße den Hut ziehn und »Guten Tag, Herr Doktor« oder »Guten Tag, gnädige Frau« sagen mußte. Seit seiner Kindheit ärgerte er sich über diesen Stimmfehler, über dieses Überschlagen in die Fistel, jetzt aber wurde es ihm allmählich unerträglich, sich selber zu hören.

Er hatte das Gefühl, daß die Kellner ihn auslachten, wenn er seine Bestellungen machte. Als er sich auf seiner Bank Geld abholte und eine längere Besprechung mit dem Schalterbeamten nicht umgehn konnte, hatte er hinterher einen Katzenjammer wie ein Gymnasiast, der zum erstenmal in Gesellschaft ist und glaubt, sich falsch benommen zu haben. Und abgesehn von dieser scheußlichen Stimme: wenn er durch ein Restaurant oder durch ein Café ging, um sich einen Tisch zu suchen, wenn er im Theater seinen Sessel erreichen mußte, von Tag zu Tag wurde er schüchterner.

Es war klar, daß die Menschen sich an ihm rächten. Sie fühlten, daß er nicht der gleiche Tropfen im Meer war wie sie selber. Also glotzten sie ihn an und lachten ihn heimlich aus.

Er nahm sich seinen kleinen Bart ab und zog sich so korrekt wie möglich an. Aber es half nichts. Es lag nicht an der Stimme, es lag nicht am Bart, es lag nicht an den Krawatten. Es schien auf die Dauer unmöglich zu sein, zwischen seinen Volksgenossen als stummer Schwimmer zu leben.

Und wenn seine Lächerlichkeitsgefühle und Schüchternheitsanwandlungen auch unbegründet waren, nichts wie eine neurasthenische Einbildung – irgendeine tiefe Rache der Masse lag doch darin. Anfang November hob er sich eine größere Geldsumme ab und fuhr nach Paris.

Die gleiche Masse, die gleiche Lichtreklame, das gleiche Meer. Aber die fremde Sprache kam seiner Stimme zu gut. Und der Anspruch der Volksgenossen fiel weg. Und die große Liebe und der große Haß, woran sie im Osten drüben herumwürgten, wurde hier entweder in advokatischen Tiraden abgezapft oder in süßen Chansons vertrauert. Man konnte hinhören, wenn man wollte. Doch man konnte auch für sich bleiben, wenn man in der Stimmung des stummen Schwimmers war.

Indessen, Liebe und Tod, Tod und Liebe, die kitschigsten Filme hatten recht, und die raffiniertesten Psychoanalytiker hatten recht, es gab keine andern Triebe. Als er das erstemal hierhergekommen war, nach seiner Bamberger Lehrlingszeit, drei Zwanzigmarkstücke im Brustbeutel, hundert Sous in der Hosentasche, damals hatte er nichts wie Liebe hier gesucht. Jetzt besaß er ein Bankguthaben, mit dem er drei Jahre lang in Passy wohnen und den Snob spielen konnte, dazu einen Namen, aus dem noch immer Kapital zu schlagen war, jetzt war seine Seele dem Tod verfallen. Bestand da ein Zusammenhang? Würde die Liebe wieder zu ihm kommen, wenn er gezwungen wäre, ans Werk zu gehn? Als Maler? Oder, wenn alles schief ging, als Lithograph? Als Arbeitsmann im blauen Kittel wie dereinst?

Aber warum denn? Warum denn den Tod aus der Seele vertreiben, wenn die Zeit gekommen war, ihn bei sich zu haben? Kam nicht alles Unglück der Welt nur daher, daß man sich vor seinen Todesgefühlen scheute und sie verdrängte?

Laßt ihn nur zu euch kommen, wenn er da ist! Tragt ihn nur ruhig mit euch herum, wenn es soweit ist! Er ist stärker als euer Spatzenverstand. Wenn ihr ihn verleugnet, kommt er maskiert zurück zu euch und nistet sich als Feind in euch ein. Dann treibt er euch hin und her, bis ihr nicht mehr wißt, was oben oder unten ist. Wenn ihr mit technischen Mätzchen ihn begaunern wollt, paßt nur mal auf, wie er die technischen Mätzchen gegen euch gebraucht. Nein, nein, komm her, mein Tod, dring ein in meine Seele – was schadet es, wenn man uns böse oder traurig nennt? So lustig wie die Liebesleute sind wir längst.

Es war schön, daß in Paris der Tod und die Liebe so zierlich nebeneinander dahinwallten. Über den Friedhof von Montmartre bummelten die süßesten Hürchen der Welt. Im Luxembourg saßen in der letzten Herbstsonne die ausgelebtesten Greise Europas und Amerikas, längst tot und begraben, wenn sie auch noch die Stehumliegkragen in das Kragenknöpfchen zwängten und sich mit Eau de Cologne beschütteten – und zwischen ihnen spielten zarte Kinder, ganze Scharen kleiner Engel, und wuchsen heran, zu lieben und geliebt zu werden. Und in den Vierteln der Fabrikarbeiter hörte er inmitten neuer amerikanischer Kästen aus Beton noch einmal jenes Zigarettenlied, das die kleine Valentine vor Ewigkeiten gesungen hatte, ja, man behauptete noch immer, der graue Tabak schmeckte wie das ganze Menschenleben: » De sang, d'amour et de dégoût dans la bouche.«

Es war ein bißchen lächerlich, das alles zusammen. Es steckte ja auch schon alles voller Amerikaner und Japaner, Russen und Deutscher und Engländer, die dieses altmodische Geträller von Tod und Liebe und Liebe und Tod verhöhnten. Und er selber, er schwamm ja auch nur als Fremdling dazwischen dahin, ohne mitzuträllern. Aber es tat gut, die Luft dieser Trällerer eine Zeitlang zu atmen. Es geisterten keine neuen Götter in dieser Luft herum, wie in der Luft am Mississippi, wie in der Luft überm Rhein, wie in der Luft über der Wolga – doch dafür war die Luft hier wenigstens auch noch von Teufeln und Gespenstern frei, trotz dieser vielen Fremden aus den Götter-und-Gespensterländern.

Da er fast jeden Abend das gleiche Abendessen aß – auch dies war ein wenig lächerlich, doch auch dies paßte zu der neuen Gelassenheit, die er hier fand – Austern und Hammelkoteletten und pommes frites und Tee –, so aß er natürlich auch an jenem Abend wieder Austern und Hammelkoteletten und pommes frites zu seiner Portion Tee, als er Fanny Purgasser traf. Er war gerade bei seiner letzten Auster angelangt, an einem kleinen Tisch mitten im banalen Getöse der Coupole, als er sie an einem der nächsten Tische entdeckte.

Offenbar hatte sie ihm die ganze Zeit zugeschaut. Offenbar hatte sie bemerkt, mit welcher Andacht er die Austern löste und beträufelte und zerschmelzen ließ. Denn sie lachte ihn aus, das war das erste, was er fühlte.

Er ging zu ihr und begrüßte sie.

»Glenn!« Sie gab ihm freudig die Hand. »Was tun denn Sie hier, in diesem Affentheater?«

» On revient toujours – sagte er stumpf und ließ sich dem Kavalier vorstellen, der bei ihr saß. Es war ein junger Engländer, der ausgezeichnet Deutsch sprach.

Da ihr Tischchen zu klein war, versprach er, nach seinen Hammelkoteletten und pommes frites zurückzukommen, und ging schnell an seinen Platz zurück.

Die Fanny Purgasser! Immer wieder stieß man auf die alten Menschen. Vor einigen Tagen hatte er in dem gleichen Lokal einen früheren Freund getroffen, einen jungen Hochschullehrer aus Mitteldeutschland. Der war in den fünf, sechs Jahren, seitdem sie sich aus den Augen verloren hatten, vollkommen verblödet. Er hatte sofort eine Lüge bei der Hand gehabt, um sich vor der großen Seelenausschütterei, die gedroht hatte, zu retten. Sollte er sich jetzt von dieser Ziege, die er zum letztenmal gesehn hatte, als sie noch nicht zwanzig war – vor elf, zwölf Jahren – von ihrem Leben in der Zwischenzeit hatte er nicht die geringste Ahnung – gut angezogen war sie – einfach und nett – und der junge Oxfordboy war vermutlich ihr Liebhaber –, sollte er sich jetzt von ihr aus seinem tiefen Traum reißen lassen?

Er stocherte an seinem Hammel herum und überlegte sich eine Ausrede. Gleichzeitig ärgerte er sich, daß er das Fleisch ungeschickt tranchierte, weil er sich beobachtet fühlte. Die alten Schüchternheitsgefühle aus Berlin! Die Befangenheit, wenn man zwei Monate lang nur mit sich selber zusammen gewesen war! So hatte Robinson auf seinem Teller herumgestochert, als er auf dem Schiff, das ihn von seiner Insel forttrug, sein erstes Hammelkotelett mit pommes frites gegessen hatte. Nein, es war ein ganz gutes Training, einmal wieder ein paar Stunden mit einem Menschen zu reden, ganz egal, wer es war. Sollte es so sein!

Was ihn gleich in den ersten zehn Minuten mit diesem Reinfall versöhnte, war ihre wache Art. Sie war nicht besonders hübsch, das dicke semmelblonde Haar, die vielen kindlichen Fältchen, wenn sie lachte, die energischen Schultern, an denen jeder Pariser Kellner von weitem erkennen mußte, daß sie eine Deutsche war – aber sie war in einer sehr angenehmen Weise wach. Und zwar war es nicht die aufgeregte Wachheit der üblichen Großstadtmädchen, die keine Sensation versäumen wollten – nein, es war die Wachheit eines Tieres, welches witterte. Ein waches, witterndes Wölfchen, sehr nett. Und daß sie noch immer schwäbelte, obwohl sie schon seit fünf Jahren als Journalistin in der großen Welt herumvagabundierte, war auch ganz nett.

In seiner inquisitorischen Art überfiel er sie sofort mit lauter kurzen scharfen Fragen nach ihrem Leben. Haben Sie Geld? Verheiratet? Anderweitig liiert? Ist der Beruf einer Journalistin schön? Keine Sehnsucht nach Windbach? – Das war der kleine Ort, wo er sie kennengelernt hatte, er hatte einen Sommer lang dort Landschaften gemalt, sie war die Tochter des Windbacher Pfarrers, er wußte ganz genau, daß er der erste Mensch aus der großen Welt war, den sie gesehn hatte, und er wußte auch, daß er damals einen großen Eindruck auf sie gemacht hatte, vielleicht war es seine Schuld, daß sie jetzt Reiseberichte und Kunstberichte schrieb, statt Pfarrerbabys zu pudern und zu wickeln.

Sie ging auf alle seine Fragen ein. Wie ein Kind in der Klasse. Der junge Engländer amüsierte sich über dieses eindringliche Hin und Her. Aber als dann die Purgasser zu fragen begann, versagte das Spiel. Glenn revanchierte sich schlecht für ihre Offenheit. Seine Erlebnisse in der Zwischenzeit wären langweilig und nichtig gewesen, knurrte er. Er sagte es so unhöflich, daß das Gespräch ganze fünf Minuten lang abbrach, und das war in dem hysterischen Lärm der Coupole eine lange Zeit.

»Wissen Sie, an wen Sie mich erinnern?« sagte der Engländer.

Er hieß Richard Wessel und war Journalist wie die Purgasser. Trotz seiner Jugend schien er eine große Nummer bei den Zeitungen zu sein. Denn wenn von beruflichen Dingen die Rede war, sprach sie mit ihm wie mit einer Autorität. Aber seine Geliebte schien sie nicht zu sein.

»Sie erinnern mich an einen russischen Freund«, sagte er, »an einen Rotarmisten. Dem sehn Sie sehr ähnlich. Ich hab ihn bei Budjonny getroffen, bei der Roten Kavallerie.«

»Sehr schmeichelhaft«, sagte Glenn.

»O bitte, warum?« sagte Wessel. »Er war ein sehr böser Mensch, er hat zum Schluß einen Bauchschuß von den Polacken bekommen, und zwar mit Recht.«

Die Purgasser und Glenn lachten los.

»Ein sehr lieber Freund von mir«, verbesserte sich Wessel.

Sie bestellten sich Wein und fühlten sich alle drei sehr wohl. Sowohl die Purgasser wie der Engländer gefielen Glenn. Freie und saubere Menschen, wie er sie lange nicht mehr getroffen hatte. Richtige junge Garde. Er erzählte ihnen, wie er in den letzten Monaten gelebt hatte, ohne sich dieser Vertrautheit zu schämen. Er sprach mit ihnen über den Haufen Japaner, der an den zusammengeschobenen Nebentischen saß, Studenten, Maler, Snobs, und wie bedrohlich sie wirkten. Er zeigte ihnen, daß die Lippen der Menschen zuerst abstürben, der herrliche Menschenmund, wenn man den Tod in sich trug, ohne sich mit ihm auseinanderzusetzen, die göttliche rote Öffnung, wenn man seinen Tod verleugnete, statt mit ihm zu tanzen.

Die armen Lippen von Montparnasse! So süß und lieblich einst, als er von Bamberg gekommen war – jetzt so hart und pervers, bei Mann und Weib, nur noch ein wunder, verwesender Strich.

Zuviel Wille! Zuviel Wille zum Erfolg und zur Liebe, nichts wie leerer Wille lag in allen diesen armen Lippen ringsum! Zusammengekrampft von oben nach unten – vom Willen zur Macht. Auseinander gepreßt nach beiden Seiten – vom Willen zum keep-smiling. Aufeinander gepreßt zum Ruß – von keinem andern Trieb getrieben als vom Willen zu küssen. Immer nur ein Mund des Willens statt ein Mund der Seele. Wo war er noch zu finden, der Mund der Nefretete, der über Tod und Leben gleich hinlächelnde wahre Menschenmund?

Richard Wessel mußte sich mitten in diesem interessanten Gespräch verabschieden. Es tat ihm offenbar ehrlich leid, aber er mußte noch zu einer dringenden beruflichen Verabredung. Glenn blieb mit der Purgasser allein.

»Er ist eine Kanone«, erzählte sie. »Er schreibt hinreißende Reportagen, wir haben in Deutschland keinen solchen Kerl.«

»Er ist ein netter Mensch«, sagte Glenn.

»Nein, er ist mehr«, sagte sie mit einer Bestimmtheit, wie sie vermutlich seit Jahrhunderten von keinem Mädchen aus Windbach mehr aufgebracht worden war. »Wir deutschen Journalisten sind Affen. Entweder wir benutzen unsere Reportagen, um mit unserer Seele oder mit unsrer feinen Wäsche zu renommieren. Oder wir tun so sachlich, daß der Leser bei jedem Satz eins hinter die Ohren bekommt: ›Guck mal, wie objektiv!‹ Wir können alle zu Wessel in die Schule gehn, obwohl er noch nicht dreißig ist.«

»Um Gottes willen, schicken Sie die Deutschen nicht noch länger in die Schule«, sagte Glenn, »Wir sitzen seit der Reformation auf der Schulbank und lernen und lernen. Ihr Vater hat altdeutsche Seele gelernt – Sie lernen neudeutsche Seelenlosigkeit – das ist kein so großer Unterschied, wie Sie glauben.«

Sie wurde rot. »Und Sie wollen lernen, recht bös und giftig zu sein«, sagte sie wütend.

»Richtig«, sagte er lachend.

»Und wie ist das Zeugnis?« fragte sie in hartem jüngferlichem Ton. »Sind Sie versetzt worden? Dürfen Sie in die nächste Klasse aufsteigen?«

»Nein, ich bin freiwillig sitzengeblieben. Ich bleib gern noch ein Jahr in der bösen Klasse sitzen.«

»Ach was!« sagte sie und runzelte die Stirn in nachdenkliche Fältchen. »Die einen sagen, das Leben ist eine Schule – die andern sagen, das Leben ist ein Traum – und zum Schluß hat Richard Wessel recht.«

»Was sagt denn der?«

»Der sagt, das Leben ist das Leben.«

»Sehr geistreich.«

»Immer noch das geistreichste«, sagte sie trotzig. »Sie glauben, Sie haben den Tod gepachtet? Weil Sie monatelang einsam durch die Straßen stolpern und kein Wort reden? Lassen Sie sich doch mal von Richard Wessel erzählen, wie der Tod aussieht. Mit siebzehn Jahren war der im Weltkrieg, mit neunzehn bei der Oktoberrevolution in Rußland, ein Jahr war er bei Tschang-Kai-Tschek – bei dem letzten Krawall in Mexiko war er selbstverständlich auch – der weiß Bescheid.«

»Und hat von überallher glänzende Berichte an seine Zeitungen geschickt?« sagte Glenn spöttisch. »Herrliche Reportagen über die vielen Toten? Mit einem leisen Bedauern angerührt, mit Pazifismus gut durchgebacken, mit ein bißchen Wirtschaftsinteressenzucker bestreut? Aber sehr gut geschrieben? Na, das ist ja die Hauptsache, daß die Berichte über den Tod gut geschrieben sind.«

Sie antwortete nicht.

»Sie haben ganz recht«, sagte er boshaft. »Als Journalistin wissen Sie das besser als ich.«

Das Lokal wurde jetzt voller und voller. Es war Theaterschluß. Alle Bänke und Stühle waren besetzt. Von den Eingängen her schob sich eine beängstigende Masse herein. Alle Hautfarben und alle Haarfarben des Planeten tauchten auf. In allen Sprachen des Menschengeistes wurde geredet, gelacht, gestritten, gehandelt, politisiert, philosophiert. Lauter Christusse, Napoleons, Lenins, Rembrandts. Lauter Buddhas, Goethes, Rockefellers, Kleopatras, Robinsons. Lauter Priesterinnen aus der Südsee, aus Manhattan, aus Chemnitz. Alles war da.

»Sehn Sie«, sagte Glenn, »das ist der Unterschied zwischen einem Journalisten und einem Maler: Sie sehn hier eine wunderbare Buntheit und hören hier das sogenannte internationale Stimmengewirr – ich sehe nur eine Uniform hier, eine einzige Uniform, und höre nur ein einziges schreckliches Kommando.«

»Ich muß gehn«, sagte sie, ohne darauf einzugehn. »Ich muß morgen schon früh an die Arbeit.«

»Was denn?«

»Betteln«, sagte sie schnippisch.

»Wieso?«

»Ach, es ist einer von den Herren von dem Zeitungstrust da, für den ich arbeite. Ich muß mir einen neuen Auftrag zusammenbetteln. Einen Reisebericht oder so was Ähnliches.«

»Oh«, sagte er teilnahmsvoll.

Er begleitete sie. Sie gingen zu Fuß. Sie wohnte, keine zehn Minuten weit, in einem kleinen Familienhotel auf dem Boulevard. Schweigend schlenkerten sie auf dem regennassen Trottoir dahin.

»Ich muß Ihnen doch noch mein Kompliment machen«, sagte er vor ihrer Hoteltür. »Sie haben die Strecke von Windbach bis hierher mit Bravour zurückgelegt.«

»Ich kann Ihr Kompliment erwidern«, sagte sie. Es war wieder der jüngferliche Ton. Sicher war sie noch unberührt, schoß es ihm durch den Kopf. »Es tut mir leid, daß ich Sie verrissen habe.«

»Was?« Er war ehrlich erstaunt. »Haben Sie über mich geschrieben? Haben Sie mich verrissen?«

»Wissen Sie es nicht?« Sie lachte herzlich. »Ich dachte, Sie sind deshalb den ganzen Abend so wild? Weil Sie gelesen haben, was ich in dem Artikel über meine Überfahrt nach Amerika geschrieben habe? Ich hab doch Ihre Bilder auf dem Dampfer schwer verrissen.«

»Echt!« sagte er vergnügt. »Eine richtige Journalistin! Erst glauben Sie, Sie müssen meine Bilder verreißen, weil Sie mich kennen, damit es nur recht objektiv aussieht – und dann glauben Sie auch noch, ich muß es gelesen und mich geärgert haben.«

»Ja, es war wirklich dumm, daß ich das den ganzen Abend gedacht habe – aber der Verriß war trotzdem in Ordnung.«

»Sicher«, sagte Glenn. »Es war eine Sache fürs Geld. Eine richtige ockergelbe Schmiererei.«

»Schade drum«, sagte sie leise.

»Worum?« fragte er eindringlich.

»Gutnacht«, sagte sie und gab ihm die Hand.

Es war nicht die geringste erotische Spannung zwischen ihnen zu spüren. Trotz seiner schweren langen Einsamkeit, trotz ihres frischen jungfräulichen Fleisches, trotz des seltsamen Zusammentreffens.

Er spürte nichts, sie spürte nichts. Und er wußte, daß sie nichts spürte, und sie wußte, daß er nichts spürte. Aber gerade das war's, was ihnen beiden paßte.

Sie verabredeten sich für den nächsten Tag zu einem Bummel. Sie trafen sich danach noch oft.


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