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Zweites Kapitel

Aber die sichere Wetterlage hielt an. Der Hochdruck, welcher bei der neuen Nordwandroute Pate gestanden hatte, lag auch noch am andern Tag über dem Karwendel. Wer weiß, wie sich die dahinrollende Kugel an diesem Morgen einem himmlischen Auge darbot – über dem Äquator lag vielleicht ein Regengürtel und begoß die hitzige Taille des großen Ungeheuers – über Grönland eine zähe Wolkenkappe, verhüllend das Schädeldach, mit seinem weiten Weiß und seinem raren sommerlichen Grün – die Alpen inmitten lagen bloß und blau da, ohne Dunst kam der neue Tag über sie herauf.

Die Menschen aus der Stadt sehn selten den neuen Tag heraufkommen, auch wenn sie aus der Stadt geflohen sind. Sie tragen die Stadt mit sich, zu Wasser und zu Land. Das Pürschhaus von Ladiz lag noch in der verschlafenen Trauer der Nacht da, als das Licht schon längst über alle Gründe gekommen war.

Im alten Bau, wo Herr Fergus residierte, schlürften gähnend die Dienstboten herum. Unter leisen Verwünschungen stießen sie die Fenster des Parterre auf, um den Dunst aus der getäfelten Diele und dem kleinen Mahagonisalon hinauszulassen. Es war der Dunst von Zigaretten, Wein, chemischem Parfüm, welkender Frauenhaut. Auf der andern Seite der kleinen Ladizer Karrenstraße, im Neubau, wo die Gäste wohnten, war nur Philipp Glenn wach.

Er trat aus der Hinterpforte, nachdem er ohne Erfolg an dem Patentschloß des Haupteingangs herumgedreht hatte. Er sah auf den hellen Tag und sagte: »Ach du meine Güte!« Dann marschierte er los, bergwärts. Auf dem ersten Viehtrieb bog er gegen Osten ab, blieb mit einem Ruck stehn, als die ersten Felszacken in Sicht kamen, ein erhabener Schimmer hoch überm Wald. Es war der Weg zu den Gruben. Die Taglöhner waren schon an der Arbeit. Man hörte bis hierher den Aufschlag der Pickel. Philipp Glenn blieb eine kleine Weile stehn und horchte auf das taktmäßige Klirren im Gestein, dann setzte er sich verdrossen wieder in Gang.

Bald war er am Rand der untersten Grube angelangt. Vier Gruben waren es, dies war die unterste, die kleinste, kaum zehn Meter tief. Hier lag das Geheimnis des Alten Mannes noch unberührt unter dem wuchernden Gesträuch, die Buddelei war an der obersten Grube angesetzt worden.

Die Arbeiter hatten ihn nicht kommen hören. Sie konnten ihn durch das Unterholz hindurch auch nicht sehen, obwohl es nur zweihundert Meter waren. Er setzte sich an den Rand der Grube ins Moos und rauchte eine Zigarette. Nach ein paar Sekunden war der Tau durch die lichtblaue Flanellhose hindurchgedrungen, aber er blieb mit nassem Gesäß sitzen, wo er saß.

Er hatte bei Josephine Quendel geschlafen. Bei der schönen Quendel, bei der scharmanten Quendel, bei der amüsanten, vornehmen, klugen, jungen Dame Quendel, was für ein Wahnsinn! Bevor er sich aus ihrem Zimmer geschlichen hatte, über den bequemen Balkon in sein eigenes jungfräuliches Zimmer zurück, hatte er sie natürlich noch wie ein Baby in ihre Decken eingehüllt, schlaf süß, du süßes Kind, du einzig Süße. Ganz verrutscht und ganz vergilbt waren ihre geistreichen Gesichtszüge beim Einschlafen gewesen. Ach, sie war ein bezauberndes armes Luder, wie alle andern Weiber auch auf dieser dahinrollenden Kugel, aber das war nicht gut, daß ihre kleinen Schreie und Liebesworte ihm jetzt ganz tief drinnen im Ohr lagen, als wollten sie ihn durchs ganze Leben begleiten. Er war ein Narr, ein ewiger Narr. Ein Gymnasiast, ein ewiger Gymnasiast. Jawohl, mitsamt seinen siebenunddreißig Jahren, mitsamt seinem Genie, eisblau wie seine Hosen, ein sitzengebliebener muffiger Gymnasiast.

Aber der größte Narr dieser dahinrollenden Kugel war doch sein väterlicher Freund und Gönner Joseph Fergus, wahrhaftig der dümmste Hund, den man sich vorstellen konnte. Zu einem Sommersitz, wo die Zimmer des Gästehauses durch einen Balkon ums ganze Stockwerk herum kupplerisch miteinander verbunden waren, gehörte doch zum mindesten ein kleiner Teich, ein kleines Gewässer, irgendeine künstliche Badeanstalt, wenn's nicht anders ging. Einen Gast an einem solchen Morgen ohne ein Bad zu lassen, das war wieder einmal eine von den berühmten Barbareien, mit denen auch die liebenswürdigsten Kapitalistenschweine behaftet waren. Ein kleines Bassin, abgefangen aus dem herrlichen Wasser des Ladizer Baches, spielte das vielleicht für Joseph Fergus eine Rolle? Eine Kleinigkeit, eine selbstverständliche Kleinigkeit, und tausendmal wichtiger als diese großartige Buddelei nach dem Alten Mann.

»Dieser Verbrecher«, sagte er voller Zorn und beging damit eine scheußliche Ungerechtigkeit gegen Herrn Fergus, denn Herr Fergus war ein reizender alter Herr, der ihm nur Gutes tat. Außerdem war die Graberei in den Gruben seine eigene Idee, Herr Fergus wäre in seinem ganzen Leben nicht auf diesen prähistorischen Spleen verfallen. Und von einem künstlichen See war noch niemals die Rede gewesen.

Wasser! Wasser zum Schwimmen! Ein kleiner Schauder beim Abstoß vom Land, und du bist drinnen, aufgenommen von dem zweiten Element des Lebens, dem reineren, dem keuschen Widerpart der brünstigen Sonne. Ihr kannst du nicht ins blendende Antlitz sehn, der großen Hure und Lebensgebärerin am Firmament: hier tauchst du unter, öffnest deine Augen, und die andere Hälfte dieses Alls ist dein – du bist der Fisch des Gottes ohne Brunst, durchspült von seiner Gunst bis in dein Herz und dein Gedärm hinein.

Aber was half das alles, es war kein Wasser zum Schwimmen da. Er rauchte eine Zigarette nach der andern. Die Arbeiter an der Pinge droben riefen sich hie und da ein paar Worte zu, das klang wie das zahme Bellen von Halbmenschen, die an der Kette lagen. Sonst war nichts los auf der Welt.

Dieser Mann war ganz anders gewachsen wie Xaver Ragaz. Bei einer Musterung der zwei zum Kampf wäre er ohne Zweifel Kavallerist geworden, während Xaver Ragaz zu nichts anderem tauglich sein konnte wie zum Infanteristen oder Pionier. Aber das war ein sinnloser Vergleich, die Männer wurden in jener Zeit nicht mehr ausgemustert. Weder zum Kampf gegeneinander, dafür war das Gas und das Geld da, noch zum Kampf mit den Göttern, die waren von diesem Planeten abgereist. Trotzdem: Philipp Glenn, wie er am Rand der alten Grube saß, kaum mittelgroß, hager und zäh, den Katzenjammer über die Weibernacht in den Fuchsaugen, und die blaue Jacke war viel zu weit geschnitten für die schmale Brust, dadurch hing sie in besonders elegantem Wurf um die Schultern, der kurz geschnittene kastanienbraune Bart lag wie ein Helmriemen um das Kinn: das war ein Kavallerist, verspätet oder verfrüht. Er war abgesessen, und der Gaul war ihm davongelaufen. Wer weiß wohin, vielleicht den Göttern nach, auf einen anderen Planeten.

In Wirklichkeit war er noch nie auf dem Rücken eines Pferdes gesessen. Nicht einmal als Kind auf einem Schaukelpferd. Er stammte aus einer ganz armen Familie.

Sein Vater war Küfer gewesen, Küfer in einer Weinkellerei in Bamberg. Ein langschlachtiger knochenharter Franke, der auch in den Sonntagskleidern den Fuselgeruch seines Berufs mit sich herumschleppte. Weiß der Himmel, was für Träume er geträumt hatte, wenn er abends am Küchentisch gesessen war, bei seiner kleinen unzufriedenen Familie, an dem Hering und an den Kartoffeln herumstochernd. Seine Frau war gerade abgewirtschaftet und verschlampt gewesen, seine Tochter hatte sich gerade als Ladenmädchen aus der Familie hinausgeschlichen, aber sein Sohn war noch in der Volksschule gesteckt und hatte ihn noch nicht anders gesehn wie mit den blinden Augen eines Kälbchens, als er in irgendeine Transmission geraten und gestorben war.

Viel später, nach dem Tod der Mutter, als die zwei Glennschen Geschwister sich eines Tages in selbstverdienten bürgerlichen Kleidern wieder in Bamberg getroffen hatten, da war der Versuch unternommen worden, aus diesem Vater einen geheimen keltischen Königssohn und Helden zu machen, aus der Mutter aber eine Madonna mit rätselvollen jenseitigen Augen. Doch das war nur der fromme verlogene Kult, den alle Proletenkinder mit ihren Eltern betrieben, wenn sie rechtzeitig Waisen geworden waren und freie Bahn vor sich sahn. Es war eine nichtige Kindheit gewesen, vernebelt, verschlampt, voller Fuseldunst.

Sein Schulweg hatte ihn jahrelang am Bamberger Dom vorbeigeführt. Da hingen die Heiligen und Märtyrer und litten ihr Leid. Unten spazierten die Fremden herum und machten große Augen. Aber auch dies war keine Erinnerung, die einen Halt in der Vergangenheit bot. Auf die Figuren der alten Meister hatten sie in der Schule lauter dumme Spottverse gemacht. Wenn die Lehrer bei einer Führung der höheren Klassen von dem schmerzverzerrten oder überirdischen Ausdruck irgendeiner berühmten Plastik gepredigt hatten, hatten die Kinder sich zugeflüstert: »Heiliger Sebastian, friß nicht zu viel Marzipan, sonst geht es wie bei Mose, alles in die Hose.« Und die reichen Fremden, mit ihrer wichtigtuerischen Ergriffenheit? Die genossen auch nicht mehr Respekt als die armen Heiligen da droben.

Er kam als Lehrling in eine Druckerei und wurde Lithograph. Zwischen dem Bleigeruch der Druckmaschinen und dem Biergeruch der Gesellen begann es in ihm zu dämmern. Es war eine Masse Gesindel auf der Welt, armes Gesindel, reiches Gesindel, aber es war noch etwas anderes da, etwas Hellgrünes, Ewiges. Er begann zu zeichnen, was ihm vor die Augen kam: die fränkischen Obstbäume an den Sonntagen, das Gesicht und die Brust und den Rücken seines Mädchens an den Feierabenden. Er las von der ersten bis zur letzten Zeile, was er an Gedrucktem erwischen konnte: Zeitungen, alte Schwarten vom Trödler, die Geschichte der französischen Malerei, die Geschichte der Walfischfängerei. Nach dem Bruch mit seiner zweiten Bamberger Braut ging er als freier Zeichner und Maler nach Paris und machte sich nach ein paar Betteljahren einen kleinen Namen.

Da war das hellgrüne Ewige bunt und lustig geworden. Die Götter waren zwar von dem Planeten abgereist, aber ihre Spuren waren noch da. Die Reste des großen Gelages, das sie zwischen den Menschenkindern abgehalten hatten, waren noch überall zu finden, Stoff genug für ein herrliches Dasein; in Paris, in Rom, in Tahiti, in Berlin; Farben, Formen, Musik. Und auch die Bettelzeiten, immer wieder zwischendurch, waren schön. Die Mißerfolge waren ein Zeichen des Himmels, daß man wieder eine Stufe über das große Gesindel hinaufgerückt war. Und die Frauen, auch wenn man in einem kahlen Atelier einen ordinären Käse mit ihnen aß, waren damals noch von jener andern Welt gewesen, liebliche Zeichen und Wunder von dort drüben, ihr geheimnisvoller Mund, ihre übermenschlich schönen Hinterbacken.

Es kam der Krieg und die Revolution. Es kamen ein paar Ausstellungen in den Metropolen, ein paar Erfolge. Es kam eine kurze Ehe mit einer Dame aus der großen Welt, ein paar tote Jahre im Betrieb, viel schale Feste und viel schaler Zank, bis zur Scheidung. Die Göttermahlzeit war schneller aufgezehrt gewesen, als man auf dem Montparnasse geahnt hatte. Und das hellgrüne Ewige aus der Bamberger Druckerei? Wo war es geblieben, wo steckte es jetzt?

In den letzten Jahren hatte er sich mit frecher Hand ein Vermögen zusammengeschmiert. Nachdem er seine Erfahrungen mit der Menschheit gemacht hatte, mit dem armen verwaisten Pack, war er mit Zynismus ein Modemaler geworden. Das große Schwarze, das er jetzt herannahen fühlte, sollte ihn wenigstens nicht ohne die kleine Waffe des Alltags finden, ohne den miserablen Trost, den das Gesindel sich als Ersatz fürs Leben ausgedacht hatte, das Geld.

Was für eine Masse an gelber Farbe hatte er in diesen Jahren aufgebraucht! Mit lauter Kadmium und Ockergelb hatte er seine Aufträge durchgeführt! Die Porträts der Industriepapas, der Dichterfürsten, der Boxer, und je gespenstiger er die Wüste ihrer Gesichter gebannt hatte, um so größer war ihr Entzücken gewesen, um so besser der Preis, den er bekam.

Es war kein großes Vermögen, was er jetzt auf der Seite hatte. Aber es genügte, um das Kadmium und das Ockergelb auf den Mist zu schmeißen und wieder nach dem Hellgrünen zu sehn. Den Auftrag dieses alten Reeders Joseph Fergus hatte er noch erledigen müssen, die Malerei im Speisesaal eines großen Luxus- und Gesindeldampfers, aber das war sein letzter Kompromiß gewesen, das stand fest. Die Einladung auf das Ladizer Pürschhaus hatte er nur als endgültigen Abschluß dieser ganzen Epoche angenommen.

Es war aus mit der Schufterei, Schluß. Er war jetzt mit der kleinen Münze des Alltags genügend versehn, wahrhaftig. In Herrn Fergus' Augen war's natürlich kein Geld, dieses Lumpengeld. Ihm aber reichte es, das kleine Kapital, der kleine Zins, der Blutzins der verlorenen Jahre.

Er brauchte nicht viel: Brot und Linsen, eine Handvoll Datteln in der Wüste und ein wenig Wein, ein paar Zigaretten, ein paar irische Homespunjacken. Er war frei. Frei von allerlei, doch frei wozu?

Als einige Stunden später Josephine Quendel den kleinen Viehtrieb entlang spaziert kam, saß er noch immer an dem Rand der Grube und stierte vor sich hin, ein abgesessener Kavallerist nach einem langen Ritt. Sie sah sehr hübsch und frisch aus in ihrem weißen Kleid, rohes Bauernleinen mit einer vergilbten französischen Spitze. Mit kühlem Hallo setzte sie sich zu ihm ins Moos, das bereits von der Sonne getrocknet war.

Natürlich tat sie so, als wäre nichts gewesen. Aber es war klar, was geschehen mußte. Er strich ihr mit beiden Händen das Haar bis zum Ansatz zurück, so daß sie plötzlich wie ein glatt gebürsteter Chorknabe aussah, und gab ihr einen schnellen festen Kuß.

»Was ist los?« fragte sie naiv. »Ist schon irgend etwas herausgebuddelt worden? Drunten sitzen sie beim Frühstück und schließen Wetten ab. Onkel Fergus hält jede Wette, daß heute etwas ganz Tolles ans Tageslicht kommt. Ein Skelett von einem vorsintflutlichen Bergknappen vielleicht? Er hat heute nacht davon geträumt.« Sie hatte eine reizende Altstimme, der das leise verlegene Vibrieren sehr gut anstand.

»Ich finde es unerhört«, sagte Philipp Glenn, »daß Herr Fergus Träume zu träumen wagt. Das ist bei seinem Alter und seiner Stellung eine Frechheit, ganz egal, von was er träumt. Unsereiner hat schon längst aufgehört zu träumen, also hat auch der gute alte Papa nichts mehr zu träumen.«

»Ich träume noch hie und da«, erwiderte sie mit einem kleinen armseligen Lächeln. »Zum Beispiel heute nacht, da hatte ich einen wunderschönen Traum.«

»Tatsächlich?«

»O ja.«

Er ging nicht darauf ein. Er stand auf, um nach den Arbeitern zu sehn.

Es waren fünf Arbeiter. Ein alter Kleinbauer aus der Riß, dessen zwei halbwüchsige Söhne, dazu zwei Handwerksburschen, die auf der Suche nach Arbeit von der Ruhr bis ins Ladiz gekommen waren. Man mußte ihnen, da jetzt jeden Augenblick die alten Stollen angegraben werden konnten, auf die Finger sehn. Philipp Glenn fühlte sich für die ganze Unternehmung verantwortlich, er hatte seinem Wirt diesen Floh ins Ohr gesetzt.

Es war noch nichts zu sehn. Die Arbeiter machten gerade Vesperpause. Sie saßen in einer Reihe an dem ausgehobenen Haufen und redeten in großen Tönen von dem Alten Mann. Der alte Irgel sprang auf und erstattete als Vorarbeiter den Bericht. Seine zwei Jungen stellten sich neben ihn und glotzten unverwandt auf die schöne Quendel. Die zwei Handwerksburschen blieben lümmelhaft sitzen und begannen über ihre Wanderschaftserfahrungen in Bayern und in Tirol zu sprechen, ohne den Herrn und die Dame zu beachten.

Die Arbeit ging langsam vorwärts. Keine zwei Meter tief war der Aushub. Aber schon sah es im sommerlichen Grün wie eine schwere Wunde aus, das gelbe Erdreich, das zerbröckelte Gestein.

Sie bummelten schweigend den Weg zum Pürschhaus zurück. »Seit wann waren Sie denn hier gesessen?« fragte die Quendel, als sie wieder an der unteren Grube waren.

»Eine Ewigkeit«, sagte er gedankenlos. »Seit Sonnenaufgang.«

»Katzenjammer?«

»Wieso? Ganz im Gegenteil.«

Diese Umkehrung der Geschlechter war schrecklich dumm. Sie sprach mit ihm wie ein Verführer, der ein kleines Mädchen zu trösten versuchte.

»Das ist der schönste Platz im ganzen Wald«, sagte er mürrisch. »Haben Sie das noch nicht bemerkt?«

»Also bleiben wir noch ein wenig hier?«

»Bitte. Gern. Es fragt sich nur, ob man uns im Pürschhaus nicht vermissen wird?«

»Haben Sie Angst, daß es einen Tratsch gibt?« sagte sie und ließ sich mit einem energischen Bums wieder ins Moos fallen.

Er setzte sich neben sie.

»Tratsch gibt es so und so.« Sie nahm ihn vorsichtig am Ohr. Wie ein altes Porzellan auf einer Großmutteretagere faßte sie ihn an, drehte seinen Kopf zu sich hin und sah ihm groß in die Augen. »Das ist nicht nett, daß Sie so böser Laune sind, Monsieur.«

»Wieso denn?« knurrte er. »Ich bin riesig guter Laune.«

»Wirklich? Warum haben Sie denn dann die Arbeiter so grimmig angefahren?«

»Hab ich? Kann mich gar nicht erinnern!«

»Die zwei langen Kerle sind ja aufgefahren wie Rekruten, solche Angst bekamen sie bei Ihrem Anpfiff.«

Er konnte sich tatsächlich nicht erinnern. Es mußte ganz unbewußt geschehen sein. Aber wenn es so war, war's gut so. Es waren zwei widerliche Gesellen, keinen Pfennig wert. Und es war immer gut, wenn Menschen Angst bekamen.

»Erzählen Sie mir Ihr Leben«, bettelte sie und ließ endlich das Porzellanohr los. »Bitte, bitte.«

»Ich hab kein Leben, also kann ich auch nichts davon erzählen.« Er war wütend. Der richtige alte Quatsch war das. Hatte er den Pinsel und die gelben Tuben weggeworfen, um sein neues Privatleben sofort wieder mit diesem alten Gesellschaftsquatsch zu beginnen? Wenn er sich nicht für die Arbeit an den Gruben eingesetzt hätte, wäre jetzt eine schnelle Abreise das beste gewesen, nachdem dieser gedankenlose Flirt schon einmal passiert war. Das arme dumme Ding da! Er gab ihr einen Kuß. »Erzählen Sie mir lieber Ihr eigenes Leben, Madame«, sagte er und schaukelte ihr Bein mit seinem Bein über dem Rand der Grube hin und her. »Das ist bestimmt interessanter als mein Leben.«

Sie legte los, ohne es sich zweimal sagen zu lassen. »Ach, ich! Ich bin ganz genau das, was alle Frauen sind: die Isolde ohne den Tristan. Glaub mir's, Glennimännchen, das sind wir alle, vom kleinsten Tippmädchen mit den Fünfzig-Pfennig-Seidenstrümpfchen bis zur Round-the-world-Fliegerin oder Wolkenkratzerarchitektin oder bolschewistischen Agitationsrednerin. Lauter verwitwete Isolden! Von unserer ersten Puppe an – meine hieß Biffi, ich hab sie noch – bis zum letzten Zeitungsblatt, das wir in den zitterigen Händen halten – eine schiefe Brille auf der Nase und drei wollene Bauchwärmer um den Bauch – nie geschieht etwas anderes in uns als dieses dumme Warten auf den Tristan, unsern einzigen Tristan. Alles andere ist Schwindel und Ersatz … Der beste Ersatz scheint ein Baby zu sein. Oder drei? Oder zehn? Aber ich glaube, das bleibt auch nur Ersatz … Was glaubst du, Philipp Glenn, werde ich noch meinen Tristan finden? Ich bin neunundzwanzig Jahre alt und besitze ein kleines Landhaus bei Bremen, außerdem stehe ich mit einer ganz netten Rente im Testament von Onkel Fergus, weil ich von seinen zwölf Nichten die nächste in seinem Herzen bin – kann ich noch meinen Tristan finden?«

»Nein«, sagte er brutal. »Ausgeschlossen. Weder du noch sonst eine Frau. Euer Tristan ist eine historische Figur, genau wie eure Mutter Gottes mit dem Baby, das die Welt erlösen wird. Und mit diesem ganzen historischen Zeug ist es aus und vorbei. Wenn ihr das nur endlich einmal kapieren wolltet, ihr armen Seidenstrümpfchen mit dem Isolde-Sparren im Gehirn.«

»Du bist ein Nihilist«, sagte sie eingeschüchtert. »Was heißt denn das: historisch, mit dem historischen Zeug ist es aus? Wenn die Liebe historisch ist, dann ist alles historisch. Historisch! Das ist irgend so ein nihilistisches Schimpfwort ohne den geringsten Sinn.«

»Durchaus nicht, mein Kind.« Er streckte und dehnte sich, um die Öde aus den Knochen zu vertreiben, ohne sich der Unverschämtheit dieser Geste bewußt zu werden. »Ich glaub nicht mehr an das Wort. Weder an das Wort Gottes noch an das Wort irgendeines Menschen. Ich kann nicht mehr dran glauben. Und ihr auch nicht, meine Damen. ›Historisch‹ ist natürlich auch nur ein Wort, aber alles, was uns mit Worten überliefert ist, nennt man nun einmal historisch.«

»Das versteh ich nicht«, sagte sie leise und sah angestrengt vor sich hin. »Wenn Tristan und Isolde und ihre Liebe, wenn die Madonna mit dem Kind nichts weiter wie leere Worte sind, dann kann man alles Menschliche mit ›Wort‹ und mit ›historisch‹ abmurksen. Was bleibt denn dann übrig, wenn ich fragen darf?«

»Alles andere.«

»Was denn?«

»Was stärker ist als das Wort.«

Sie wußte nichts zu antworten.

»Einmal«, sagte er, »waren auch die Isolde und die Maria etwas anderes als leere Worte, ganz gewiß. Aber für uns sind jetzt eben allerlei Dinge zu leeren Worten geworden, die es früher nicht waren. Und zwar mehr Dinge, als wir uns zuzugeben wagen. Manche bleiben noch dran hängen wie die Fliegen am Fliegenpapier, das stimmt. Ich glaub gern, daß fast alle Weiber noch an dem Wort Liebe herumzappeln, ebenso wie die Männer an dem Wort Jesus oder Napoleon oder Lenin oder Rockefeller oder weiß der Teufel was. Aber was geht das mich an? Ich hab Zeit genug verloren, diesen Worten nachzulaufen. Auch meine Malerei ist zu lauter schlimmen Worten geworden. Außer ein paar Bildern von Rembrandt vielleicht, dem Selbstbildnis im Louvre und der Saskia, geht mich das alles nichts mehr an.«

»Und das andere?« fragte sie eigensinnig, mit einem kleinen gehässigen Zucken um den Mund.

Er sah ihr wie einem Modell ins Gesicht, forschend. Dann sagte er in leichtfertigem Ton: »Ich dachte, Sie wollten mir Ihr Leben erzählen? Wie hieß Ihr Vater mit dem Vornamen?«

Sie lachte. »Anton.«

»Die Mutter?«

»Susanne.«

»Wieviel Geschwister?«

»Vier. Zwei Buben und zwei Mädel.«

»Sehr reich?«

»Zu Befehl, Herr Unteroffizier. Meine Mutter war als eine Fergus von Haus aus reich, mein Vater hatte eine Riesenpraxis als Frauenarzt.«

»Wie alt war er, als er starb?«

»Erst fünfundfünfzig. Er hat sich sein Leben lang überarbeitet. Meine Mutter lebt noch. Aber ich stehe nicht besonders gut mit ihr. Sie hat es mir nie verziehn, daß ich Schauspielerin geworden bin.«

»Spielen Sie noch?«

»Nein. Seit zwei Jahren ist es aus damit. Ich mag nicht mehr. Ich hätte gute Chancen gehabt. Aber ich konnte eines Tages die Schminke nicht mehr riechen. Wenn ein Mensch vom Theater in meine Nähe kommt, wird mir speiübel. Ich rieche jede Schminke auf zwei Kilometer Entfernung, Ehrenwort.«

»Warum sind Sie dann erst hingegangen?«

»Isolde, mein Herr. Ich wollte mit Tristan wenigstens spielen, nachdem er in Wirklichkeit abhanden gekommen war.«

»Wie oft?«

»Was? Wie oft ich die Isolde gespielt habe?«

»Nein, wie oft Sie sie wirklich gewesen sind?«

Sie lachte ein sprödes Lachen und sah auf einmal ganz alt aus. »Ich verweigere die Aussage, Herr Staatsanwalt.«

Er nahm ihre Hand und drückte einen freundschaftlichen Kuß auf die Innenfläche. »Armes kleines Kind.«

Sie zog schroff die Hand zurück. »Drei Tristans waren es, drei Tristans und ein Nihilist.«

»Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen, daß ich genau das Gegenteil von einem Nihilisten bin. Aber zum Tristan tauge ich leider Gottes auch nicht.«

»Ach, es ist zu dumm, Glennimännchen! Das Leben ist einfach dumm! Von Ihnen will ich nicht reden, aber die drei Tristans waren Dummköpfe.«

»Das ist klar, das liegt schon im Wort drin. Schreckliche Dummköpfe, was?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts. Einer war vielleicht kein Dummkopf, aber der war hoffnungslos verheiratet.«

»Eine Tragödie?«

Ja, es war irgendeine Tragödie. Und das schlimme war, daß sie noch nicht aus war. Sie schüttete ihm ihr Herz aus, er aber schaute auf den Grund der Grube, ohne hinzuhören. Diese Suche nach den Spuren des Alten Mannes war auch nichts weiter wie ein Trick, um sich aus dem Bereich der abgenutzten Worte herauszuschwindeln. Wenn dort drunten wirklich vorgeschichtliche Dinge ruhten, sollte man sie ruhen lassen. Wenn man sie ans Licht zog, wurden doch nur wieder Worte daraus. Damals waren die Götter vielleicht noch nicht von dem Planeten abgereist gewesen? Aber was nutzte es, sich in jene Zeit zurückzutasten? Die alten Götter kamen ebensowenig wieder wie die Worte der letzten Jahrtausende. Es mußten neue Götter kommen, Kamerad Alter Mann, nach dieser langen Zwischenzeit!

Er sah auf dem Grund der Grube einen prähistorischen Bergknappen stehn, einen behaarten Riesenkerl. Der grinste ihm mit seinem tierischen Maul bösartig zu, während die Liebestragödie der Josephine Quendel an sein Ohr plätscherte. Wie der Springbrunn eines faden Dachgartenrestaurants über einer Weltstadtstraße, so plätscherte es an sein Ohr. »Vielleicht hat er recht«, hörte er sie sagen, »vielleicht haben die Kinder wirklich diesen Anspruch auf Familie? Er bleibt nur wegen der Kinder bei seiner Frau. Aber diese halbe Geschichte mache ich nicht mehr mit. Er quält mich zu Tod mit seinen Briefen. Nein, ich will nicht mehr, ich will nicht mehr, ich will ihn nicht mehr sehn, es ist eine scheußliche Quälerei – ach, Sie hören ja gar nicht zu?«

»Ich hab jedes Wort gehört«, log er und warf seine Zigarette wütend in den Grubengrund, wo der behaarte Knappe mit dem bösen Tiermaul stand und grinste.

»Ich hab's bis heute noch keinem Menschen erzählt, Philipp Glenn – was soll ich tun?«

»Weiter an ihn glauben«, sagte er – ohne die geringste Ahnung, ob das ein guter Rat oder purer Blödsinn war.

»Wirklich?« fragte sie. »Das ist Ihr Ernst?« Sie schien entzückt zu sein.

»Mein heiliger Ernst«, sagte er und verbeugte sich, da ein Herr mit einem Schäferhund vorüberkam und vor der Quendel die Mütze zog. »Wer war das?«

»Ein Bekannter von Onkel Fergus, ein Doktor Ragaz, der Besitzer von dem Bauernhof da droben, wo die Straße aufhört … Ich hab mir geschworen, Schluß zu machen, und jetzt kommen Sie und raten mir wieder ab! Erst vorgestern hab ich ihm einen furchtbaren Brief nach London geschrieben.«

»Telegraphieren Sie ihm irgendein nettes Wort! Ganz gewiß, tun Sie das! Es ist eine große geheimnisvolle Seltenheit heutzutage –«

Was heutzutage eine große geheimnisvolle Seltenheit war, führte er nicht weiter aus, da er nicht wußte, wovon die Rede war. Droben an den Gruben ging ein Hundegekläff los, und eine Stimme rief: »Hierher, Brolly! Hierher! Zu mir!« Dann wurde es wieder still. Es war eine helle Männerstimme gewesen, auffallend hell für den großen Klotz mit dem Schäferhund.

Philipp Glenn stand auf, zog die Quendel mit sich hoch und drückte sie tröstend an sich. Sie lehnte sich eine Minute lang an ihn, wie an einen alten Priester in der Not. Und während des Bummels zum Pürschhaus war sie in tiefes Nachsinnen versunken über seinen Rat in der tragischen Dachgartengeschichte.

Die armen Frauen! Wie zerstreut ihre Priester waren, die alten wie die jungen! Und wie tot die alten und die jungen Worte, an denen sie sich noch festhielten! Aber als das Paar aus dem Wald heraustrat, lag das Karwendel da, als gäbe es in Wahrheit nichts anderes wie heroischen Mittagsglanz auf der Welt, ohne Anfang und ohne Ende.


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