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Achtzehntes Kapitel

Ein ganz schwacher Schimmer drang durch die Luke im Schindeldach, als Xaver aufwachte. War's noch der Mond, oder kam schon der Tag? Er war sofort wach, überwach. Totenstill war's im Haus. Er war der erste.

Wenn man den Atem anhielt, konnte man allerdings noch andere Dinge hören als den eigenen Pulsschlag. Auf dem Heuboden knabberte eine Maus herum. Der Bach rauschte sein Nachtrauschen herauf. Und das fremde Geschöpf neben einem seufzte zu jedem sechsten oder siebenten Atemzug einen kleinen Seufzer, satt, sanft, lieblich, doch verzweifelt im Grund.

Er schlich sich aus dem Bett. Seine braune Khakihose hing an einem Nagel an der Wand, die hatte er schnell gefunden. Aber wo war sein Hemd? Den Schrank zu öffnen, um ein frisches Hemd zu holen, wagte er nicht, es war ein knarrender Kasten. Wo war sein gestriges Hemd?

Er griff in den kleinen Haufen Wäsche und Kleider, der auf dem Stuhl lag, schwach durch das Dunkel leuchtend. Nein, es war lauter seidenweicher Weiberstoff, rührendes beschämendes Zeug, lebendiger in seiner Abgestreiftheit als am Körper, aber ein Männerhemd aus rohem Leinen war nicht dabei.

Er suchte nicht länger. Er hing die ledernen Hosenriemen, die er am Nagel an der Wand schnell gefunden hatte, über die bloße Haut und stahl sich barfuß aus der Kammer. Tritt für Tritt die Leiter hinunter, leis wie eine Katze durch das schwarze Parterre, an Glenns und Emmis stummer Kammer vorbei, vors Haus.

Ja, es war schon die erste Dämmerung, die allererste. Die Nordwände waren schon zu sehn. Vorerst noch drohende Schatten ohne festen Umriß, jedoch bereits von den verblassenden Sternbildern zurückgegeben an den Tag. Die Kühe auf dem Almboden drunten lagen noch. Wenn's hie und da ein wenig läutete, geschah's noch im Traum.

Er schrak zusammen, als plötzlich jemand neben ihm stand und mit einem festen Griff seinen Oberarm packte. Es war Glenn. Auch er war mit der allerersten Dämmerung wach geworden. »Ich hab Sie gehört, wie Sie die Treppe runter sind«, flüsterte er. Er war bereits in den Schuhen und ganz angezogen. Er hatte mit seinem Hemd und seiner Hose mehr Glück gehabt als Xaver. Sie ließen die Tür offenstehen und gingen ein Stück den Almboden hinunter. Xaver machte hie und da »Au!« oder fluchte einen von seinen krassen bayrischen Flüchen, wenn er mit den bloßen Füßen auf einen Stein trat. Dann meckerte Glenn sein kleines giftiges Meckern.

Kurz vor der neuen Alm setzten sie sich nieder. Dicht nebeneinander. Auf einen platten Stein, der neben dem Bachbett lag wie ein wartender Sessel. Hier waren sie außer Hörweite. Und auch der Senn in der neuen Alm schien noch zu schlafen. Nur eine einzelne Kuh, auf der andern Seite des Bachs, drehte den Kopf und schaute sie an. Aber sie erhob sich nicht und muhte nicht, sie schaute nur unverwandt zu ihnen herüber, mit offenen Augen weiterträumend.

»Morgen«, sagte Glenn und deutete auf die Nordwände.

»Guten Morgen«, sagte Xaver, der ihn mißverstanden hatte.

»Morgen um diese Zeit geht's los«, wiederholte Glenn und deutete noch einmal auf die Wände, die jetzt bereits deutlich zu sehn waren. In der Mitte der Zinkenwand schwebte ein kleines Wölkchen von aufgestiegenem Bodennebel, aber das war nur ein gutes Zeichen fürs Wetter, es lag ein bombensicherer Hochdruck über den Alpen.

»Ach ja«, sagte Xaver, »wenn uns die Weiber nur nicht zu stark ausgelaugt haben?«

»Unsinn«, sagte Glenn. »Um sechs Uhr wecken wir sie, sie müssen unbedingt den Morgenzug erwischen, haben sie gesagt. Dann sind sie weg. Und wir tun den ganzen Tag nichts wie fressen und schlafen, dann sind wir morgen frischer als je. Paß mal auf, doppelt so frisch als zuvor werden wir sein.«

»Mag schon sein«, brummte Xaver.

»War's nicht schön?« fragte Glenn.

»O ja«, sagte Xaver.

»Katzenjammer?«

»Halb und halb, wie man's nimmt.«

»Natürlich halb und halb, fifty to fifty, was willst du mehr«, rief Glenn. »Es ist doch verrückt, daß immer gleich der Himmel einstürzen und die Erde in Scherben gehn soll wegen Fräulein Emmi und Fräulein Lena. Zwei brave süße Kerlchen, das genügt.«

»Richtig«, sagte Xaver.

»Oder? War's nicht der Mühe wert?«

»Doch, doch, wunderschön«, sagte Xaver schnell.

»Ich trau dir nicht recht«, sagte Glenn. »Ich hab das Gefühl, ich hab nun doch noch deine lärchene Arche Noah angezündet? Oder? Ich hab dich zu etwas Falschem verführt? Ich bin nun doch noch der Brandstifter geworden, wie ich's seinerzeit prophezeit hab? Was?«

»Ein blöder Affe bist du, nichts weiter«, sagte Xaver. »Was soll denn dieser ewige Quatsch über die Weiber, ob's Fräulein Lena oder Fräulein Emmi ist, oder meinetwegen auch Frau Terese oder Fräulein Purgasser? Die Weiber sind die einfachste Sache von der Welt, der ganze Zimt kommt nur von uns Männern. Die Weiber selbst sind alle miteinander genau so problematisch, wie wir sie haben wollen.«

»So ist es«, lenkte Glenn schnell ein. »Lauter brave süße Kerlchen. Nur wir selber machen ein Problem daraus, weil wir keine andern Probleme mehr haben. Nein, von den Weibern aus gibt's gar kein Weiberproblem, das kommt alles nur von uns, ganz richtig. Erst machen wir Göttinnen aus ihnen, dann kehren wir plötzlich das Vorzeichen um und machen sie zu lauter Huren, einmal spielen wir ihre gestrengen Großpapas und einmal ihre gehorsamen Boys – das ist doch Wahnsinn, nicht?«

»Natürlich, das existiert gar nicht in Wirklichkeit, ob du's so oder so nimmst.«

»Schluß damit«, sagte Glenn, »was war denn das für ein Tier? Horch!« Von dem kleinen Gehölz, das im Talgrund lag, drang ein schrilles Bellen heraus. »Ein Hund? Oder ein Rehkalb?«

»Still«, sagte Xaver und lauschte. »Das ist ein Fuchs.«

Sie horchten mit angehaltenem Atem auf das ferne Bellen. Dreimal kam es noch, gellend und kurz, dann war es vorbei.

»Der Fuchs ist das schönste Tier Europas«, sagte Xaver, »Wenn wir einmal ein Tier brauchen, als Symbol, als das Tier für den europäischen Orpheus, dann nehmen wir den Fuchs.«

»Wirklich?«

»Jawohl. Der da drunten hat jetzt ein kleines Rehkitz angefallen und ihm das Blut ausgesoffen. Das hör ich an seinem besoffenen Bellen.«

»Pfui Teufel!«

»Macht nichts, muß sein, ein wunderbares Tier! Schau dir's an und mal ein Bild davon, du kannst außer einem Menschen nichts Herrlicheres zum Malen finden auf der Welt.«

»Warum? Erzähl!«

»Er lebt in Familien, das weißt du wohl. Er sorgt patent für seine Familie, das ist aber nicht alles. Er hat einen Überschuß an Leben darüber hinaus, über die Familie hinaus, über das Fressen und das Ranzen mit der Füchsin und die Kleinen hinaus. Daß er schlau ist, weiß jedes Kind, aber richtig schlau ist er erst, wenn es sich um seinen Überschuß handelt. Der da drunten zum Beispiel, der steht jetzt jenseits seiner Familie, im Überschuß! Der ist jetzt besoffen. Der rührt das tote Kitz nicht mehr an, wenn er sein Blut in sich hat. Der schleppt es nicht in seinen Bau, der geht jetzt nicht mit der Beute zu seiner Alten und zu den Kleinen. Der ist jetzt im Überschuß, der bellt jetzt einfach die Sonne an, der steht jetzt ohne jede Deckung vor dem Gehölz und bellt zur Sonne: ›wir zwei besoffenen Männer, du Sonne und ich, hahaha!‹, gar nichts anderes. Dabei ist er aber so schlau, daß ihn der Jäger während dieser Überschußtrunkenheit am allerwenigsten kriegt.«

»Ich werd ihn malen«, sagte Glenn.

»Ich hab im letzten Frühjahr einen geschossen«, sagte Xaver. »Traurig, aber es mußte sein. Er hatte Terese die schönsten Enten und Hühner vor der Nase weggeholt. Aber wenn du ihn malen willst, mußt du auch wissen, wie er stirbt. Jetzt bellt er, weil er besoffen ist und weil die Sonne kommt, aber wenn er stirbt, da bellt er nicht, da klagt er nicht, da kommt erst seine mitternächtliche Seele richtig zum Vorschein. Der meine hatte einen guten Schuß, da ist er mit gesenkter Rute davongehuscht, ins Dickicht hinein, hat sich versteckt und keinen einzigen Laut gegeben. Da kriecht er dann ganz in seine mitternächtliche Seele hinein und läßt die Mitternacht um sich sein wie einen sicheren schwarzen Prunkmantel, ohne Weh, ohne Klage, bis es soweit ist.«

»Schön«, sagte Glenn, »ich werd ihn malen.«

»Stell dir vor, wie die Menschen sterben, die Pferde und die Kälber und die Hunde, dieser Krampf. Bis zum letzten Atemzug wollen sie nichts wissen von ihrer Mitternacht – lassen sich hineinzerren in die Mitternacht, als wäre die Schöpfung eine Metzgerbank – dieses Gewimmer, dieses Geschrei, dieses Getu – nein, man sollte sterben wie ein Fuchs, selber eine stumme Mitternacht, das wär noch ein schönes Gelübde.«

»Gut«, sagte Glenn und reichte ihm die Hand. Dann brach er aber schnell die füchserne Stimmung ab und stand auf und dehnte sich und streckte sich. »Diese Weiber!« sagte er gähnend. »Jetzt müssen wir sie bald wecken.«

»Keine Rede«, sagte Xaver, »jetzt ist's noch nicht vier Uhr.«

»Wirklich? Mir kommt's viel später vor.«

»Weil du ein unverbesserlicher Städter bist und den Morgen dieser Erde noch immer nicht kennst«, sagte Xaver, sprang mit einem Satz auf und fing die Ziege ein, die während der Fuchspredigt zu ihnen hingeweidet war, neugierig schnuppernd, mit erstaunten Glotzaugen.

Blitzschnell hatte er sich umgedreht und sie beim Schwanz gepackt, während sie meckernd Reißaus nehmen wollte. Er untersuchte ihr Euter. »Milch hast du ja drinnen, du«, sagte er, »aber Zitzen hast du keine.« Es waren ganz kurze Zitzen, schwer zum Melken. »Nein, das ist nichts für mich«, sagte er und ließ sie wieder los, nachdem er einen kleinen Strahl Milch auf den Erdboden gespritzt hatte. Er leckte sich die Hand ab, und: »Wir wollen uns eine melken«, sagte er, »wart mal hier, der Senn ist schon auf –«

Glenn blieb auf dem Stein sitzen, während Xaver zur Alm ging, um den Sennen guten Morgen zu sagen und einen Melkkübel zu borgen. Die Geräusche des alpinen Tags huben an. Die Kühe stelzten sich hoch und muhten, in der Hütte schrie der Senn seinem Hüterbuben einen Fluch zu, die lustigen Glöckchen der Ziegen schellten bereits über die höchsten Grashalden dahin.

Xaver kam mit einem Kübel und einer kleinen weißen Ziege, die er am Glockenband führte, zurück. Sie meckerte jämmerlich, aber als sie seine Finger am Euter fühlte, wurde sie still und glotzte fromm geradeaus. Sie hatte praktische lange Zitzen. Einen guten Liter schäumender Milch brachte er heraus, seinen Kopf an ihrem Fell reibend, mit einigen liebevollen Schimpfworten sie ermahnend. Dann gab er ihr einen dankbaren Klaps aufs leere Euter und ließ sie laufen.

Sie tranken den warmen Trank. Man schmeckte die Kräuter der Alpen darin. Danach brachten sie gemeinsam den Kübel zur Hütte zurück. Es war noch eine gute Stunde Zeit, ehe die Mädchen geweckt werden mußten. Und der Senn hatte sie zum Kaffee eingeladen, er war ein guter Freund von Xaver.

Das war ein alter Mann, welcher Lukas hieß. Wie er mit seinem Nachnamen hieß, wußte Xaver nicht, obwohl er ihn seit Kindheit kannte. Man nannte ihn Lukas oder Luckel – oft auch, zur Unterscheidung von irgendeinem andern Lukas, den Plonerlukas, nach den Plonerbauern, bei denen er seit Jahrzehnten im Dienst war. Er wußte vermutlich selber nicht mehr, wie sein anderer Name war.

Auch sein Alter war schwer aus ihm herauszubringen. Wenn man ihn nach seinem Geburtsdatum fragte, wich er mit irgendeiner spaßigen Antwort aus. »Mein Gott, das ist lang her, lieber Herr. Das war in dem Jahr, als die Menschen noch gar keinen Nabel am Bauch gehabt haben. Gleich danach ist er ja dann erfunden worden, der Nabel, von den Preußen natürlich, jetzt können Sie sich selber ausrechnen, lieber Herr, wann das war.«

Dagegen war er gern bereit, die Methode zu verraten, wie man während der vier Almmonate mit zwei Hemden auskam, ohne diese Hemden ein einziges Mal zu waschen, und wie man dabei doch immer wieder ein frisches Hemd zur Verfügung hatte. Man trug das erste Hemd einen Tag, dann das zweite zwei Tage, dann war das erste bereits frischer, das trug man dann vier Tage, jetzt war das zweite wieder frischer, das trug man jetzt acht Tage, da war das erste wieder frischer, das trug man jetzt zwei Wochen lang, da war abermals das zweite Hemd frischer, worauf man dieses vier Wochen trug, nach deren Verlauf das andere wieder ganz von selbst das frischere geworden war, welch letzteres man nun platterdings acht Wochen tragen konnte, so daß man schließlich im Herbst, zum Abtrieb ins Tal – im Namen des Sohnes und des Vaters und des Heiligen Geistes – das andere Hemd als das frischere anziehn konnte, festlich damit geschmückt, wie's sich zum Abtrieb ziemte.

Und wenn auch sonst nichts dran war, an diesem ungewaschenen Kerl mit dem verfilzten grauen Schopf, als daß er sein geflecktes Vieh seit Ewigkeiten tadellos im Schwung hielt und es so halten würde, bis ihm ein milder Tod den Melkkübel aus den steifen Fingern nahm: liederbegabt und liederkundig war er wie keiner sonst ringsum. In Hunderten von Liedern wußte er das Almleben zu besingen, sein eigenes Sennenleben und das Leben seines Viehs. Was er als Bub von den Alten aufgeschnappt hatte und was er selbst dazugedichtet hatte, war mit der Zeit zu einem brausenden Repertoire vermischt worden und längst nicht mehr auseinanderzuhalten.

Von dem Kuckuckslied behauptete er allerdings ganz bestimmt, daß es ganz und gar von ihm selber stammte. Da lauschte ein Senn auf den Kuckuck – und der Kuckuck wollte ihn verführen, auch ein Kuckuck zu werden – weil nämlich das Kuckucksleben weitaus schöner wäre als das Menschenleben – aber der Refrain, welcher die menschliche Antwort gab, hieß immer wieder:

»Warum soll ich mich verwandeln? Nein!
Kann ich doch mit Menschenstimmen schrein!«

Einmal hatten sie ihn sogar überredet, zu einem großen Sängerwettstreit zu reisen und die Konkurrenz mit andern alpinen Sängern aufzunehmen. Der Veranstalter dieses Festes war selber zu ihm gekommen und hatte ihm die Einladung überbracht. Das war ein wahrer Musikant der Alpen gewesen wie er selber, einer der letzten Liederkenner wie er selber, der hatte ihn in seiner einsamen Größe entdeckt und war sein Freund geworden, ein richtiger Freund, der Lichtblick seines langen Erdenwallens. Aber dann? Auf dem Sängerfest? Als er im festlich überfüllten Saal sein bestes Stück gesungen hatte, das uralte Lied vom Gras, das immer wieder wuchs, was auch die Menschenkinder dagegen unternahmen? O jemine! Es war ein gewaltiger Durchfall geworden. Ja, es hatten ihn außer jenem Freund auch noch ein paar andere Menschen in dem Riesensaal erkannt, ein paar Outsider, die hatten ihn erkannt, jawohl, geehrt und gepriesen, auch eine silberne Uhr hatte man ihm als Trostpreis geschenkt, dennoch war's ein schlimmer Durchfall gewesen. Die Preisrichter waren städtische Volkstümler gewesen – Professoren, die berufsmäßig die Seele des Volkes befingerten – Radiomenschen, die den Wettstreit finanzierten, um ihn mittels ihrer mörderischen Wellen ins Flachland zu senden – sein Freund hatte vergebens gegen diese Preisrichter gekämpft, um ihn zu krönen: er war verlacht und weggeschickt worden. Mit dem hoffnungslosen Lächeln des Fachmanns, das die Epoche beherrschte, hatten sie ihn entlassen. Die Erinnerung an den Freund und die silberne Uhr, das war alles, was dem letzten Sänger der Alpen von dieser Expedition verblieben war. Und seitdem war er wieder anonym, inmitten seines gefleckten Viehs.

Xaver kannte diese Geschichte. Er kannte auch die zwei, drei Weibergeschichten, die dem mönchischen Mann in seiner Jugend passiert waren. Ein grimmiger Weiberfeind war das. Schreckliche Lieder gegen die Weiber wußte er, vor allem gegen die alten Weiber. Zuweilen sang er liebliche Nachtigallen- und Balzgesänge, schmachtende Jodler zum Preis der jungen Almerinnen, ihres festen Fleischs, ihrer strahlenden Augen – aber seine wahre Natur kam erst in seinen Altenweibernliedern zum Vorschein. Dann konnte er einem andern Mann wirklich beweisen, daß es die einzige Todsünde der Männer wäre, daß sie die alten Weiber am Leben ließen.

Indessen, heute früh fing er mit etwas anderem an. Denn natürlich sang er auch jetzt gleich wieder los, den Kälbertrank über der Feuerstelle rührend, während die zwei Freunde sich über den heißen Kaffee hermachten, den er ihnen servierte – auch ein paar Nudeln setzte er ihnen vor, ziemlich altbacken, aber wenn man sie eintunkte, wurden sie wieder weich – und auch eine Zigarette war da, für Glenn, der bereits ganz schwindlig vor Zigarettenhunger war, nach der langen Liebesnacht. Heute ging es denn gleich mit dem Lied vom Gaismelken los. Er behauptete, er habe beobachtet, wie Xaver die kleine weiße Ziege gemolken habe, aber es wäre eine üble Stümperei gewesen. Also sang er, um ihn zu verspotten, die alte Elegie vom Gaismelken.

Doch Xaver parierte den Spott, indem er sofort mitsang, die zweite Stimme. Er kannte die Geschichte und war darauf trainiert, in der Terz mitzusingen. Es war eine Litanei, die monoton heruntergeleiert werden mußte, eine richtige Kirchenlitanei. Jede Strophe wurde auf einem einzigen Ton ausgehalten, und in der Quart ging's dann hinauf und hinunter zwischen den einzelnen Strophen.

Um aber auch Glenn an dem Spott zu beteiligen, übersetzten sie ihm den Text in die Glennsche Sprache. Tatsächlich konnte er ja auch nicht alle Worte verstehn, aber sie übersetzten es ihm so, als wäre er ein Idiot, und brachten ihn auf diese Weise allmählich in helle Wut.

»Die Schneiderin ist krank,
sie liegt auf der Bank –
Mo, heut mußt kocha und Goasmelka geh,
wennst siehst, daß i ka auf kein Fuß nimmer steh,
Mo, heut mußt kocha und Goasmelka geh,
wennst siehst, daß i ka auf kein Fuß nimmer steh –«

Und hier schrie Xaver: »Das alte Mannequin ist nicht wohl, n'est ce pas? Es bittet daher seinen Darling, heute die Zicklein zu melken, verstanden?« und: »Halt's Maul!« rief Glenn, aber der Lukas sang bereits wieder:

»Melka kann i schooooo,
Aber kocha weißt daß i nit kooooo –
Der Mo nimmt sein Sechter und rumpelt davo,
Der Mo nimmt sein Sechter und rumpelt davo –«

Und: »Der Darling geht darauf ein, soweit es das Melken betrifft«, übersetzte Xaver, und: »Sechter«, rief der Lukas dazwischen, »das ist ein Töpfchen, Herr«, und: »Ihr Kaffern!« erwiderte Glenn, dann ging es weiter:

»Er rumpelt zum Gaisberg hinaus
und sucht sich sei G'scheckete aus –
Und derweil er so schmunzelt und umaschmierbt droa,
derweil hat ihm die Goas scho in'n Sechter 'nei toa,
Und derweil er so schmunzelt und umaschmierbt droa,
derweil hat ihm die Goas scho in'n Sechter 'nei toa –«

»Er nimmt die Ziege in Beige und beginnt sie zu frottieren«, rief Xaver, und Glenn warf ihm eine Nudel an den Kopf, der Lukas aber sagte: »Ihre Notdurft nämlich hat die Ziechä verrüchtet, Herr, in den Melkinstrument hinein, aber das versteht der Herr Glenn ja um keinen Preis nicht, indem man in Norddeutschland das nicht tut, indem man dort viel zu gebildet für so etwas ist«, darauf sangen sie mit Inbrunst den Schluß der alten Leier:

»G'molka is, Gott Lob und Dank,
aber i glaub, die Gais is a weng krank –
Wei, da hast d' Milli, da siehst scho, wie's ischt,
i mein halt, sie is a weng bräuner als sischt,
Wei, da hast d' Milli, da siehst scho, wie's ischt,
i mein halt, sie is a weng bräuner als sischt –«

»Die Milch hat eine andere Couleur als zu anderen Epochen, sprach der alte Darling zu seinem alten Mannequin«, verdeutschte Xaver, und Glenn behauptete, man könnte schnell reich werden, wenn man eine Ausstellung von den zwei Anwesenden veranstaltete und sie für Überreste aus dem mesozoischen Zeitalter ausgäbe.

Danach hub aber der alte Lukas ein Liedchen an, das über den Spaß ging. Eine Improvisation über zwei Mädchen. Die badeten in einem Teich, danach schliefen sie in einer uralten Almhütte, mutterseelenallein, danach bekamen sie zwei Babys, niemand wußte woher. Er sang es nur so vor sich hin, beim Kälbertrankrühren, und als Ende hing er den jauchzenden alten Vers dran:

»Ja auf der Alma, da gibt's Kalma,
da gibt's weichselbraune Küh –«

Diesmal sang Xaver nicht mit. Er ärgerte sich, daß das Abenteuer von dem schlauen Hallodri ausspioniert worden war. Er fand es nicht nett, daß ihr Geheimnis so plump verarbeitet wurde. Glenn, obwohl er nicht alles verstand, warf ihm einen warnenden Blick zu und machte ihm ein Zeichen, hinter dem Rücken des Sennen, die Finger aneinanderreibend, man sollte den Kerl mit Geld schmieren, damit es keinen Klatsch im Tal gäbe, Terese zu Ehren. Wie zwei Schuljungen saßen sie da und ließen den Spott des ungewaschenen Spötters über sich ergehn.

Der aber hatte jetzt wohl selbst gemerkt, daß er die Grenze zwischen Herr und Knecht verletzt hatte, die heilige uralte Grenze. Denn er brach plötzlich ab und machte den Spott wieder quitt. Er tat es in seiner freimütigen Komikerweise, indem er an den Tisch trat und ein Zeichen über den Köpfen der zwei jungen Männer schlug und deklamierte: » Absolvo te in nomine patris et filii et spiritus sancte, Amen – sollen sie wieder hingehn, woher sie kamen, Amen – ich weiß bis ins Grab nichts von diesen schönen Damen, Amen.« Er tat es aber so, daß sie nicht nur seiner Verschwiegenheit sicher wurden, sondern sich wirklich absolviert fühlten: wie er sie segnete, der graue Liederfreund, mit den verwitterten Händen über ihren Köpfen, und ach, wie viele strotzende Euter hatten diese wissenden Hände schon an sich verspürt.

Ja, sie hatten die Mädchen ganz vergessen. Es war Zeit zu gehn und sie zu wecken. Kurz vor ihrer Behausung hielt Glenn den Freund am Arm fest und sagte: »Wir wollen erst mal feststellen, ob sie noch schlafen. Vielleicht ist es doch noch zu früh?«

Sie lauschten, konnten aber nichts hören. Die Damen schliefen noch, vermutlich träumend von den beiden Faunen von Ladiz.

Da behauptete Glenn plötzlich, es wäre noch lange Zeit bis zum Abschied, und Xaver brauchte ihm nur eine Sekunde lang in die Augen sehn, um zu erfassen, was er damit meinte. »Ja«, sagte er, »wir dürfen sie noch nicht gehn lassen, es ist noch Zeit«, und sie grinsten sich verschwörerisch an. Und: »Wenn sie aufwachen, sind sie am schönsten«, sagte Glenn, aber Xaver sagte: »Das gilt nicht für alle, nur für die wonnigen und frischen, aber für diese zwei gilt es.« Worauf sie sich mit neuer Phantasie in die Hütte schlichen, leise, um in die Brautbetten zurückzufinden.

Aber das Nest war leer. An dem Gestänge der Feuerstelle hing ein weißer Bogen, einer von Glenns Zeichenbogen, darauf stand in dicken Lettern, großartig hingemalt mit einem Glennschen Kohlenstift: »Au revoir.«

»Gemeinheit!« rief Glenn. »Aber wir hätten doch sehn müssen, wie sie weggegangen sind?«

»Sie sind oben gegangen, den Alpenvereinsweg, die dummen Luder, das ist eine halbe Stunde Umweg.« »Und kein Frühstück! Die armen Kindchen!«

»Doch, da war noch etwas kalter Kaffee von gestern«, sagte Xaver und stöberte in dem Geschirr herum, das hinter der Feuerstelle stand, »das weiß ich gewiß. Und von dem Brot und der Wurst haben sie auch genommen, Gott sei Dank.«

»Gott sei Dank, daß sie wenigstens das noch getan haben«, sagte Glenn. »Das wäre ja schrecklich, wenn sie nüchtern bis zur Bahnstation tippeln müßten.« Doch da entdeckte Xaver, der die ganze Hütte absuchte wie ein Detektiv, seinen Füllfederhalter. Der lag neben der Feuerstelle am Boden, (offenbar war er an den backsteinernen Rand gelegt worden und von dort heruntergefallen. »Der war gestern abend nicht hier gelegen«, stellte er fest, »ich weiß gewiß, daß er gestern abend auf dem Tisch gelegen war, neben der Mappe mit den Karten. Die haben noch etwas ausgeschrieben damit.«

Und wirklich, als sie den Bogen mit dem »Au revoir« noch einmal beguckten, kamen sie daraus, daß sie die Kritzelei am untern Rand des Blattes ganz übersehn hatten. In winziger Schrift stand da: »Nein, nicht Au revoir, dazu war's zu schön bei Euch, wir wollen uns nie mehr sehn, aber wir wollen es nie vergessen, Emmi und Lena.« Und in der Ecke, ganz dünn, aber sehr bedeutungsvoll: »Danke.«

»Oh, bitte, gern geschehn«, sagte Glenn, nachdem sie es dreimal gelesen hatten, und zerriß den Bogen in winzige Fetzchen. Die Fetzchen warf er auf die Feuerstelle. Sie verteilten sich auf der düsteren Asche wie fremde helle Tierchen.

»Sauweiber, gottverdammte!« sagte Xaver und glotzte stier auf die Fetzchen, bis Glenn ihm einen kleinen Schlag unter den Bauch gab, da riß er sich endlich aus seinem Geglotze.

Sie legten sich in die Sonne. Neben die verkrüppelte Föhre, die hinter ihrer Alm stand, das uralte windkrumme Ding. Das war stets ihr Schlafplatz, wenn sie am Tag schliefen. Das Gras war schon trocken, ein heißer Tag war gekommen. Eine Zeitlang redeten sie noch hin und her, nebensächliches Zeug, das sie ebensogut hätten für sich behalten können, dann wurden die Fragen und Antworten spärlicher, und sie schliefen ein. Glenn mit dem Kopf auf dem Arm, zusammengerollt wie ein Embryo. Xaver auf dem platten Rücken, ein paar Meter westlich von dem Freund, die Arme ausgestreckt wie ein Gekreuzigter.


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