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Zweites Buch.
Das Missing-Link


Neuntes Kapitel

Die Schatten wurden wieder länger im Ladizer Tal. Eines Tages mußten die Kinder wieder Strumpf und Schuh und dicke Unterhosen tragen. »Gib mir deinen Herbst, dann kriegst du meinen Herbst«, sagte Barbi zu Lois, der ihr die Reihenfolge der Jahreszeiten beizubringen versuchte. Unter ihrem Herbst verstand sie an diesem Morgen einen verrosteten Reifen von der alten Regentonne. Sein Herbst war eine Peitsche aus Weide und Paketschnur. Aber es war ein schlechter Tausch für beide Parteien. Zwar konnte Lois den Reifen so weit werfen, wie es für seine Ehre nötig war, dreimal so weit wie Barbi, aber das Wunder, das er prophezeit hatte, trat nicht ein, das freiwillige Zurückrollen des eisernen Tieres zu seinem Herrn, wie es beim Vater geschah. Und Barbi brachte keinen Knall aus der Peitsche heraus und pfiff sich die gefranste Vorschnur um die beiden Ohren. Also warfen sie ihre beiden Herbste weg und liefen zum Kuhbrunnen hinauf, zu ihrer geheimen Quellanlage und Berieselungsanstalt. Das war etwas, was über die Jahreszeiten erhaben war. Das Wasserpanschen stand für alle Ewigkeit auf Fräulein Paulas schwarzer Liste.

Terese schaute ihnen zu, vom Fenster ihrer Nähstube aus, ohne sie zurückzurufen. Obwohl es jetzt natürlich zu einer schweren Verdreckung der neuen Herbstsachen kam. Oder zu einem Schnupfen. Der Reif der Nacht lag noch auf dem vergilbenden Gefild. Aber sie rief sie nicht zurück, trotzdem sie heute die alleinige Verantwortung für diese Untaten trug. Paula war im Dorf, beim Krämer, mit der Haushaltungsliste für den Oktober. Franki, der sonst mit großem Eifer die Kindsmagd gespielt hatte, war schon seit einer Woche wieder weg. Und Xaver war auf seinem Zimmer. Sie wußte nicht, was er dort trieb. Vielleicht lag er noch im Bett? Das Frühstück hatte er sich von der Magd bringen lassen. Seitdem rührte sich nichts mehr dort drüben, obgleich es bald Mittag war.

»Gib mir deinen Herbst, dann kriegst du meinen Herbst.« Gern hätte auch sie ihren Herbst getauscht, es war ein schlimmer Herbst. Aber in der Vater-Mutter-Welt gab's keinen solchen Tausch. Da mußte jeder bei seinem eigenen Herbst bleiben, ob's ein heroischer Herbst war oder ein nervöser.

Sie war für das Heroische. Seit ihrer Kindheit hatte sie Heldenverehrung getrieben. Achilles, Alexander, Friedrich, Bismarck, Nansen. Jeder Kompromiß war ihr aus einem tiefen Instinkt heraus zuwider. Ihr Vater war ein liberaler Mann gewesen und hatte mit bedeutenden liberalen Männern seiner Generation verkehrt, sie aber hatte schon als Zwölfjährige diese erfolgreichen Politiker und Kaufleute und Schriftsteller verachtet und gehaßt. Das Wochenende, wenn sie alle angerückt kamen, hatte sie als eine Strafe Gottes empfunden. Die einzige Ohrfeige, die sie ihrem gutmütigen Papa entlockt hatte, war an einem solchen Wochenende gefallen, als er sich auf seine Freunde gefreut hatte, während sie im Schulmädchenton heruntergeleiert hatte: »Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Dinge beschicken, aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, da sollst du bei den wachsweichen Onkels hocken, welche zweiundeinhalb Minuten gekocht sind. Amen.« Jedoch einem Autodieb in Chikago, der auf ungerechte Weise von der Polizei verprügelt worden war und daraufhin jeden Polizisten, der ihn fangen wollte, niedergeknallt hatte, sieben Stück, bis man ihn endlich zur Strecke gebracht hatte, dem hatte sie noch als verheiratete Frau einen glühenden Trostbrief mit einem getrockneten Edelweiß ins Zuchthaus von Joliet geschickt.

Ja, sie war die Freundin aller Menschen, welche sich selbst behaupteten, welche gegen den Strom schwammen, welche gegen die Schwerkraft anstiegen. Sie war für alle Kreatur, die sich nicht erwischen ließ, nicht vom Alltag, nicht von der Maschine, nicht von den eigenen Nerven.

Und dabei war sie geblieben. Auch Xaver gegenüber stand es so mit ihr. Im Grunde war sie nur sein Weib geworden um des Heroischen willen, das sie in seinem Alpinismus sah. Auch wenn sie zuweilen über die Verwegenheit seiner Touren erschrak. Auch wenn sie ihn zuweilen haßte, weil er ohne jede Rücksicht auf das Haus, das er begründet hatte, loszog. Nur das Heroische war's, dem sie sich unterwarf. Und um so schwerer litt sie, wenn es weg war, wenn die nervösen Zeiten kamen.

Dann stand es schlimm mit ihren weiblichen Reserven. Sie besaß nicht die Gabe jener Gattinnen, welche ihre Männchen in den bösen Phasen der Ehe aufkitzelten, um sie schnurrend in den Nebel zu ziehn, in den raffinierten Schoß. Und eine gute Mutter war sie für die Kinder, nicht für den Mann. Ihr blieb nichts wie ihr starrer Stolz, wenn man sie quälte.

Natürlich quälte er sie nur, wenn er sich selber quälte. Und sie war gern bereit, die Qual mit ihm zu teilen, wenn das Schicksal es gebot. Wenn es um etwas Soldatisches ging. Oder um etwas Revolutionäres. Oder wenn es eine heldische Melancholie war, die ihn befiel, das Verwelken der zweibeinigen Rasse, das Vertrocknen des uralten Flußbettes. Was aber in den letzten Wochen vor sich ging, war anders. Was war's?

En kleinbürgerlicher Haß auf sich selber und auf seine ganze Umgebung. So eine Art Beamtenbosheit, wenn die Poren verstopft sind. Das neurasthenische Gezeter eines Literaten, der sich in der Familie austobt, weil die Welt da draußen nicht aus dem einzigen aufmerksamen Weltohr besteht, das seinen Elegien lauschen soll, sondern aus Milliarden kleiner tauber Schweinsöhrchen. Dann läßt man seine Männerwut zu Hause abfließen. Nein, dafür war sie nicht die rechte Frau. Sie wußte nicht, woher es über ihn gekommen war, jedoch sie wußte, daß sie nicht geschaffen war, es zu erdulden.

Da Paula bis zum Mittagessen noch nicht einpassiert war, mußte sie die durchnäßten Kinder selber umziehn und füttern und ins Bett stecken. Dreimal ließ er sich dann zum Essen rufen, bis er kam. Ohne sie zu begrüßen, nahm er Platz an dem gedeckten Tisch. Gestern abend hatten sie stundenlang gestritten. Wegen nichts. Er hatte behauptet, sie erzöge die Kinder zu Schwächlingen. Lois hatte über Bauchweh geklagt, das war der ganze Anlaß gewesen. Hätte der Junge etwas andres gehabt, hätte er etwas kaputt geschmissen oder zerrissen, anstatt zuviel Zwetschgen zu essen, dann wäre das Gegenteil behauptet worden, dann wäre stundenlang gepredigt worden, sie erzöge die Kinder zu Barbaren. Es war nur gewesen, um die Bosheit herauszulassen. Und auch jetzt zündelte bereits wieder das gefährliche blaue Flämmchen in seinen Augen. Trotzdem begrüßte sie ihn, als wäre die Welt rund und munter wie je.

»Heut werden die Almküh abgetrieben«, sagte sie in möglichst naivem Ton. »Die Knechte vom Almbauern sind schon gestern zum Schmücken hinaufgegangen.« »So?« Er lümmelte sich mit beiden Ellenbogen auf die Tischplatte und schlürfte seine Suppe hinunter, als säße er nach einer schweren Tour allein an einem Biwakfeuer.

»Ich lauf ihnen mit den Lindern bis zum Joch entgegen.«

»So?«

»Sie sind schon ganz aufgeregt.«

Sie brach ab und horchte zum ersten Stock hinauf, wo man die Kinder in ihren Betten lachen hörte, »wenn ihr nicht sofort einschlaft«, rief sie durch die Holzdecke hindurch, »dann dürft ihr nachher nicht mit zu den Almkühen.« Es wurde still im Kinderzimmer droben.

Sie löffelte an ihrer Nudelsuppe herum, dann wandte sie sich wieder zögernd an ihn. »Kommst du mit uns?«

»Ich? Wozu denn? Nein, nein.« Am Biwakfeuer, einsam schlürfend.

»Schade«, sagte sie kühl.

Ohne Appetit aßen sie ihr beiden Teller leer. Es war das erstemal, daß er den Zug des Almviehs nicht sehn wollte. Wenn die bekränzten Tiere von der Ladizer Alm abgetrieben wurden, am Ragazer Hof vorbei, ins Dorf hinunter, in die Winterställe, dann war der Herbst gekommen, weithin eingeläutet von den dumpfen Kuhglocken und den hellen Kälberschellen. Es war ein Fest, alle Jahre, für die Kinder so aufregend wie Ostern und Geburtstag, nur noch von Weihnacht überbietbar.

»Ich hab die Nase voll von diesem alten Theater«, brummte er nach einiger Zeit.

»Was für ein Theater?«

»Ich brauch nicht die blöden Almkühe anzuschaun, wenn ich blöde Kühe sehn will. Ich hab mein déjà-vue im Hause.«

»Allerdings«, fuhr sie hoch. »Du brauchst nur in den Spiegel zu schaun, da hast du genug déjà-vue. Deine Bosheit ist allerdings ein richtiges altes déjà-vue

Er lachte. »Ich hab weder gesagt, daß du eine Almkuh bist, noch daß du déjà-vue-Gefühle bei mir auslöst. Ich bitte, mich nicht so bösartig anzufahren, Madame, und keinen neuen Krach zu provozieren.«

»Idiot.«

Er schwieg und grinste vor sich hin. Offenbar fühlte er sich als Sieger in diesem kleinen Dialog.

Das war das, was sie die »bayrische Taktik« nannte. Eine hinterhältige Bemerkung, die man so oder so ausfassen konnte, die sie aber natürlich genau so boshaft hinnahm, wie sie gemeint war, danach der kühle Rückzug, und alle Schuld an dem Wiederaufflammen des Streits lag selbstverständlich bei ihr, bei der »preußischen Keiferin«.

»Warum machst du eigentlich keine Tour?« sagte sie kurz vor Beendigung der Mahlzeit. »Seit der Nordwand bist du nicht mehr weg gewesen. Oder eine Reise? Das wäre doch eigentlich das Richtige jetzt, ehe der Schnee kommt?«

»Eigentlich? Das ist mein Lieblingswort, eigentlich.«

»Ach, du dummer Schulmeister! Du weißt ganz genau, was ich meine!«

»Warum soll ich denn eigentlich von hier fort? Jetzt ist doch eigentlich hier die schönste Zeit vom Jahr? O nein, es kann zur Zeit nirgends so schön sein wie hier.«

Sie gab keine Antwort.

Er stand auf und dehnte und reckte sich unverschämt. »Möchtest du mich gern los sein?«

»Sehr gern«, sagte sie, ohne aufzuschaun, und fügte vorsichtig hinzu: »Für zwei, drei Wochen wirklich sehr gern.«

»Oder noch etwas länger eigentlich? Soll ich nicht noch einmal die Nordwand anpacken? Das wär doch jetzt, wo täglich der Schnee einfallen kann, eigentlich die richtige Tour?«

Sie schwieg.

»Wie?« fragte er mit voller Bosheit.

»Pfui, du gemeiner Kerl!« zischte sie heraus.

Er ging lachend aus der Stube.

Sie blieb an der abgegessenen Tafel sitzen und starrte vor sich hin. Sie hatte nur ihn auf der Welt. Ihre Kinder, ihre Geschwister und Freunde, die ganze übrige Welt war ein Nichts im Vergleich zu ihm. Und doch, so gemein seine Anspielung auf Absturz und Tod gewesen war, ja, es gab Sekunden, in denen sie wünschte, er wäre tot. Sie war ehrlich genug, es sich zu gestehn. Blitzartige mythische Sekunden, erfüllt von dem tiefen Wunsch nach seinem Tod.

Und dieser grauenhafte Wunsch mußte auch zu andern Zeiten in ihr sein, sonst könnte er durch kein Gezänk der Welt an den Tag gebracht werden. Ja, bevor die Kinder dagewesen waren, hatte sie oft davon gesprochen, daß sie gleichzeitig mit ihm sterben wollte, daß sie schnell nachkommen wollte, wenn ihm ein Unglück zustieße – manchmal war er wütig geworden über die Entschiedenheit, mit der sie diesen Vorsatz kundgetan hatte, wütig über das Zuviel an Liebe, das sich darin anbot –, doch auch damals schon hatte sie die seltsamen Sekunden verspürt, in denen sie seinen Tod wünschte, wenn auch noch nicht so grell wie jetzt.

Das hatte nichts mit Frieden und Zank zu tun. Das tauchte durch den Zank nur aus den tiefen Wassern, wo es immer lagerte, empor. Das hatte auch nichts mit Liebe oder Haß zu tun. Amor condusse noi ad una morte? O nein! Jenseits von Liebe, von Isolde-Liebe oder Mutter-Gottes-Liebe, jenseits vom Haß, dem siamesischen Zwillingsbruder dieser Liebe, jenseits von alledem befand sich noch ein schreckliches drittes Arsenal der Seele, aus welchem diese jähen Blitze kamen, mörderisch. Und daß er sie mit seiner »bayrischen Roheit« zwang, die eigene Grenze zu überschreiten, ins unverzeihlich Grelle hinein, das war der schreckliche Männertrick.

Sie stand auf und ging vors Haus, um mit Paula zu sprechen, die jetzt angefahren kam, mit dem Mehl und der Seife, mit den Haferflockenpaketen und den Scheuerlappen für den Monat Oktober. Sie half ihr beim Abladen und sagte ihr, daß sie allein mit den Kindern zum Almtrieb gehn wollte. Nachdem der Vorratsschrank eingeräumt war, ließ sie Paula in ihre Kammer gehn und essen und ruhn. Dann setzte sie sich vors Haus auf die Bank und begann zu weinen.

Xaver stand in seiner Stube und hatte sie längst vergessen. Sie, das böse Mittagessen, die tödlichen Worte, die eigene Bosheit, alles vergessen. Im gleichen Augenblick, da er wieder allein war, war das alles weg für ihn. So war es immer, und so mußte es wohl sein. Er betrachtete aufmerksam die kleine Narbe auf seinem Handrücken, zum tausendstenmal wohl seit den letzten vier Wochen. Ein leicht geschweiftes Korallenkettchen, bestehend aus vier feuerroten Teilchen. Gut geheilt. Ohne Jod und Alkohol. Nicht einmal einen Verband oder ein Pflaster hatte er gebraucht. Und Terese hielt es für eilte von seinen üblichen Schrammen. Aber wenn nur kein Gift an dem Zahn jenes Tieres gewesen war? Gab es nicht Bisse, die glänzend heilten, und das Gift war dennoch eingedrungen und ging seinen Weg ins Blut?

»Ha?« lallte er laut vor sich hin und lachte ein Lachen wie ein Blödian. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und zerriß den eng bekritzelten Bogen, der dort lag und auf ihn wartete. Er nahm aus einem dicken Haufen Vorratspapier einen neuen Bogen und begann eine neue »Aufstellung«. Doch diese neue »Aufstellung« war genau die gleiche »Aufstellung« wie die vom Vormittag. Der Teufel wußte, warum er den alten Bogen zerriß und einen neuen vollschmierte! Es kam ja doch nichts anderes heraus.

Ganz oben standen zweiundvierzig winzige Ziffern. Bei jeder Ziffer stand ein Schlagwort. Das waren seine zweiundvierzig Lebensjahre, das Kalendarium. Bei jedem Lebensjahr war das Ereignis des Jahres notiert. Schuleintritt, Gymnasium, Aiguille de Ragaz, Tod der Eltern, Verwundung, Amerika, Heirat, Barbi, und so weiter. Aber beim letzten Jahr stand nicht die Ladizer Nordwand, die doch das Stichwort dieses Jahres war, sondern »Biß«.

Dann kam die zweite Abteilung der »Aufstellung«. Das war eine sehr nüchterne Sache, die Geldbilanz. Sein Bankkonto, Tereses Vermögen. Die laufenden Verträge mit den Zeitungen und Verlagen und Filmgesellschaften. Die Steuerschulden, die kleinen Schulden bei den Handwerkern und Lieferanten. Eine kurze, saubere Reihe, Plus und Minus, nichts wie Zahlen.

Dritte Abteilung oder »Zukunft in geschäftlicher Hinsicht«. Da stand vor allem Dr. Maduschka, sein Agent, der ihn zu einer Vortragsreise für den nächsten Februar haben wollte, für Deutschland und fürs Ausland. Es stand nur »Dr. Maduschka« da, und kaum hatte er es hingeschrieben, da machte er schon ein großes Fragezeichen durch den Namen. Zweitens »Ploner«, zweimal unterstrichen. Das war der alte ploner, ein Freund in der Riß, der Obmann der organisierten Bergführer des Tals. Die Unterstreichung bedeutete nur, daß er in acht Tagen zur Führerversammlung erscheinen mußte, es war ein ganz aktueller Posten innerhalb der großen Gesamtübersicht des Ragazschen Lebens. Und zuletzt schrieb er: »Film«, kreuzweise ausgestrichen. Nein, der Schneefilm, zu dem man ihn in diesem Winter als technischen Leiter haben wollte, mußte abgesagt werden. Es war ein starker pekuniärer Ausfall, aber es widerstand ihm mehr und mehr, aus seinem Alpinismus ein Schauspiel zu machen. Schlimm genug, wenn er seine Berichte und Photos fürs tägliche Brot der Masse vorwerfen mußte! Statt des Films wollte er sich in diesem Winter wieder einmal eine wissenschaftliche Arbeit leisten. Es war eine Schmach, daß er sein Buch über »Erdvereisungen und alpine Eisformen« jahrelang liegenließ.

Aber was war das alles im Vergleich mit der vierten und letzten Abteilung, die jetzt durch einen dicken Strich von der Vergangenheit und Zukunft abgetrennt wurde! Es war schwer, einen treffenden Namen für diese Abteilung zu finden. Ein Journalist hätte vielleicht den Titel »Morgenröte« genommen, nachdem es nun einmal die Aufgabe der Zeitungen war, ständig nach einem Morgenrot auszublicken, auch um Mittag oder Abend oder Mitternacht. Und die fernen Götter hätten vielleicht den Titel »Die Mausefalle« genommen, nachdem sie die ganze Sache als Komödienspiel ansahn. Aber Xaver, da er Naturwissenschaftlicher war, nahm den Titel: »Das Missing-Link« – fünfmal unterstrichen.

Das war ein zweideutiger Titel. Er konnte besagen, daß der Aufsteller dieser Aufstellung vor einer späteren Naturwissenschaft als ein Missing-Link figurieren würde, als ein verschollenes Übergangsglied zwischen der Rasse der alten aufrechten sprechenden Säugetiere und der Rasse der neuen schwebenden stummen Engel. Er konnte aber auch besagen, daß nur innerhalb des eigenen Lebens des Aufstellers ein Glied fehlte, eine verschollene Verbindung oder Beziehung, welche die einzelnen Trümmer seines Lebens zusammenhielt. Aber im Grunde war es das gleiche, so oder so. Es hieß einfach, daß noch etwas fehlte, nachdem die Bilanz aufgestellt war. Ein Missing-Link, ein anderes menschliches Ding. Verschollen zwar, jedoch mit Sicherheit vorhanden auf der Welt. Ein sechster Kontinent des menschlichen Bereichs, zur Zeit noch unentdeckbar, eines Tages aber ohne Zweifel da.

Missing-Link, fünfmal unterstrichen … Rechts stand der Zar, der Kaiser, die Bankiers, Amerika und alle Industrie, samt sämtlichen Knechten und Maschinen, die dazu gehörten. Dem allen diente man für Geld und Zeitungsruhm. Sonst war dort nichts mehr zu holen. Fertig. Ein alter, abgestandener Kohl. Er strich es kreuzweis aus … Links standen die Fanatiker und Revolutionäre. Und zwar Gehirnfanatiker und Zahlenrevolutionäre. Das führte zu der permanenten Revolution von Lew Dawidowitsch Trotzki, zur ewigen Zahlenrevolution, es blieb kein anderer Ausweg. Gewiß, auch sein Herz war beim Pöbel, der nach oben drängte – doch nicht, um immerzu das öde Pfänderspiel zu wiederholen: »Ote-toi de la, que je m'y mette!« Gewiß, vor wenigen Jahren noch war er drauf und dran gewesen, nach Rußland auszuwandern – jetzt wußte er, daß es umsonst gewesen wäre. Er strich es ohne viel Besinnen aus … Und in der Mitte zwischen rechts und links lagerten Pfaffen und Sektierer, die Philosophen und Schwimmer, die Volksredner der alten und neuen Gemeinden, das Weiberzeug der alten und neuen Kirchen. O Gott, die waren sicher nicht das Missing-Link, um die toten Maschinenherren und die toten Maschinenknechte zu verbinden … Er strich den ganzen Posten durch. Die ganze Politik verkleckste er mit solcher Energie, daß fast die Spitze seiner Feder dabei brach. Bis nichts mehr zu entziffern war.

Missing-Link, siebenmal unterstrichen, ein neuer Versuch … Die Familie? In Klammern: Kein Ziel für das Leben eines Mannes; eine schöne Sache, sowohl Isolde wie Penelope wie die Mutter Gottes; eine schöne Sache, ein guter Vater und später der Stammvater Abraham inmitten der Enkel; eine schöne Sache, das lärchene Reich von Ladiz – aber kein Lebensziel. Da hatte der Kleine mit der Fistelstimme recht. Mit einer leisen Wellenlinie ausgestrichen … Und die Landschaft? Deutschland, mein Deutschland? Bayern, mein Bayern? Karwendel, mein Karwendel? Und der heroische Alpinismus in dieser Landschaft? Die Geologie im Fels und Eis der Heimat? In Klammern: Das alles gab die Bühne ab, sowohl die Landschaft wie die Kennerschaft der Landschaft – wo aber war das wirkliche Spiel inmitten der beträchtlichen Kulisse? Schlagt ihn tot, den Snob, den Landschaftssnob und den Gesellschaftssnob, der sich mit einer leeren Dekoration begnügt, während die Verbindung mit den Engeln verlorengeht und alle Menschenherzen bluten! Er strich's mit einer andern Wellenlinie durch.

Missing-Link, noch einmal, ganz dünn hingepinselt, ohne Unterstreichung … Ein Freund? Vielleicht der aus dem Pürschhaus? Der mit den giftigen Zähnen? Empfand man's wegen dieses Menschen so schmerzlich, an dem Pürschhaus vorbeizumarschieren, seitdem dort die Fensterläden verschlossen waren? Zwei Männer, konnten die, wenn sie sich einten, das Missing-Link aufspüren, das ihnen, wenn sie einsam blieben, fehlte?

Blödsinn, Blödsinn! Die ganze »Aufstellung« Blödsinn! Lauter leere, ausgelaugte Worte! Er riß den Bogen durch, zerfetzte ihn und warf die Fetzen in den Korb. Er nahm seinen alten Gletscherhut, der neben ihm auf der Schreibtischplatte lag, und ging ins Freie.

Übers Joch kam grad der Zug des Almviehs. Man hörte weithin die Glockenkühe. Terese und die Kinder waren längst droben, aufgeregt und lustig. Bald mußte die Spitze der schleppfüßigen Wallfahrt am Wald oberhalb vom Kuhbrunnen herauskommen. Er bummelte hinauf, den Schädel leer, die Seele müd.

Das erste, was er hörte, war das Lied der Almerin und des Sennen. Die Almerin schien an der Spitze zu wandeln. Man sah sie noch nicht, der ganze Zug steckte noch im Wald, doch ihre Stimme klang viel näher als die Männerstimme. Vermutlich war's der Senn, der in der Mitte schritt, mit dem sie sang. Von dem Sennen, welcher abschloß, war noch nichts zu hören. Es war ein altes Karwendellied:

»Müd bin i, müd bin i,
Leg i mi nieder,
Packt mi die Lieb,
Auf muß i wieder.«

Sie sangen es im Wechselsang und ohne großen Ausdruck. Sie sang voraus: »Müd bin i, müd bin i«, klagend. Dann war es einige Sekunden still, und man hörte nur die Glocken gehn. Dann kam von hinten eine tiefe Männerstimme: »Leg i mi nieder«, sehr fest und sicher. Sie fiel gleich ein: »Packt mi die Lieb«, und ließ es hoch oben ausklingen. Er aber wartete wieder ein paar Schritte, eh er es aufnahm, ebenso bestimmt wie zuvor: »Auf muß i wieder.« Sie kannten scheinbar nur diese einzige Strophe, denn sie wiederholten's immerzu:

»Müd bin i, müd bin i,
Leg i mi nieder,
Packt mi die Lieb,
Auf muß i wieder.«

Jetzt kamen sie aus dem Wald heraus, und was vorauszog, das war Barbararagatsch. Sie schritt daher, als wäre sie die Führerin der ganzen Herde. Terese hatte ihr eine grüne Papiermütze aufgesetzt und den Glockenzug vom Schlitten an die Ärmel genäht. Als sie in die Nähe ihres Vaters kam, begann sie zu bocken und zu stoßen wie ein Kalb. Sie schlug mit der Hinterhand nach ihm aus, bis er hinter den Brunnen flüchtete. Dann lief sie wieder an die Spitze und trabte würdevoll dahin. Er rief ihr noch nach: »Nicht so weit mitgehn!«, dann rief er der Almerin seine Gratulation zu. Dann kamen die Tiere.

Einige schwenkten an dem Brunnen ab und schlürften ein paar Maul voll Wasser. Alle waren gut im Futter und prächtig geschmückt. Eine Wöchnerin hatte ein Kalb bei sich, das nicht älter als zehn Tage sein konnte. In der Nähe klang der Glockenschlag so eindringlich, daß es einen fast mittrieb, ins Tal, ins Tal, in den Stall, in den Stall, in den kuhwarmen, kuhdummen, kuhguten Stall.

Die Sennen grüßten ihn voller Stolz. Zuletzt kamen die Schafe und Ziegen, ein gedrängter wirrer Haufen. Die trugen lauter helle Klingeln. Das ängstliche Gemecker von zwei weißen Kitzen, die auf der Alm geboren waren und noch keine Witterung dafür hatten, was da drunten auf sie wartete, war der Schluß.

Terese und Lois waren nicht dabei gewesen. Die steckten noch im Wald droben. Offenbar hatte nur Barbi den Enthusiasmus aufgebracht, die ganze Herde an sich vorüberziehn zu lassen und dann noch einmal an die Spitze zu rennen, durch das Getümmel hindurch.

Er lehnte sich an den Brunnenpfosten und summte gedankenlos den Wechselgesang mit:

»Müd bin i, müd bin i,
Leg i mi nieder,
packt mi die Lieb,
Auf muß i wieder.«

Als es drunten verklang, summte er für sich selber weiter.

Er war so geistesabwesend, daß er Lois, der vom Waldrand her zu ihm gelaufen kam, ganz übersah. Der Junge stupfte ihn in die Seite und rief: »Du bist's!« und hüpfte lockend vor ihm her. Aber er hatte keine Lust, ihm nachzulaufen und ihn zu fangen. Er ließ ihn allein den Hang hinunterrennen. »Wo ist die Mutter?« rief er ihm noch nach.

»Dort – Bächlein machen –«, schrie Lois zurück und eilte mit aller Kraft los, um den Zug einzuholen, der jetzt schon unterhalb vom Hof dahinwallte.

Xaver sah nach Terese aus. Tatsächlich, dort war sie. Am Waldrand. Ganz nah. Sie hatte keine Ahnung, daß er hier stand. Und Lois hatte die richtige Auskunft gegeben. Sie glaubte sich allein im weiten Rund und vollbrachte gerade das, was die Kinder »Bächleinmachen« nannten.

Paradiesisch hockte sie da. Mit dem Rücken gegens Tal. Nur drei Sekunden lang, doch es riß ihn aus seiner Vergletscherung.

Beim Kleiderzurechtmachen drehte sie sich um und entdeckte ihn. Sie wurde rot, knallrot. Er lief in ein paar weiten Sätzen zu ihr hin.

Sie war noch scheu. Sie drückte ihn noch zurück. Sie wandte noch den Kopf mit einem bösen Ruck zur Seite, als er sie küssen wollte. So schnell wie bei ihm ging's nicht bei ihr mit dem Kontakt. Sie fühlte, daß das Eis gebrochen war, jedoch es war beim Weib ein längerer Weg vom ersten Tauwind zu den ersten Blumen.

Er ließ es sein. Sie gingen stumm zum Haus hinunter.

Beim Abendessen sagte er: »Sieh mal dies da, meine Hand, weißt du, was das ist? Das ist ein Biß.«

»Ein Biß?« sagte sie verwundert. Sie war noch auf der Hut vor ihm.

»Ja, ein Biß, ein Menschenbiß«, sagte er lachend. Aber man hörte trotz des leichten Tons, daß er ihr etwas Wichtiges anvertrauen wollte. »Der kleine Maler vom Pürschhaus – wie hieß er doch, der Kerl?«

»Philipp Glenn?«

»Richtig, Philipp Glenn, wir haben uns vor vier Wochen verprügelt.«

»Was?«

»Eine alberne Geschichte. Ich vergaß ganz, es dir zu erzählen. Ich war ja schrecklich nervös in den letzten Wochen, oder?«

»Das kann man wohl sagen«, antwortete sie in eisigem Ton und gefährdete damit die ganze Versöhnungsaktion.

Aber er war von einer viel zu warmen Welle überströmt, um ihre Bockigkeit ernst zu nehmen. Er ließ sich auf keine Auseinandersetzung ein. Er ließ ihren Widerstand über sich ergehn. Er schaltete seinen Männerstolz aus und sperrte seinen eigenen Bock in den Stall ein. Er wußte, daß er siegen würde.

Sie ließ sich die Geschichte von der Rauferei an der Grube erzählen. Er brachte es so vor, als handelte es sich nur um einen Spaß, um einen Dummenjungenstreich von beiden Seiten. Er hatte sich ja nicht einmal den Namen des andern Mannes gemerkt. Aber sie fühlte, daß es eine Preisgabe war, was er da begann. Ein Männerverrat geschah da, ihr zuliebe. Es lag ihr nichts daran, das Geheimnis zu ergründen, das hinter dieser naiven Erzählung verborgen lag. Es genügte ihr, daß er ein tiefes neues Vertrauen an sie richtete.

Er selber spürte nichts von einem Geheimnis, von einem Männerverrat, von einer Preisgabe. Er tat es in Trance, er wollte sie haben und sonst nichts. Die warme Welle, die das Eis gebrochen hatte, sollte ausströmen, in die Frau hinein, in die ganze Welt hinein. Keine Lebensaufstellungen mehr, das führte keinen Schritt weiter. Keine Missing-Link-Qual mehr, das war eine üble Neurasthenie. Keine Männerfreundschaft, keine sonstige Männerwichtigtuerei, das war das Gift vom Biß. Wellen, warme Lebenswellen, das war das Leben.

Schließlich war auch sie soweit. Die körnigen Eisschollen flossen ab. Es wehte der linde Wind. Zum erstenmal seit der Nordwand kam er wieder in ihr Zimmer. Draußen heulte der West, der nach dem ersten Schnee roch. Aber drinnen hatten sie den kleinen Schützengrabenofen angesteckt und hatten es warm.

»Jetzt sind sie alle im Stall«, murmelte er, als die Zeit gekommen war, da sie faul wurden.

Sie wurde wieder wach. »Wer ist im Stall?« Sie gluckste ein kleines Lachen, ohne die Augen zu öffnen. »Ach ja, die alten déjà-vue-Kühe.«

»Du Luder«, sagte er und öffnete die Augen und beguckte sie.

Sie hatte die Augen noch zu. Sie zwinkerte nur ein wenig in den Kerzenschein hinein. Der alte Lichtstummel aus dem Stall, den sie sich ans Bett gestellt hatten, war am Ausbrennen. Er flackerte und knisterte das Finale.

»Müd bin i, müd bin i«, summte sie leis.

»Leg i mi nieder«, fiel er laut ein.

»Packt mi das alte déjà-vue –«

»Schimpf ich dich wieder –«

»Nein, bitte nicht mehr«, sagte sie in todernstem Ton. »Nicht mehr so mörderische Dinge sagen, nie mehr, nie mehr.«

»Wer weiß«, erwiderte er lachend und legte seine Hand in der ganzen Breite auf ihr Gesicht, da sie die Augen aufschlagen wollte.

Nein, er wollte nichts mehr von den alten Dingen wissen. Er wollte jetzt nicht dem heroischen Blick dieser Augen begegnen. Er verhüllte ihr Antlitz mit seiner rechten Hand und zog sie mit der Linken an sich, während der Lichtstummel verlosch.


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