Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Das Wetter schlug um, genau wie Terese in dem Brief an ihren Bruder prophezeit hatte. Mit dem wechselnden Mond schlug es um, den Meteorologen zum Trotz. Am Sonntagmorgen lag das Karwendel bereits in einer übernatürlichen Klarheit da, welche nichts Gutes verhieß. Man sah jeden Zweig an den Zirbeln vom Ladizer Joch, die fernsten Felsen schienen zum Spucken nah. Am Abend kamen dann die bösen dünnen weißen Streifen im Westen, die Spione des großen Gewölks. Und am Montag in der Früh erwachte man im Rauschen eines Regens, welcher rauschte, als ob er niemals wieder enden wollte.

Es war der große alpine Guß in der Mitte des Sommers. Zu hoch war die Seele der Alpen geflogen. Vergessen hatte sie den nebeligen November, den dicken Schnee, den Tauwind, das Gepolter, die Lawinen. Vergessen hatte sie das väterliche Element, das Wasser, und daß sie keine pure Sonnentochter war. Jetzt kam es wieder über sie, die mächtige Erinnerung, daß sie aus zweierlei Kräften bestand.

Es regnete und regnete. Auf alle Gletscher, auf alles Gestein, durchs dichteste Gestrüpp hindurch, ins tiefste Moos hinunter. Und auf die Schindeldächer, auf das weidende Getier, bis in die Seelen der Menschen hinein.

Xaver Ragaz war es egal. Er wußte, daß der Glanz des Sommers vernichtet war. Der zweite Sommer, nach dem schweren Wetterschlag, das konnte nur ein abgegriffenes vergilbendes Ding von einem Sommer sein, unsicher wie ein Weib, das in die Wechseljahre kam. Aber er hatte seine große Tour hinter sich, er hatte eine Masse Arbeit im Haus, es war ihm egal.

Sein Verleger drängte ihn. Es war gerade gute Konjunktur für seine Bilder und Berichte. In vier Wochen mußte das Buch von der Nordwand abgeliefert werden, wenn es zum nächsten Weihnachtsmarkt mit richtigem Trommelklang erscheinen sollte. Und Ende der Woche kam Franki. Der gute Junge! Der mußte wie ein kleiner Luftballon, der brüchig werden und zusammenschrumpfen wollte, ein wenig aufgeblasen und gedichtet werden.

Und mit den Fergusleuten war er fertig. Zwei Tage wartete er noch, ob nicht der Kleine käme und Krawall machte. So oft die alte Paula oder Barbi oder Lois das Glockenspiel der Vortür in Bewegung setzten, schrak er zusammen und lauschte. Aber dann schob er es weg. Sollten sie doch machen, was sie wollten! Er hatte ihnen gezeigt, wer der Herr über den Ladizer Grund war. Das genügte vorerst. Seinetwegen konnte er ja noch einmal eine Nacht dransetzen und die Gruben wieder zuschütten. Armselige Städterbande, grabt, soviel ihr wollt!

Indessen machte einen der Regen im Pürschhaus nervös. Daß die Arbeit an den Gruben trotz der neuen Arbeitskräfte nur mit zähen Pausen weiterging, war das wenigste. Aber das ewige Aufeinanderhocken! Die geschlossene Veranda! Die Käfigstimmung in den Fremdenzimmern, in der Bauerndiele, im kleinen Mahagonisalon! Man fühlte, daß man nur der sonnigen Seite des alpinen Lebens gewachsen war.

Papa Fergus und Papa Stettenheimer arbeiteten auf ihren Zimmern, die waren am besten dran. Der Engel ließ den ganzen Tag das Radio laufen. Tante Waag und Onkel Waag suchten dauernd Partner für Bridge, Mühle, Domino und religiöse Gespräche. Und die Quendel beredete eine ganze Woche lang mit Glenn und Nora Pleß und Herald die Notwendigkeit ihrer Abreise, nachdem sie ein sehr aufregendes Telegramm aus London erhalten hatte. Und schließlich reiste sie wirklich ab.

Glenn und Stettenheimer begleiteten sie ins Dorf. Sie halfen ihr, das Gepäck in ihre kleine Karre zu verstauen. Mit triefenden Mänteln und triefenden Hüten standen sie am Schlag, bis es endlich losging.

Glenn war froh, daß Stettenheimer harthörig gewesen und trotz des Einspruchs der Quendel mitgekommen war. Seit ihrem letzten Beisammensein an den Gruben war ihm katzenjämmerlich zumute, so oft er mit ihr allein war. So friedlich auch seine Seele gewesen war, so frisch auch und gelungen die Umarmung im Moos: ein Liebesspiel ohne Liebe war schon in der Dunkelheit der Nacht schlimm genug, im hellen Licht des Tages war's ein Verbrechen, Mord und Totschlag, da half die beste Laune der Welt nicht drüber weg. Er galt als kalter Hund bei seinen Bekannten, als Zyniker, und war im Grunde so empfindlich und errötend wie ein Edelfräulein aus einem alten schottischen Roman.

Endlich funktionierte der Anlasser der kleinen Karre. Stettenheimer schwenkte seinen durchweichten Hut wie ein Opernsänger. Glenn behielt seinen Hut auf und winkte mit der Hand. Aber er rief noch schnell: »Alles Gute!« mit Nachdruck. Er war der einzige, der ihr Geheimnis kannte. Sie traf ihren Londoner Tristan in München. Ihre ganze Zukunft als Isolde hing von den Besprechungen der nächsten Tage ab. Sie hatte feuchte Augen und einen lachenden Mund, als der Wagen anzog.

Und dann war sie weg.

Die zwei Kavaliere marschierten zu Fuß ins Pürschhaus zurück. Stettenheimer blieb alle zwanzig Schritte stehn, um irgend etwas zu sagen, was so tiefsinnig war, daß gestoppt werden mußte. Er sprach über die norddeutsche Seele im allgemeinen und über die Seele der Quendel im besonderen. Vor allem interessierte ihn das Problem, ob Josephinchen gehemmt oder gelöst wäre, eine Keusche oder ein richtiges Weib. Trotz seiner großen Praxis konnte er bei den jungen Leuten heutzutage nicht mehr recht ergründen, was los war. Er wollte gern hören, was Glenn als der Jüngere davon hielt.

Glenn war der Ansicht, daß das freiheitliche Getue der ganzen jungen Generation nichts wie Bluff wäre. Und die Quendel hielt er trotz ihrer Theaterlaufbahn und trotz ihrer vielen Flirts für eine aufgelegte Jungfrau.

Das gab natürlich wieder einen erstaunten Stopp bei Papa Stettenheimer. Er zitierte eine Stelle aus einem neuen amerikanischen Roman, den er grad gelesen hatte. Daraus war ersichtlich, daß die Jungfräulichkeit der Weiber tatsächlich in einem direkten Verhältnis stünde zu ihrer Flirterei mit Worten und mit Kunstseideprodukten, daß demnach also wirklich, allem äußeren Schein zum Trotz, die Jungfräulichkeit in der ganzen zivilisierten Welt immer mehr um sich griffe.

Glenn ließ ihm den Trost. Sie brauchten die doppelte Zeit, bis sie in ihrer Behausung einpassierten. Nässer und nässer wurden sie infolge ihrer Philosophie. Aber Glenn amüsierte sich über den alten Philosophen auf dem Holzweg. Unter allen Pürschhausleuten war er ihm noch der liebste.

Vor ein paar Wochen hatte er sich einen Packen Bücher kommen lassen, um sich zum Sachverständigen für die Grubengraberei auszubilden. Geologische und archäologische Bücher, eine zünftige kleine Bibliothek. Auf die stürzte er sich jetzt, das war das beste Geschäft für die Regenzeit.

Bei seinem ersten Spaziergang in Ladiz war er mit Fergus ganz zufällig an diesen Gruben vorbeigekommen. Sie hatten damals noch zum Ragazer Hof gehört. Es war nichts weiter wie ein liebenswürdiger Einfall zur Unterhaltung seines liebenswürdigen Wirtes gewesen, daß hier Spuren vom Alten Mann zu finden sein müßten. Aber nachdem Fergus in seiner Organisationswut sofort drauf eingegangen war, hatte man sich in diese Materie vertiefen müssen, ob man gewollt hatte oder nicht.

Daß es verschüttete Stolleneingänge waren und keine natürlichen Gruben, hatte er mittels eines Buches über den alten Bergbau in den Alpen schnell nachgewiesen. Aber zu einem richtigen Studium kam er erst jetzt. Die Urgeschichte der Menschheit, die prähistorischen Funde in den Alpen: es war ein sehr gemütlicher Zeitvertreib in dem rauschenden Regen. Da das Thermometer immer tiefer herunterging, war im Haupthaus und im Gästehaus die Zentralheizung angestellt worden. Und da das Licht des Sommers vom Nebel verschluckt war, konnte man, ohne etwas zu versäumen, den ganzen Tag die Vorhänge drunten lassen und die Lampe gebrauchen. Die Bettlampe, daneben das Rauchzeug, und stundenlang und tagelang faul dahingestreckt die alten Knochen, » my bed is my castle«.

Seit Jahren hatte er keine richtige Lektüre mehr betrieben. Die moderne Literatur kannte er aus ihrer Reklame zur Genüge, aus den Prospekten und Zeitungen und Zeitschriften. Hie und da hatte er ein literarisches Modebuch angelesen und nach ein paar Seiten Bescheid gewußt und abgebrochen. Und das Studium der Historie langweilte ihn ebenfalls, seit seinen ersten zerlesenen Bamberger Nächten bereits. Die Menschheit hatte zuviel an ihren letzten Epochen herumgekratzt. Das Wort war Fleisch geworden, gut, das Fleisch war wieder Wort geworden, gut, aber die Seele eines Mannes lechzte jetzt nach einem andern Kreislauf. Es wurde kein neues Fleisch mehr aus den alten Worten. Und das Fleisch eines neuen Mannes sträubte sich, noch einmal in der alten Wurstmaschine zu Worten verwurstelt zu werden.

Vorbei, vorbei.

Doch hier, in den Berichten aus der vorgeschichtlichen Zeit, schien endlich wieder die Verbindung mit den Ahnen hergestellt. Die Zeitgenossen mit ihren kleinen Tricks ließen einen verwaist, die letzten Jahrhunderte und Jahrtausende ließen einen verwaist, man mußte einen größeren Bogen zu den Vätern spannen, wollte man weder in den modernen Dynamo noch in den alten Wurstladen geraten. Siehe, der Alte Mann war noch da, lebendiger als seine sämtlichen Enkel.

Einst waren mehrere Monde um die Erde gekreist. Zuweilen hatte einer sich genähert und war in die kreisende Kugel hineingestürzt. Die Menschen waren ein vergeßliches Geschlecht, sie hatten es vergessen. Die Steine und die Blumen waren treuere Zeugen jener Katastrophen. Noch lagerten im Torf und Schutt die Reste von asiatischen Alpenrosen, von kanarischem Kreuzdorn. Das waren Pflanzen eines Klimas, wie's seit zwanzigtausend Jahren nicht mehr über dem Gebirge hing.

Das große Klima wechselte mit den wechselnden Monden. Die Gletscher wanderten. Tief bis ins Flachland hinaus, dann wieder zurück. Vor ihnen her, wenn eine Eiszeit talwärts drängte, die Pflanzen und die Tiere und die Menschen. Dann wieder, wenn das Klima wärmer wurde, hinein ins Alpenland. Zur Zwischeneiszeit, um wieder die Moränen und das frische Grünzeug zu erobern.

Erst Bärenjäger, haarige Gesellen. Sie lauerten vor der Höhle ihres Höhlenbären, sie warfen aus den Wänden große Trümmer Steine auf ihn nieder, danach tranchierten sie den Schinken mit dem Messer aus Stein. Wenn sie im Scheine doppelter Monde ihre schweren Weiber an sich rissen und ächzend ihren Samen in die Dunkelheit ergossen, dann ahnten sie wohl nicht, wohin der Same floß, wie lange noch die doppelten Monde schienen, wann sich die Gletscher wieder talwärts wandten, um ihre Enkel wieder in das flache Land hinauszutreiben.

Dann war es für Jahrtausende wieder leer im Alpenland. Leer, still, verschneit, vereist. Der Menschheit Samen floß in anderen Himmelsstrichen. Bis wiederum ein Mond gestürzt war und ein wärmerer Himmel kam, bis mit dem weichenden Gletschereis das Leben wieder ins Gebirge eindrang. Das zarte Moränengras zuerst, danach das hoffnungsvolle Enzianblau, danach der Adler, danach der Mensch.

Jedoch der Mensch erschöpft sich, auch wenn keine Monde auf ihn stürzen. Schnell geht's mit ihm dahin, auch wenn kein Eis ihn drängt. Still stand der letzte Mond am Firmament, und wie für Ewigkeit gegründet ruhten alle Gletscher: und dennoch fühlte man sich nicht beruhigt. Das Messer aus gewetztem Stein tat seinen Dienst nicht mehr. Die Knochenketten auf den Weiberbrüsten verloren ihren Scharm. Und als man erst im Wald das erste Stückchen von dem braunen Kupfer aufgefunden hatte, war alles alte Werkzeug, aller alte Schmuck zu Dreck geworden. Dies ließ sich biegen, hämmern, ineinanderfügen. Dies ließ sich schmelzen, damit ließ sich Handel treiben. Ein Kupfermesser gegen hundert steinerne Messer! Vermischt mit einem andern Erz des Waldes gab es Bronze. Wollüstiger hing ein Weib an einem Kupfermann als am barbarischen Nachbarn, welcher noch mit seinem alten Hausrat trödelte. Ja, das gab tausend neue Möglichkeiten unter dem letzten Mond, das gab viel neue Lust für die sich selbst erschöpfende Menschenseele.

Und als dann keine Brocken mehr von dem Metall im Wald und im Geröll sich finden ließen, war's zu spät. Man konnte nicht mehr zu dem derben väterlichen Leben desertieren. Man mußte in die Erde steigen, dort schien noch Vorrat von dem erzenen Gut zu lagern. Und wenn das Leben unter Tag auch nicht sehr würdig für den Herrn der Erde war, es mußte sein, es gab kein Zurück.

Tiefer die Stollen. Großartige neue Systeme, um den Hauern Luft zuzuführen. Arbeitsteilung. Nicht mehr konnte ein einzelner Mann seine Milchwirtschaft betreiben, sein Wild jagen, seine Bäume für den Winter fällen, seine Kinder anlehren und noch gleichzeitig unter der Erde nach dem Metall für sein Werkzeug wühlen. Arbeitsteilung, das Ende für den Herrn der Erde, der Anfang für das laufende Band. Die einen besorgten das Essen, die andern erzogen die Kinder. Die einen brachten das Erz zutag, die andern wandelten damit herum und tauschten es gegen andre Dinge ein. Handel und Wandel, Wandel und Handel. Und da der letzte Mond nicht mehr herabzufallen schien, besorgten sich die Menschen ihren Mondsturz selber.

Und teilten ihr rundes Menschenleben, das der Männer zuerst, das der Weiber zum Schluß, in lauter Bruchstückchen auf. Und vollzogen in ihrer Seele und in ihrer Großhirnrinde den neuen Mondsturz, innen drinnen, unaufhaltsam, unabänderlich. Genau wie vor Jahrtausenden der alte Mondsturz über sie gekommen war, um ihre Gletscher in das flache Land zu treiben und ihre Höhlenbären aus dem ersten Alpenland zu bannen. So ging es denn wieder einmal dahin.

Aber die Gruben vom Ladiz konnten nach Glenns Schätzung nicht älter als dreitausend Jahre sein. Was war das viel, wenn man die große Reise der Menschen auf ihrer ganzen Strecke maß? Und es war kein großes Bergwerk gewesen, sicherlich nicht. Kleine Bauernstollen, aus denen vielleicht fünf Zentner Erz herausgeholt worden waren, dann waren die Gänge erschöpft gewesen. In den Salzburger Bergen, im Salzachtal, an vielen Stellen in Tirol hatte man schon weit größere Pingen vom Alten Mann entdeckt und gute Beute gehalten.

Indessen, was für ein Spaß, wenn man auch nur ein paar winzige Spuren fand! Ein paar alte Pickel oder Schaufeln vielleicht, ein paar alte Barrenstangen. Er hatte ausdrücklich Fergus' Erwartungen herabgestimmt.

Er konnte dafür einstehn, daß der Alte Mann hier gearbeitet hatte, das war alles. Das andere ging auf Fergus' Kappe, für irgendwelche nennenswerte Funde gab's keine Garantie.

Aber Fergus war jetzt nicht mehr aufzuhalten. Abgesehn von der netten Ferienunterhaltung, die er seinen Gästen mit dieser Expedition bot, hatte er auch plötzlich selber entdeckt, was für ein Zauber im »Forschen« lag. Auf eigenem Grund nach längst vergangenen Dingen forschen, das war jetzt sein Steckenpferd geworden, nachdem er ein Leben lang nur nach Angebot und Nachfrage geforscht hatte. Und wenn's umsonst war, ein Forscher war er hiermit doch geworden. Zum mindesten ein Mäzen für Forschungen. Ein richtiger »Lord of old things«, wie Stettenheimer sagte.

Und es wurde etwas gefunden. Nicht viel, aber mehr, als sie erwartet hatten. In der zweiten Woche nach dem Wetterumschlag hatte sich der Himmel ausgeschüttet, es nebelte und näßte noch, aber die Arbeit ging voran, und in der ersten Augustwoche stieß der Spaten tatsächlich auf einen »Ort«, wie die Bergleute es nannten.

Einer von den neuen Taglöhnern war's, der Taubstumme, Lukas nannten sie ihn, der grub den verschütteten Stollen zuerst an. Er machte: »Hu, hu, hu!«, und die anderen Arbeiter liefen aufgeregt zu ihm, um zu gucken. Und tatsächlich war eine Stunde später eine kleine Höhle freigelegt, welche ohne Zweifel einst mit Holz verschalt gewesen war, ein alter Bergmannsgang.

Zwei Tage danach konnte die Beute bereits übersehen werden. Glenn und Fergus standen den ganzen Tag am Arbeitsplatz Posten. Herald und Nora assistierten und schleppten Erfrischungen herbei. Stettenheimer kam des öfteren mit Onkel und Tante Waag dahergebummelt, um seine Witze loszulassen und seine skeptische Ironie in die kleine Fundgrube zu schütten.

Eine große hölzerne Schöpfkelle war am besten erhalten. Trümmer von anderem Holzgeschirr gaben zu stundenlangen Diskussionen Anlaß. Außerdem gab es viel Schlacke, an und für sich wertlos, aber eine Bestätigung für Glenns Theorie, daß es sich um ein kleines bäurisches Kupferbergwerk handelte. Und am dritten Tag fand man in einer Ecke, wo der »Ort« offenbar zu Ende war, noch eine gut erhaltene Lederschürze, ein uraltes Ding mit knöchernen Knöpfen.

Die war Papa Fergus' ganzer Stolz. Obgleich er nichts von Privatbriefen hielt und wie alle Organisatoren nur die geschäftliche Korrespondenz des menschlichen Lebens anerkannte, diktierte er am Tag nach diesem Fund mindestens zwölf freundschaftliche Briefe, um seinen sämtlichen Verwandten und Freunden das Ereignis zu verkünden.

»Eine Lederschürze, die ein Bergknappe vor dreitausend Jahren angehabt hat, stellt Euch das vor! Ausgebuddelt auf eigenem Grund und Boden! Ob wir die Dinger jetzt schon oder erst nach unserem Ableben der Freien Hansestadt Bremen vermachen, steht noch dahin. Maria, der Engel, ist natürlich für sofort. Ich aber denke, das kommt darauf an, was noch zutag gebracht wird. Der Leiter meiner archäologischen Ausgrabungen, der bekannte Altertumsforscher und Kunstmaler Philipp Glenn – ich glaube, Ihr kennt ihn von der Probefahrt her –, rät von weiteren Erdarbeiten ab und hält die Gruben für erschöpft. Aber ich lasse nicht locker, ich lasse an einer anderen Stelle weitergraben, auf Teufel-komm-heraus, da gibt's keinen Radi (Rettich), wie die Bayern hier sagen. Lieber Walter, es ist wirklich eine großartige Erholung, einmal von etwas ganz anderem zu hören als von unserer Bootsverleihanstalt. Hast Du gelesen, daß die Heuern und sozialen Abgaben schon wieder um insgesamt zwölf Prozent gesteigert werden sollen? Na, hoffentlich sind wir bald so weit, daß die Arbeitslosenversicherung ganz Deutschland arbeitslos gemacht hat! Dann binde ich mir meine dreitausendjährige Lederschürze um und zeige mich gegen Entree auf den Jahrmärkten. Unter fünfzig Pfennig Entree bekommst Du mich dann nicht mehr zu sehn. Djüs! Ihr trödelt aber furchtbar mit der avisierten Vorbilanz! Sag mal Peterchen einen schönen Gruß von mir, und ich laß ihm ins Stammbuch schreiben:

›Willst Nachtmütz hebbn?
Kannst mi man seggn.
Ik hev noch een
Di to verlehn!‹

Djüs! Küßchen an Anna und Brigitte, die süßen Gören! Die Waags genießen die Einsamkeit sehr und lassen grüßen. Dein alter Ladizer Lederschurzseppl plus Maria.«

Aber das war eine kleine Lüge, daß die Grabungen weitergeführt werden sollten. Glenn wies nach, daß der Gang an der Fundstelle zu Ende war. Es konnte nichts mehr erwartet werden. Man mußte sich zufrieden geben und nach neuen Sensationen Ausschau halten. Die Arbeiter sollten noch einen Zaun um das Grubengelände ziehn, damit die urgeschichtliche Sehenswürdigkeit den richtigen Rahmen hätte, einen dichten Staketenzaun, danach konnten sie entlassen werden.

Und den Vorbesitzer der Gruben hatte man in diesen aufregenden Wochen ganz vergessen. Da keine weiteren Störungen mehr gemeldet wurden und auch sonst nichts vom Ragazer Hof zu sehn und zu hören war, hatte man gar nicht mehr an den Wauwau von Ladiz gedacht. Nur Tante Waag schimpfte noch hie und da auf ihn, wenn sie die Narben in Clownchens Fell herumzeigte. Der Zaun war aufgestellt, und der Mond war schon wieder voll, als die Erinnerung an ihn kam.

Herald las in einer illustrierten Zeitung die Ankündigung einer Ragazschen Artikelserie. In großer Aufmachung wurde hier der Vorabdruck des neuesten »Xaver-Ragaz-Buches« angepriesen, der Bericht und die Photos von der Nordwand. Das Blatt ging beim Abendessen von Hand zu Hand, und man war stolz, in allernächster Nähe dieser »alpinen Großtat«, wie es hieß, zu wohnen. Man war damit gewissermaßen Augenzeuge einer Tat, die an Millionen Leser ausposaunt wurde. Man beschloß, eine Versöhnungsaktion mit dem bedeutenden Nachbarn einzuleiten.

Glenn weigerte sich diesmal, den Unterhändler zu machen. Er hatte oft an seinen Nachmittag im Ragazer Hof zurückgedacht. Er hatte von Tag zu Tag einen neuen Sabotageakt an den Gruben erwartet. Er mußte sich zugeben, daß ihm sein archäologischer Triumph nur den halben Spaß gemacht hatte, seitdem von dort droben kein Laut mehr zu ihm gedrungen war. Er war sogar ein paarmal am Ragazer Hof vorbeigewandert, einmal mit Stettenheimer und einmal allein, um den Mann wiederzusehn. Aber er hatte nichts zu Gesicht bekommen, weder den Klotz noch seine schlanke Dame. Das eine Mal war der Hof wie ausgestorben dagelegen, das andere Mal hatte ein junger städtischer Herr in ziemlich lächerlichen Golfhosen mit dem Madamchen aus der Bauernstube Nachlaufen gespielt. Jedoch sosehr sich Glenn auch sehnte, den angebrochenen Streit wieder aufzunehmen oder beizulegen, so oder so, im guten oder im bösen, dies ging gegen seinen Stolz, im Auftrag der Fergusleute noch einmal dort einzudringen.

Also übernahm Fergus es selbst, sein kaufmännisches Gewissen zu beruhigen und wieder gute Nachbarschaft herzustellen. Das Waldfest, zu dem man sich gerade rüstete, schien eine gute Gelegenheit zu sein. Daß es ein Fest zur Feier »Seiner Lordschaft of old things« war, ein Fest des Alten Mannes von Ladiz, davon schrieb er natürlich nichts in dem liebenswürdigen Brief, womit er den Doktor und seine verehrte Gattin einlud. Er schrieb nur, was auch der Wahrheit entsprach, daß es ein Abend zum Abschied einiger seiner Gäste wäre, daß ihm sehr viel an guter Nachbarschaft gelegen wäre, wie gern er fernerhin bereit wäre, eine Entschädigung zu leisten in der bewußten Sache, in der Ragaz sich benachteiligt gefühlt hätte, und daß man das an diesem Abend ganz gewiß mit ein paar Worten regeln könnte. »Also kommen Sie, lieber Doktor! Werfen Sie für einen Abend Ihre berühmte Einsamkeit ab! Sie finden hier lauter begeisterte Anhänger Ihrer sportlichen Großtaten, von denen wir erst heute wieder gelesen haben. Selbstverständlich ganz ländlich, kein Gesellschaftsanzug.«

Aber Ragaz antwortete überhaupt nicht, weder ja noch nein, weder miau noch wauwau. Und Fergus, nachdem er fünf Tage gespannt gewartet hatte, nannte es die größte Lümmelei, die ihm in seinem ganzen Leben passiert wäre, daß nicht einmal eine Grobheit als Antwort einlief.

Glenn hätte ihn beruhigen können. Es war eine Antwort von Ragaz gekommen. Zwei Tage nach Fergus' Einladung traf ein komisches kleines Briefchen ein, zugestellt mit der übrigen Pürschhauspost. Aber das war an Glenns Adresse gegangen, und Glenn hatte sich nicht entschließen können, es der Fergus-Bande auszuliefern. Mochten sie doch über den Mann schimpfen, soviel sie Lust hatten!

Nein, es war ganz gewiß im Sinn des Briefschreibers, wenn man diesen Brief zu seinem Geheimnis machte, obwohl eine Bestellung an Papa Fergus drinstand. Er unterschlug es, er richtete nichts aus. Er ließ sie warten und schelten, er behielt es für sich. Und wenn dadurch das Ganze sich ansah wie ein Indianerspiel von zwei halbwüchsigen Bengeln, was war dabei? Besser als diese mausetote Pürschhauswelt war es auf alle Fälle.

Der andere hatte geschrieben: »Lieber Jack ohne Kompaß! Ihr Wirt lädt mich zu Ihrem Abschiedsfest ein, und die Holzknechte behaupten, Sie hätten sieben Truhen mit Geschmeide aus der Bronzezeit gefunden? Ich gratuliere. Zu dem Abend kann ich leider nicht kommen, wollen Sie das bitte Herrn Fergus bestellen. Daß Sie unser Tal verlassen, ohne meine lärchene Arche angezündet zu haben, ist bedauerlich. Ich bin aber am Abend Ihres Abschiedsfestes an den Gruben, Punkt elf Uhr, um mir beim Mondschein anzugucken, was am Tag durch diesen herrlichen neuen Staketenzaun anzugucken verwehrt scheint. Vielleicht haben Sie Lust, sich dort von mir zu verabschieden? Damit unsere Abmachung nicht ganz ins Wasser fällt! Ich war bisher durch andere Arbeit verhindert, dieser Abmachung nachzukommen, was meinen Part betrifft. Wenn Sie nicht kommen können, sehn wir uns vielleicht anderswo wieder. Stets Ihr Noah.«

Selbstverständlich ging Glenn hin. Er fragte Fergus, ob er in jenem Einladungsbrief irgend etwas von seiner Abreise, die tatsächlich bevorstand, erwähnt hätte. Aber Fergus hatte nur von einem allgemeinen Abschiedsfest geschrieben und konnte sich genau erinnern, daß er Glenns Namen überhaupt nicht erwähnt hatte. Das war also nur eine voreilige Vermutung von dem alten Noah?

Honny soit qui mal y pense!

Und Abmachung? Das konnte zweierlei bedeuten. Einmal hatten sie abgemacht, daß der andere einen Teil von den Alten-Mann-Funden abbekäme, nachdem er schon einmal eingeschnappt war und den Kauf anfocht. Und beim Abschied hatten sie sich ganz andere Abmachungen zugerufen. Spielte er auf jene bösen Worte am Gatter an, nachdem er auch von dem Anzünden der Arche Noah schrieb? Sollten sie sich verprügeln innerhalb des herrlichen neuen Staketenzauns? Aber das war ja ein lächerlicher Gedanke.

Er ging hin. Als er sich an dem festlichen Abend den Smoking anzog – man hatte natürlich doch noch Gesellschaftsanzug ausgerufen, da man auf den eingeborenen Rüpel keine Rücksicht mehr zu nehmen brauchte –, war er zwar entschlossen, nicht zu gehn und den anderen warten zu lassen. Es war kindisch, daß zwei erwachsene Männer sich ein Rendezvous im Mondschein gaben. Außerdem war es blöd, den Smoking auf einem Viehtrieb spazierenzutragen. Aber dann stieg beim Festdiner wieder der alte Groll gegen die Pürschhauswelt, in die er eingekeilt war, in ihm hoch, und er schlich sich weg, als es soweit war. Es waren Gäste aus München gekommen. Nach dem Kaffee war ein Riesenklimbim auf der lampiongeschmückten Veranda ausgebrochen. Niemand würde ihn vermissen. Und der andere sollte nicht denken, daß er sich vor ihm fürchtete.

Aber der Mond war noch nicht über die Grate gestiegen, und die Nacht war noch tot und schwarz, als er losmarschierte. Im Wald mußte er die Hände vorhalten, um nicht gegen die Bäume zu torkeln. Er verfluchte die Schnapsidee des Herrn Doktor Ragaz und seine eigene Dummheit in vielen schweren Flüchen, bis er endlich an den Staketenzaun gelangte.

Er tastete sich zu der kleinen Pforte mit dem Patentgriff und trat ein. Der andere war noch nicht da? Wenigstens war das Tor noch nicht geöffnet worden, wie es schien, und nichts zu hören. Er lehnte sich an den Zaun und wartete.

War es ein Reinfall? Hatte man ihn mit dem Indianerbriefchen angeödet? Länger als zehn Minuten würde er auf keinen Fall warten.

Und wenn es ein Reinfall war, schadete es auch nichts. Der erste Schimmer des Dreiviertelmondes drang jetzt über die geschweiften Höhen, es mußte längst elf Uhr sein, der Klotz hatte sich einen Dummenjungenstreich mit ihm geleistet, aber besser als dort drunten war's hier jedenfalls. Wenn es kein Drama war, war's eben ein bißchen Lyrik.

»Unterm Hufschlag klingt die Welt,
Und die Himmel schweigen.
Zwischen beiden, mir gesellt,
Will der Mond sich zeigen –«

Jawohl, Alter Mann, auch wir haben noch unseren Mond! Und wenn's der letzte ist, so laßt uns um so mehr dran hängen!

Zeigt sich heut in roter Glut
An dem Erdenrande,
Gleich als ob mit heißem Blut
Er auf Erden lande –«

Bald wird er auf der Erde landen, spürt ihr's nicht bereits in euren Wasserköpfen? Und wie die Wasser sich ihm schon entgegenbäumen?

»Doch jetzt flieht er scheu empor,
Glänzt in reinem Lichte –«

Nein, der andere Mann kam nicht. Ein Reinfall! Und der Smoking wurde nicht besser, wenn man ihn an dem Zaun scheuerte. Er zündete sich eine Zigarette an, um sich den Abgang zu sichern, und wandte sich.

»Hallo, Jack?« klang es in diesem Augenblick dicht vor ihm. Dazu ein Lachen vom Rand der Grube her.

»Warum sagen Sie denn kein Wort, Sie Idiot?« rief Glenn wütend. Er sah jetzt in dem heller werdenden Licht, daß der andere diese ganzen zehn Minuten lang in seiner allernächsten Nähe dagesessen war. »Warum lassen Sie mich denn warten, wenn Sie schon da sind? Glauben Sie, ich hab meine Zeit gestohlen?«

»Sehr nett, daß Sie gekommen sind«, sagte Ragaz und erhob sich von seinem Erdhaufen. »Aber Ihren Smoking hätten Sie meinetwegen nicht anziehn brauchen.« Er lachte wieder sein Lachen, ein wenig verlegen, so herzhaft es auch herauskam.

Glenn war beschämt und verärgert, als er den anderen jetzt in seiner ganzen Größe vor sich stehn sah. Am meisten ärgerte er sich über sich selbst, weil er auf diese Begegnung eingegangen war. was für ein verkehrtes Bild hatte er sich da wieder zurechtgemacht, seitdem er den Klotz zum letztenmal gesehn hatte! Sein Groll gegen die Pürschhauswelt spielte ihm ja reizende Streiche! Es war der gleiche Wahnsinn wie mit dem Taglöhner, den er nach Mexiko verschleppen wollte. Gleich würde er wieder ein Traktätchen überreicht bekommen, irgend etwas Apokalyptisches. Weiß der Teufel, wie er drauf verfallen war, die Erinnerung an diesen Kerl von einem Mondwechsel zum andern Mondwechsel wie ein schwärmerisches Girl umzufälschen! Dies sollte sein Feind sein! Oder sein Freund? Oder sonst ein Partner, wenn der Monolog in der Wüste quälend geworden war? Gestatten Sie, daß ich lächle, Madame.

Ragaz spürte den Widerstand, den seine Nähe in dem andern auslöste. Auch er hatte sich in diesen vier Wochen ein viel zu gutes Bild von dem Kleinen zurechtgedrechselt. Auch er schämte sich, daß er gekommen war. Es war ein schlimmer Mondwechsel. Mit Franki hatte er Ärger, der Junge entglitt ihm unter den Fingern wie Nebel, der richtige graue Dunst der neuen Generation. Mit Terese hatte er dauernd Krach, weil sie Franki in Schutz nahm gegen seine radikale Wut und seine harten Erziehungsmethoden. Die Arbeit für die Zeitungen und Verlage hatte ihn so wenig befriedigt wie noch nie. Und als er das Blatt mit der fett gedruckten Voranzeige bekommen hatte, hatte er es in Fetzen gerissen und die Fetzen Franki ins Gesicht geschleudert, weil der meinte, man müßte stolz auf solche papierne Hurerei sein. Nur an den Kleinen mit der Fistel hatte er mit seltsam tiefer Luft zurückgedacht. Der schien bei aller Bosheit und Feindseligkeit auf der gleichen Route zu marschieren wie er. Und dieses Häufchen Elend da, das war nun alles? Was hatte ihn denn an diesem dürren Meckerer fasziniert? Die geistige Überlegenheit? Die war ein Knacks, nichts weiter. Ein gehässiger Knacks, die ganze geistige Überlegenheit, die er hier gespürt zu haben glaubte, das sah man in dem schonungslosen Mondlicht besser als am Tag.

»Was ist?« sagte Glenn, »Warum haben Sie mich hierherbestellt?«

»Ich wollte Ihnen meinen Glückwunsch aussprechen«, erwiderte Ragaz. »Sie haben gesiegt.«

»Gesiegt! Wir sind doch keine kleinen Lausejungen, denke ich, die Räuber und Gendarmen spielen? Gesiegt!«

»Gut, sagen wir, die Schiebung ist geglückt.«

»Das müssen Sie mit Herrn Fergus ausmachen.«

»Es interessiert mich nicht mehr.«

»Es waren keine sieben Truhen mit Geschmeide. Es war nicht so viel, wie Sie zu glauben scheinen.«

»Es interessiert mich nicht mehr.«

»Warum haben Sie denn dann die Gruben damals zugeschüttet? Wenden Sie sich doch an Fergus, wenn ich bitten darf. Er hat ein paar alte Trümmer von einem Schmelztopf für Sie reserviert, soviel ich weiß. Ich habe diese ganze Sache dick, das kann ich Ihnen sagen.«

»Und ich habe Ihnen schon zweimal gesagt, daß mich diese ganze Sache nicht mehr interessiert.«

»Was wollen Sie denn dann noch von mir? Warum haben Sie mich denn hierherkommen lassen?«

»Warum sind Sie denn gekommen?«

»Weil Sie von einer Abmachung geschrieben haben. Was für eine Abmachung meinen Sie denn da? Ich kann mich an keine Abmachung erinnern.«

»Nein?«

»Nein.«

»Eine schriftliche Abmachung war es allerdings nicht.«

»Ich kann mich auch auf keine mündliche Abmachung erinnern«, sagte Glenn in hartem Ton.

Ragaz wollte schon sagen: »Aber vielleicht auf eine innere Abmachung«, jedoch er fühlte Gott sei Dank im letzten Augenblick, wie blöd und sentimental das herausgekommen wäre, und schluckte es hinunter.

Sie schwiegen. Glenn sah böse vor sich hin, auf das beleuchtete Laub am Boden. Ragaz sah auf ihn und ärgerte sich mehr und mehr.

»Also gute Nacht«, sagte Glenn und wandte sich, ohne dem anderen die Hand zu geben.

»Gute Nacht«, sagte Ragaz und legte ihm die Hand auf die Schulter.

Glenn machte einen nervösen Ruck mit der Schulter.

Das verdroß Ragaz so sehr, daß er die Hand nicht wegnahm, obgleich er selbst fühlte, daß es eine unwürdige Bewegung war.

» Noli me tangere«, sagte Glenn. Es klang nach Ekel, ein bißchen auch nach Angst.

»Was?« fragte Ragaz und griff fester zu.

»Sie sollen mir nicht auf die Schulter klopfen.«

»Angst?« Er nahm die Hand nicht weg.

»Vor Ihnen? Ach du meine Güte! Weil Sie eine so große Tatze haben vielleicht?«

»Vielleicht.«

»Natürlich! 'runter mit der Tatze!«

Ragaz nahm die »Tatze« herunter. »Vielleicht kommen wir doch noch auf unsere Abmachung zurück? wissen Sie nicht mehr, was wir uns an meinem Gatter zugerufen haben?« Er lachte wieder sein Lachen, ein wenig schüchterner als zuvor.

»Ah, Sie fürchten wirklich, ich zünde Ihre lärchene Arche an? Sie können sich beruhigen. Das war nicht so ernst gemeint, wie Sie es aufzufassen scheinen. Ich hab bessere Sachen zu tun. Nur keine Bange nicht.«

»Aber vielleicht bin ich ein bißchen mehr als Sie ›Ein-Mann-ein-Wort'‹? Sie können mir glauben, daß ich nur gekommen bin, um Ihnen zu Ihrem Triumph zu gratulieren, zu einem kleinen Abschiedswort, zu keinem andern Zweck. Aber bei dem Ton, mit dem Sie hier aufzutreten belieben, könnte es doch sein, daß ich mich auch an unsere andere Abmachung erinnere, nachdem dieser ganze Beschiß mit meinen Gruben nun schon einmal durchgeführt worden ist. Was?«

»Ich sage Ihnen zum letztenmal, daß dieser Beschiß Fergus' Sache ist. Und was ich von Ihrer Krawallsucht halte, habe ich Ihnen bereits damals gesagt. Suchen Sie sich jemand anders aus, wenn Sie keinen Frieden mehr mit sich selber finden können. Adios, Sie armer Irrer.«

Ragaz packte ihn mit beiden Händen an den Oberarmen und schüttelte ihn hin und her. Seine Enttäuschung ließ ihn sich vergessen. Und die böse Fistelstimme riß ihm an den Nerven. »Du bist aber ein freches Kerlchen, du«, sagte er heiser.

»Loslassen!«

Ragaz hatte nichts Schlimmes vor, er wollte gerade loslassen, da hatte der andere ihm schon ins Gesicht gespuckt. Daraufhin warf er sich auf ihn. Er drückte ihn ins Kreuz, bis er den Atem verlor, dann bog er ihn nieder, um ihn auf die Erde zu legen. Aber im letzten Augenblick bekam er von dem strampelnden Kleinen einen furchtbaren Tritt ans Schienbein. Jetzt wurde er so wütend, daß er seine Kräfte nicht mehr zurückhielt. Seit seiner Kindheit hatte er nicht mehr gerauft, aber nun war es wieder wie damals. Er heulte fast vor Wut und warf sich auf den Feind.

Es war sofort zu sehn, daß der Kleine Boxunterricht genommen hatte. Er wehrte sich mit ein paar gut placierten Schlägen, die in keinem Verhältnis zu dem gegenseitigen Kräfteverhältnis standen. Also riß Ragaz, da er selber nichts vom Boxen verstand, den Feind im Clinch dicht an sich hin. Er drückte ihn über sein Knie wie einen Schuljungen. Er hielt ihn mit der linken Hand am Smokinghemd fest, um mit der rechten Hand nach allen Regeln der Kunst loszuprügeln. Aber er hatte noch nicht ausgeholt, als er plötzlich einen furchtbaren Schmerz in seiner linken Hand verspürte. Der Kleine hatte den Kopf heruntergepreßt und mit ganzer Kraft losgebissen.

»Au!« machte Ragaz und ließ los.

»Dummes Tier«, keuchte Glenn und wandte sich zur Pforte.

Er ging nicht besonders schnell. Aber er horchte nach rückwärts, ob er verfolgt würde. Er war bereit, loszurennen, falls der andere nachkommen sollte. So schritt er gespannt den Viehtrieb hinunter.

Nein, der andere kam nicht, der hatte genug. Es war ganz still dort droben an den Gruben. Nichts war zu hören, nur der aufgeregte eigene Atem, pfui Teufel! Und schrie in Kindesnöten und hatte große Qual zur Geburt, jawohl!

»Bäh!« sagte er laut, als die Pürschhauslichter vor ihm auftauchten. Er wollte sich sofort ins Bett legen. Sein Smoking war zerknittert und beschmutzt. Im Gaumen klebte Blutgeschmack, aber das kam nur von dem schweren Atem. Mit der Sonne bekleidet, den Mond unter den Füßen, jawohl!

Xaver Ragaz stand noch droben und schaute seine Hand an. Es blutete, doch es schien nicht bis auf die Sehnen gegangen zu sein. Er hielt die Hand in den Lichtschein zwischen den Bäumen.

Seltsam war eine Menschenhand. Keine Tatze, nein, keine Tatze. Doch auch keine Sonnenhand oder Mondhand. Natürlich nicht, nur eine Menschenhand, nichts anderes. Aber doch sehr seltsam anzusehn, wenn man sie ins Mondlicht hielt, während das Blut daran heruntertröpfelte.


 << zurück weiter >>