Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel

Fanny Purgasser hatte den Spleen, lyrische Gedichte zu schreiben. Nicht, als ob es unter allen Umständen als Spleen gelten mußte, wenn ein Mensch in jener Zeit lyrische Gedichte schrieb. Aber bei ihr mußte es so bezeichnet werden. Die Schülerin eines Richard Wessel, die berufsmäßig ihre Nase in jeden neuen Gestank und in jedes neue Parfüm hineinstecken mußte, die in den Redaktionsstuben antichambrieren mußte, die ihre Reiseschreibmaschine wie ein Baby aus Fleisch und Blut mit sich herumschleppen mußte – bei ihr wirkte es als Spleen. Vor allem durch die Art, wie sie es betrieb.

Sie sparte das ganze Jahr für ihre lyrische Zeit. Genau so wie ihre Kolleginnen für eine Altersrente, für ein Auto, für eine Reise mit dem Schatz sparten. Die wichtigsten Aufträge ließ sie schwimmen, wenn sie in die Zeit fielen, die alljährlich für die Lyrik reserviert war. Dann verschwand sie zwei Monate lang vom Marktplatz und reiste allein in ihr heimliches Königreich.

Einmal war es ein Nest im heimatlichen Schwaben, einmal eine entlegene Budik in Finnland. Im letzten Jahr war sie in einem Fischerstädtchen zwischen Marseille und Toulon gesteckt, abseits von der großen Rivieraroute. Dort hatte sie ein ganzes Buch mit Lyrik vollgeschrieben. Ein dickes Schulheft, vollgekritzelt bis zur letzten Seite. Barbarische Hymnen, im Stil von Walt Whitman:

»Camerado, dies ist kein Buch,
Wer dies berührt, berührt einen Menschen,
Mein Freund, wer du auch seist, nimm diesen Kuß,
Ich geb ihn dir besonders, vergiß es nicht.«

Und dorthin fuhr sie auch in diesem Jahr wieder. Kurz vor Weihnachten schloß sie ihre Pariser Artikelserie ab. Sie kassierte ihr Honorar ein und zog los.

Glenn war traurig darüber. Er hatte sich daran gewöhnt, mit ihr Tee zu trinken oder zu Abend zu essen. Es war eine nette, saubere Kameradschaft gewesen. Und da sie ihm ihren lyrischen Spleen nicht verriet, nahm er an, daß sie zu einem Stelldichein mit einem fernen Geliebten führe. Das sagte er ihr auch beim Abschied. Sie war lustig und gespannt wie eine Braut und leugnete nichts. Und er war ziemlich eifersüchtig, trotzdem die erotische Spannung zwischen ihnen noch immer gleich Null war.

Aber nach zwei Wochen, Anfang Januar, bekam er eine Karte von ihr. Ein blaues Bild von einem Sonnenuntergang an der Mittelmeerküste, schrecklich blau. »Wenn Sie wieder malen wollen«, schrieb sie, »hier gibt's viele, viele Farben.«

Das Blau auf der Karte sah nicht nach »vielen, vielen Farben« aus. Doch ihre kühlen Sätze und ihre reine Handschrift taten es ihm an. Er kaufte sich einen Kasten voll Farben und ein paar Kartons und fuhr zu ihr.

Eine kleine Pension in englischer Manier. Eine Viertelstunde vom Städtchen, auf einer Klippe überm Meer. Schlechtes Wetter. Grauer Himmel, graues Meer. Da er sich nicht angemeldet hatte, bekam er keines von den Zimmern, wie sie im Katalog prunkten, mit Balkon zum Meer. Man schleppte ihn in ein schäbiges Zimmer hinten hinaus, ziemlich trostlos. Er packte seine Sachen aus und legte sich aufs Bett, um auf den Gongschlag zu warten, der zum Abendessen rief.

Es dämmerte erst. Es war noch eine Masse Zeit bis zum Abendessen. Er hätte die Purgasser noch suchen können zuvor. Aber es war wohl besser, sie inmitten der andren Pensionsgäste zu überraschen? Das war ein bißchen weniger aufregend, ein bißchen kühler, ein bißchen mehr nach ihrer Art.

Und wenn die blaue Karte nicht so ernst gemeint war, wie er sie genommen hatte? Wenn sie erschrak, weil er eine Redensart so eifrig aufgegriffen hatte und mit Volldampf zu ihr geeilt war? Oder wenn sie wirklich einen Liebhaber bei sich hatte? Oder eine alte Mama aus Windbach? Oder irgendeine miese Freundin, eine kichernde Gans, eine triefäugige Isolde?

Oder wenn oder wenn oder wenn! Dann konnte er sich ja wieder verziehn. Schön war dieses Zimmer so und so nicht. Man hörte den Küchenlärm in einer penetranten Weise heraufdringen. Die »vielen, vielen Farben« waren sicher nur in den Katalogen zu finden. Und die Gäste dieses Hauses konnte man sich vorstellen. Er hatte bereits ein englisches Ehepaar auf der Treppe gesehn, das nichts Gutes versprach, zweitklassige Missionare oder drittklassige Grünkernhändler. Und auf dem Balkon nebenan war das Bild eines Malers oder einer Malerin zu sehn, zum Trocknen aufgestellt, eine Art Picasso-Schule aus Breslau oder Miesbach, zum Melancholischwerden bis dorthinaus.

Warum war er hierhergefahren? Wozu diese Reise wie ein verliebter Gymnasiast? Er bekam einen Alpdruck, wenn er sich klarmachte, auf was für eine Schnapsidee er da wieder hereingetapst war. Man hörte jetzt, wie die andern Gäste auf ihre Zimmer gingen, um sich die Hände zu waschen und die Haare zu richten. Lieber Gott! Noch war Zeit, zu fliehen, noch hatte er der Pensionsmama seinen Namen nicht genannt, noch konnte er abreisen und die Purgasser ahnungslos lassen.

Da gellte der Gong. Nichts mehr zu machen.

Er wusch sich die Hände und richtete sein Haar, wie es jetzt tausende Mittelmeermenschen taten, in den großen Hotelkästen, in den kleinen Klippenpensionen. Er war einer der ersten in der kleinen Veranda mit den Glasfenstern zum Meer und den gedeckten Tischchen. Er ließ sich an seinen Tisch führen und nahm von der Vorspeise, die bereits aufgetragen war, ohne nach rechts und nach links zu schaun.

Aber beim Tellerwechsel mußte es sein.

Neben ihm saßen zwei weißhaarige Französinnen aus der Provinz, welche sehr angeregt die einzelnen Gänge ihrer Mahlzeit besprachen. Dann kam der Tisch mit dem englischen Ehepaar, das er bereits kannte. Dann kam ein junges Pärchen, dessen Nationalität nicht festzustellen war, ein Hochzeitspärchen offenbar, sehr scheu, im Flüsterton miteinander kosend. Und hinter denen saß die Fanny Purgasser.

Sie nickte ihm lächelnd zu. Er verbeugte sich todernst und blieb sitzen. Es war eine schnelle Verständigung: sie wollten den andern Gästen kein Schauspiel liefern.

Erst eine halbe Stunde später begrüßten sie sich. Und da es regnete, war es nichts mit einem kleinen Abendbummel. Sie mußten sich in einer Ecke im Lesezimmer zusammensetzen und im gleichen Flüsterton miteinander sprechen wie das Hochzeitspärchen, weil man ringsum Magazine las und Brettspiele spielte.

Ja, sie war allein. Nein, keine Mama, keine Freundin, kein Bräutigam. Natürlich, sie freute sich, daß er da war. Vor allem, es war schön, daß er Kartons und Farben mitgebracht hatte und wieder ans Werk gehn wollte.

Sie trug ein weißes Kleid und eine schottische Jacke, sie war braungebrannt und fröhlicher Dinge. Aber er hatte doch den ganzen Abend das Gefühl, eine schwere Zudringlichkeit begangen zu haben. Daher sprach er so fremd und kalt mit ihr, daß es nach der gemeinsamen Pariser Zeit fast beleidigend wirken mußte. Doch sie schien ihm dankbar dafür zu sein.

Es kamen zwei holde Wochen. Sie sahen sich fast nur zu den Mahlzeiten und zu einem kleinen Schwatz am Abend. Im Lesezimmer, zwischen den brettspielenden Gästen, im Flüsterton. Der Himmel klarte auf, die Farben aus den Katalogen tauchten auf, er begann tatsächlich zu arbeiten. Vorerst zeichnete er nur – den ganzen Vormittag saß er vor einer Kneipe in dem kleinen Hafen, trank rote und grüne Aperitifs und zeichnete –, aber er spürte, daß bald auch wieder die Farben angerührt werden mußten. Am Nachmittag lief er nach der andern Seite der Küste, einen menschenleeren Pfad überm Meer entlang, bis zu einer Stelle, die er zu seiner Stelle erkoren hatte. Ein paar uralte Felsblöcke zwischen Mandelbäumen und Mittelmeerheide, zwanzig, dreißig Meter überm Wasser. Gegenüber ein unbewohntes Inselchen, gischtig umbrandet. Hie und da eine junge Eidechse in der wachsenden Januarsonne. Eine phäakische Stelle, wo man stundenlang stillsitzen konnte.

Was die Purgasser den ganzen Tag trieb, wußte er nicht. Vermutlich hatte auch sie ihre eigene phäakische Stelle, vielleicht in Rufweite von hier.

Beim ersten Gästewechsel bekam er ein besseres Zimmer. Eines mit einem Balkon zum Meer hinaus, auf dem man frühstücken konnte. Jetzt ging er nicht mehr in die Hafenkneipe, sondern zeichnete den ganzen Vormittag auf seinem Balkon.

Mit der ersten Morgendämmerung kamen die ersten Hilfsmotorchen der Fischerleute unter seinem Zimmer vorbeigeknattert. Dann ließ er sich sein Frühstück bringen, um sich auf dem Balkon niederzulassen und zu arbeiten. Man konnte den ganzen Bogen der Sonne von hier aus sehn, und wie sie sich täglich höher schraubte, voller Triumph. Oft war's wie in Grönland, wenn das Frühlicht kam, kalte, ferne, erbarmungslose Tinten. Aber dann wurde es schnell warm und menschenfreundlich, der nordische Nebel wurde aus der Landschaft und aus den Eingeweiden des Mannes vertrieben.

Indessen, als er nach einigen Tagen entdeckte, daß der Mensch auf dem Nachbarbalkon, der nur durch eine schäbige blaue Bretterwand von ihm getrennt war, die Purgasser war, verfluchte er sein schönes neues Zimmer und die freundliche Pensionsmama. Das war ja blödsinnig. Das sah wie eine richtige Kuppelei aus. Was hatte sich die alte Französin dabei gedacht? Sie erschraken beide sehr, als sie sich eines Morgens am Balkongeländer als Nachbarn entdeckten. Es war eine Nähe, deren Intimität ihnen beiden nicht paßte.

Ja, wer weit vorgedrungen war, der mußte weit zurückgehn. Sie hatten beide in einer Welt gelebt, in der die Liebe nichts mehr wert war. Zu Schleuderpreisen war die Liebe in der letzten Epoche von den Menschen abgegeben und hingenommen worden, jetzt hatte sie sich in die tiefsten Schlupfwinkel der Seele verkrochen. Jetzt war sie weit weg von dem gespenstigen Gebild, das unter ihrem Namen gehandelt wurde. Je billiger der Marktpreis war, unter dem sie ging, um so teurer wurde sie in ihrer wahren Gestalt. Wie eine Antiquität, die um so schwerer zu erwerben ist, je weiter verbreitet ihre Kopien sind.

Aber eines Nachmittags, als die Purgasser zufällig an seiner phäakischen Stelle vorüberkam und sich zu ihm ins Gestrüpp setzte, unternahm er eine verzweifelte Attacke, einen Überfall. »Wollen wir nicht heiraten?« sagte er, mitten in einem Gespräch über Windbach. Und da sie nicht antwortete und nachdenklich auf das Inselchen hinüberschaute, fügte er mit ganzer Banalität hinzu: »Sie sind nämlich mein Typ, das wissen Sie ja selbst.«

Sie lachte hellauf.

»Allen Ernstes«, beteuerte er und rückte ein wenig von ihr weg, weil er fühlte, daß sie mit größter Schonung behandelt werden mußte. »Ja? Heiraten wir? Abgemacht?«

»Reden Sie nicht so dummes Zeug, Glenn«, sagte sie, ohne den Blick von dem Inselchen zu wenden.

»Dummes Zeug? Es ist sicherlich das Gescheiteste, was ich in meinem ganzen Leben gesagt habe.«

»Glauben Sie, ich kann hinüberwerfen?« fragte sie und sprang auf und nahm einen kleinen runden Stein und versuchte, ihn bis zu dem Inselchen zu werfen.

Der Stein klatschte auf halber Strecke ins Wasser.

»Oh, das ist weiter, als man denkt – versuchen Sie's mal –«

Er versuchte es. Aber er kam nicht einmal so weit wie sie. Sie gingen mit Ehrgeiz daran, die Steine bis zum Inselchen hinüberzubringen.

»Wer zuerst hinkommt, hat gewonnen«, sagte die Purgasser.

Sie kamen beide nicht hinüber. Doch ihre Steine flogen weiter als seine Steine.

»Sie haben zu wenig Kraft«, sagte sie, als sie sich wieder nebeneinander niederließen. Es klang sehr vorwurfsvoll.

»Soll das eine Probe auf meine Kraft gewesen sein?« sagte er böse.

»Ach was, Probe!« Sie zog die Knie an und schloß mit den braunen Armen ihren weißen Rock dicht an die Beine. »Sie müssen trainieren, Sie sind krank.«

»So? Ich fühle mich sehr gesund.«

»Nein, Sie sind krank.«

»Wieso denn?« Er ärgerte sich über ihren spröden Ton.

»Sie trainieren zuwenig, Sie haben Ihren Körper ganz vergessen, vor lauter Gedanken und Gedanken, vor lauter Klagen und Klagen.«

»Ich kann mir den Kopf nicht abschneiden.«

»Das sollen Sie auch nicht. Aber Sie sollen Ihren Körper bei Ihren vielen Gedanken nicht vergessen. Und Sie sollen sich nicht mehr über Gott und die Welt beklagen.«

»Tu ich nicht.«

»Doch«, sagte sie eigensinnig.

»Ach was!«

»Nicht so viel rauchen zum Beispiel. Das wär ein Anfang.«

Er war wütend über diese Schulmeisterei.

»Warum schwimmen Sie nicht? Das Wasser ist schon ganz warm. Ich schwimme jeden Tag.«

Er gab keine Antwort mehr.

Sie schien sich über seine Verdrossenheit zu amüsieren.

»Los, zeigen Sie mal, ob Sie ein Mann sind! Schwimmen Sie mal jeden Tag dreimal zu diesem Inselchen hinüber, nachdem Sie schon die Steine nicht hinüberbringen.«

»Heiraten Sie doch einen Fußballspieler aus Windbach«, sagte er, stand auf und ging weg.

Sie blieb sitzen, ohne ihm nachzusehn. Da sie nichts mehr von ihm hörte, nahm sie an, daß er heimgegangen war. Sie lachte laut auf, ein trotziges Lachen, und legte sich auf den Rücken, um sich von der Sonne anstrahlen zu lassen. Es war still ringsum, still, still, wunderbar still.

Ja, sie war sein Typ, und er war ihr Typ. Und sie war einunddreißig Jahre alt, eine alte Jungfrau. Bald kam die Zeit, wo sie verloren war. Aber klein beigegeben wurde nicht. Vielleicht fiel das Tor des Lebens zu, wenn sie ihn nicht nahm? Dann mußte sie eben vor dem Tor des Lebens sitzenbleiben wie bisher.

Aber wenn sie hineinschritt ins Tor des Lebens, dann sollte es mit ganzem Jubel sein. Der Lärm der Städte war so laut und wirr geworden, daß nur noch ein ganzer Jubel dagegen aufkam. Und der war schwer anzustimmen, der ganze Jubel in dieser halben Zeit. Sie wollte einen männlichen Mann haben. Und Kinder von ihm, viele Kinder, ein neues Geschlecht. Glenn war männlich in seiner Seele, doch nicht in seinem Leib – fern war sein Leib von ihrem Männertraum, warum konnte er die Steine nicht weiter schleudern als sie selbst?

»Hui! Hui! Hui!«

Sie sprang auf und sah aufs Wasser hinunter. Wirklich, er war um die Ecke gelaufen, hinunter zu der kleinen Sandzunge, hatte sich ausgezogen und schwamm nackt auf das Inselchen zu.

»Bravo«, schrie sie hinunter und winkte.

Er kam ans Inselchen und stieg aus dem Wasser. Er war bleich und dünn, aber als er an den Blöcken emporturnte, war seine Gestalt schön anzusehn. Sehnig und straff, lockend der Rücken.

Tatsächlich, er schwamm dreimal hinüber und herüber. Sie bekam ein wenig Angst, als er zum drittenmal startete. »Nicht mehr«, rief sie hinunter.

Er antwortete nicht.

Wenn er drüben war, rastete er ein paar Minuten, mit dem Rücken gegens Land, und schaute aufs offene Meer. Sie fühlte, daß sie dieser bleichen Gestalt mit den schmalen Hüften, an denen das Wasser herunterrann, verfiel. Aber sie stieg nicht zu ihm hinunter. Vielleicht erwartete er, daß sie mit ihm schwamm? Trieb sie's nicht an, die Kleider abzuwerfen und zu ihm ins Wasser zu stürzen? Aber sie vermochte es nicht. Sie harrte aus, bis er zurückkam.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis er wieder neben ihr saß, ein wenig schnatternd unter seiner alten Homespunjacke.

»Brrr!« machte er.

»Aber wunderbar?« fragte sie gespannt.

»Wunderbar«, gab er zu.

»Nicht wahr!« sagte sie mit schlauem Lächeln. »Das mach ich jeden Tag sechsmal. Dreimal ist gar nichts.«

»Wirklich?«

»Nein«, sagte sie in mildem Ton. »Wenn ich einmal hin und zurück komme, bin ich zufrieden. Und was so ein richtiger Fußballspieler aus dem Fußballklub Windbach ist – ich glaub, unser Fußballklub in Windbach heißt Kickers –, so ein richtiger Kicker kommt auch nicht öfter als dreimal hinüber.«

Er zog ihren Kopf in seinen Schoß. Sie ließ den Kopf auf seinen Schenkeln liegen und betrachtete sein Gesicht.

Aus nächster Nähe sah ein Menschengesicht anders aus. Die Farben und die Formen, die Nase, die Lippen, die Augen, alles ganz anders. Es war, als sähe man in eine neue, unbekannte Landschaft hinein.

Er küßte sie ein paarmal. Mit verfrorenen Lippen. Und sie, da sie tief drinnen Einzug in eine neue, unbekannte Landschaft hielt, war außen steif und ungeschickt. Drei keusche Fischküsse. Dann gingen sie schweigend und mit weit getrennten Leibern heim.

Jedoch in der Pension, es gefiel ihnen nicht mehr in ihrer kleinen Pension. Wenn sie nach dem abendlichen Schwatz im Lesezimmer aufbrachen und sich vor ihren Zimmertüren gute Nacht sagten, hatten sie beide ein blödes Schuldgefühl; und wußten es voneinander, ohne darüber zu sprechen. Es war scheußlich, daß die Nähe ihrer Zimmer sie verkuppeln wollte, vor der Zeit. Es war scheußlich, daß sie nach dem Fischkuß beim Gutenachtsagen nicht umhin konnten, sich noch zu hören: beim Zähneputzen, beim Plumps ins Bett. Es war ein gottverdammtes hellhöriges Haus. Und die Geräusche, die nicht durch die Wände drangen, stahlen sich über den geöffneten Balkon als kleine Teufeleien in die Zimmer.

Glenn war auf der Hut. Es war – abgesehn von diesen kupplerischen Zimmern – man konnte ja wechseln – aber das war nicht weniger dumm –, es war eine kupplerische Epoche für Liebesleute. Wenn man der Kuppelei dieser Epoche nachgab, war man verloren. Die Menschen hatten vergessen, daß sie nur von Hymen, der keuschen Göttin, auf das wahre Lager der Liebe geleitet werden konnten. Und denen, die es nicht vergessen hatten, gellte das Gelächter ihrer Zeit so lange in die Ohren, bis ihr Herz gebrochen war. Als pures Gift glitt die Presse und Literatur in die Adern der Menschen und kicherte darin herum: »Los! Tempo! Sei kein Spießer! Sei einer von den Unsrigen! Sei mondän!«

Mondäne Krüppel, papierne Freiheit.

Nein, er war auf der Hut. Noch stand die vergessene Göttin zwischen ihnen, Casta Diva. Noch war sie am Werk, um die uralten verschütteten Quellen in ihnen freizulegen. Es war die altmodische Brautzeit, die bange; doch genug Blüten waren erfroren vor den Eisheiligen, genug unreifes Obst fraß die Menschheit in sich hinein. Vorsicht, wenn die Liebe zu einer archäologischen Ausgrabung geworden war! Unversehrt ans Licht gebracht war seine Nefretete, doch ihr Transport an den richtigen Platz war ebenso schwierig wie der Fund.

Nach Norden, nach Norden. Es wurde schwül an der Küste der Phäaken. Sie waren zwei nordische Menschen, dies hier war nicht ihr Platz. Sie kamen beide in der gleichen Stunde zu dieser Erkenntnis.

Das war an dem Abend, an dem er sich zum erstenmal nach dem Gutenachtsagen über das Balkongeländer zu ihr hinüberstahl, um noch eine Stunde lang mit ihr im Mondschein zu sitzen. Es war eine warme Nacht und hell, auf dem Wasser drunten glitten zwei Boote mit Musik hin und her. Sie saßen nebeneinander auf dem Geländer und ließen die Beine baumeln und ergaben sich der kitschigen Stimmung der Rivierakataloge.

Sie erzählte ihm von ihrem lyrischen Spleen. »Aber in diesem Jahr steht es mager damit«, sagte sie lächelnd. »Ich bin gestört worden. Ein Sonett und eine kleine Hymne, das ist alles.«

»Sicher sehr schöne Dinge«, sagte er freundlich.

»Soll ich es Ihnen zeigen?«

»Nein«, sagte er sehr bestimmt.

Sie lachte. Sie war schon vom Geländer gerutscht, um ihr Heftchen zu holen. »Dann raten Sie wenigstens, was drin steht?« Sie schwang sich wieder neben ihn.

»Das Sonett ist natürlich ein Sonett an Philipp. Und die Hymne ist eine Hymne auf Glenn.«

»Ach, Sie eitler Tropf! Sie haben ja keinen Dunst!« Sie lachte ein glockenklares Lachen.

»Du, der du du bist, und doch ich zugleich«, rezitierte er.

»So geht's doch an, das Sonett, geben Sie's nur zu!«

»Natürlich«, sagte sie. »Von außen hart, von innen pflaumenweich.«

»Wir wollen abreisen«, sagte er unvermittelt, »wir wollen zusammen nach Deutschland reisen.«

»Das ist sonderbar«, sagte sie betroffen.

»Was ist sonderbar?«

»Daß Sie das jetzt gerade sagen – ich habe eine Hymne auf Deutschland geschrieben.«

»Ach?« Er war ehrlich erstaunt. »Glauben Sie, es gibt überhaupt noch ein Deutschland?«

»Offenbar. Sonst hätt' ich es wohl nicht angedichtet?«

»Todkrank.«

»Was?«

»Deutschland.«

»Mag sein.«

»Ohne es zu wissen.«

»Mag sein.«

»Häßliche kranke Menschen.«

»Sicher. Nur daß häßliche Kranke immer noch besser sind als schöne Leichname.«

»Sie haben recht«, sagte er. »wir wollen nach Deutschland. Und in Deutschland wollen wie heiraten.«

Sie schwieg.

»Ich bewundere Sie«, sagte er nach einer kleinen Weile. »Es ist alles mögliche, wenn ein Mädchen wie Sie eine Jahreshymne auf Deutschland singt. Irgend etwas muß man ja zu besingen haben, das ist richtig. Oder zu bemalen, wenn man ein Maler ist. Oder zu beleben, wenn man nichts weiter wie ein einfaches Lebewesen ist. Aber ich hab aufgehört zu malen, weil ich nicht mehr wußte, was ich bemalen soll. Gesellschaftsfratzen hab ich genug gemalt. Lokomotiven bemal ich nicht. Die alten Maler, die für einen Gott oder einen Herrn, an den sie glaubten, gemalt haben, beneide ich mörderisch.« Er dachte ein wenig nach. »Gut, wenn Sie Deutschland besingen, will ich Deutschland bemalen. Vielleicht entdecken wir es zusammen wieder einmal? Aber die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus war eine Kinderei im Vergleich zu dieser Entdeckungsfahrt.«

»Ja, reisen wir heim«, sagte sie. »Ich hab noch vierzehn Tage frei.«

»Vierzehn Tage? Und dann?«

»Geld verdienen. Berichte schreiben.«

»Nein, damit ist Schluß«, sagte er bestimmt. »Sie leben in Deutschland von meinem Geld.«

»Ausgeschlossen.«

»Hymnen dichten, Kinder kriegen, neue deutsche Wallfahrt.«

Sie lachte. »Haben Sie so viel Geld?« fragte sie mit einem lustigen Zweifel im Ton.

»Viel ist's nicht, aber weg muß es. Eh es nicht weg ist, fange ich nicht zu malen an, ich bin ein fauler Hund, wir wollen in den Schnee und in den Nebel wallfahren und mein Geld verpulvern.«

»Schi fahren«, sagte sie. »Das wäre das Richtige nach dieser ewigen Sonnenwälzerei.«

»Fahren Sie Schi?« fragte er begeistert. »Ich fahre gern. Mein einziger Sport.«

»Wunderbar, meiner auch. Aber zu teuer. Kommt jetzt nicht in Frage für mich. Ich hab meine Ausrüstung in Windbach stehn. Und über Windbach wollen wir doch lieber nicht fahren? Oder wollen Sie bei Mama um mich anhalten?«

»Nein, wir wollen uns in der Schweiz eine neue Ausrüstung kaufen.«

»Erstens kein Geld, zweitens ekelt mich die Schweiz an.«

»Erstens mein Geld, zweitens nur zur Durchreise. Wir fahren in Tirol oder in Bayern Schi – ah, was mir da einfällt –« Er brach ab.

»Was ist?«

»Vita Nuova«, murmelte er vor sich hin.

»Was ist?«

»Wir wollen doch ein neues Leben in Deutschland begründen?«

»Und?« fragte sie kühl, da sie den leisen Spott in seiner Frage gehört hatte.

»Neues Leben – Vita Nuova – kommt mir bekannt vor – sehr bekannt –«

»Was haben Sie denn?«

Er erzählte ihr sein Erlebnis mit Xaver Ragaz. Den Krach wegen der Gruben, das Gefecht in dem lärchenen Haus, die Rauferei in der Nacht.

»Schrecklich«, sagte sie. »Da kam eine große Freundschaft aus Sie zu.«

»Sicher«, sagte er.

»Schade.«

»Gehn wir doch nach Ladiz zum Schifahren«, ging es ihm durch den Kopf.

»Wollen wir hingehn?« fragte sie, seine Gedanken erratend.

»Sie lassen sich ja kein Geld von mir pumpen«, sagte er böse, »weil Sie aus Windbach in Schwaben stammen.«

»Gepumpt nehm ich es«, sagte sie schlicht. »Pumpen Sie mir fünfhundert Mark?«

»Gern! Auf nach Ladiz! Das Pürschhaus steht leer, die Schlüssel krieg ich im Tal, ich muß nur ein Telegramm an Fergus schicken, daß ich da bin.«

»Ich kann es in vier Wochen zurückzahlen«, sagte sie geschäftsmäßig. »Ich hab noch Honorar ausstehn.«

»Fergus hat es mir für den Winter sowieso zur Verfügung gestellt«, sagte er, ohne hinzuhören. »Es kostet uns ganz wenig, wir haben ein großes Haus für uns allein, wir haben ein schönes Schigelände – und meinen alten Noah können wir ansehn oder stehnlassen, wie wir grade Lust haben.«

Sie war noch unschlüssig.

»Der Teufel soll ihn holen, mitsamt seiner verknacksten Vita Nuova – aber dafür soll er gesegnet sein, daß mir durch ihn das leere Pürschhaus eingefallen ist. Oder wollen wir wieder in eine solche dünnwandige enge Pension gehn? Oder in einen Hotelkasten? Dann werden wir Deutschland nie entdecken.« Er nahm ihre Hand.

»Bitte ja? Zwei Wochen Pürschhaus?«

Sie zog seinen Kopf zu sich und küßte ihn, ein festes, nüchternes Ja.

Er sprang vom Geländer herunter, um sich zu verabschieden. »Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagte sie und stellte sich dicht vor ihn. »Beklag dich nicht mehr.«

»Wieso?« flüsterte er. Die andern Gäste gingen auf ihre Zimmer, man mußte leise sein.

»Beklag dich nicht mehr über die Menschen, über die Zeit, über die Maschinen, übers Geld, über Deutschland.«

»Nein«, sagte er betroffen.

»Beklag dich nicht mehr, nie mehr«, sagte sie. In ihrer Stimme war ein Klang, als gäbe sie ein tiefes Geheimnis preis. »Es ist so eine schwere Klage in uns drin, in mir auch, in allen Leuten. Aber ich glaub, diese Klage ist das erste, was da ist, und danach erst kommt das Beklagte auf die Welt, aus der Klage heraus – verstehst du mich?«

»Nicht ganz«, gestand er.

»Wenn wir uns über die Maschinen beklagen, kommen neue Maschinen aus dieser Klage heraus. Wenn wir uns beklagen, daß Deutschland todkrank ist, wird es noch kränker davon.«

»Mag sein.«

»Wir wollen uns nie mehr beklagen, versprich es mir.«

»Wie kann man so etwas versprechen?«

»Nicht mehr hinsehn. Wir starren ja immer nur auf das, was uns nicht gefällt, damit wir etwas zu beklagen haben. Es ist so eine Art Stolz auf unsere Erkenntnis. Schnell nach der andern Seite sehn, wenn uns etwas nicht paßt. Das müssen wir auch unsre Kinder lehren, dann ist Schluß mit dem großen Wehgeschrei. Es gibt doch von allen Dingen immer noch eine andere Seite, oder?«

»Ganz gewiß.« Er nahm ihre Arme. »Du bist meine andre Seite.«

»Ach ich! Beklag dich wegen dir selber nicht mehr.«

»Nein, nie mehr.«

»Gutnacht.«

»Gutnacht.«

Als er übers Geländer geklettert war, beugte sie sich an dem Bretterwändchen vorbei zu ihm hinüber und gab ihm einen Kuß.

»Gutnacht.«

»Gutnacht.«

»Aber eins haben wir vergessen«, flüsterte sie, als er sich schon gewandt hatte. »Wir müssen uns noch etwas versprechen, etwas wichtiges.«

»Was denn?« Er trat leise ans Geländer zurück.

»Zähne geputzt wird heut nicht mehr.«

Er lachte so laut, daß sie »Pscht« machen mußte.

»Gutnacht.«

»Gutnacht.«


 << zurück weiter >>