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Siebentes Kapitel

Der Arbeiter mit dem Glasauge war's wieder, welcher die neueste Neuigkeit von den Gruben des Alten Mannes ins Pürschhaus brachte. Aber die Gäste des Herrn Fergus waren an diesem Morgen nicht auf einen Sitz versammelt wie am vorhergehenden Tag, sondern kamen in großen Abständen von ihren Toilettentischen zum Frühstückstisch herangekrochen. So kam's, daß der Mann eine gute Stunde lang auf der Veranda der großen Welt festgehalten wurde.

Denn Herr Fergus, der Frühaufsteher, welcher die Botschaft als erster in Empfang genommen hatte, wünschte, daß seine sämtlichen Gäste den Originalbericht zu hören bekämen. Sogar in das Zimmer seiner Frau führte er den Mann. Auch der Engel sollte die Geschichte von dem nächtlichen Attentat aus erster Hand serviert bekommen. Auch der Engel sollte seinen Anteil haben an der ehrlichen Empörung, die zu dem Frühstück dieses Morgens gehörte wie die Worcestershiresoße zu den Schweserpasteten, welche außer dem Tee und den frischen Alpenrosensträußen die Tafel zierten.

Als Glenn erschien, nach einem langen traumlosen Schlaf einer der letzten, herrschte bereits eine sehr gemütliche Kriegsstimmung. Man hatte den Arbeiter in leutseliger Weise an den Tisch placiert, zwischen Nora Pleß und Herald Fergus, und mit drei Pasteten und einem Glas Portwein bewirtet. Er saß da wie ein Frontsoldat, der sich in ein Stabsquartier in der Etappe verirrt hat, und stocherte unbeholfen auf seinem Teller herum. Nora Pleß schaute schamvoll weg, wenn er die Gabel zum Mund balancierte, als wollte er sich verstümmeln. Aber Herald empfand es als Urwüchsigkeit und hatte einen starken ästhetischen Genuß an dieser unästhetischen Fresserei.

»Meine Herrschaften«, sagte Fergus, »what to do? Ich sehe drei Möglichkeiten, um diese Unverschämtheit zu parieren. Das Nächstliegende ist natürlich eine Anzeige beim Gericht. Ich brauche nur an die Gendarmeriestation zu telephonieren, und die Sache geht in Ordnung.«

»Ausgeschlossen«, sagte Herald. »Wir sind doch hier nicht in Bremen, Papa.«

»Wo denn sonst?« sagte sein Vater. »Wo wir sind, ist Bremen, mein Jung.«

»Sehr richtig«, sagte Stettenheimer lachend. »Glaub nur nicht, daß du in deinem ganzen Leben aus Bremen herauskommen kannst, Herald. Keinen Schritt kommst du aus Bremen 'raus, auch wenn du hundertmal um die Welt tanzt.« Er versäumte keine Gelegenheit, Heralds Fortschrittlichkeit zu verspotten.

»Nur kein Wildwest, bitt schön! Bremen! Die Polizei anklingeln und fertig.«

»Anklingeln und fertig«, äffte Herald. »Das ist das einzige, was man in Bremen kann, anklingeln.«

»Anklingeln, Joseph«, sagte Stettenheimer zu dem alten Fergus, »Bremen«. Und alle lachten das dürre, sich selbst verspottende Puritanerlachen der Hanseaten. Womit der Gendarmerievorschlag durchgefallen war.

»Dann gibt's nur noch zwei Möglichkeiten«, unterbrach Fergus die Debatte über die Seele des ehrbaren Kaufmanns, die jetzt zwischen Herald und Stettenheimer ausbrach. Er war gewohnt, Versammlungen zu leiten und die Lyrik niederzuschlagen. Lyrik nannte er alles, was sich nicht in Zahlen festlegen ließ, vor allem das philosophische Gerede seines Sohnes und seines Hausarztes. »Daß du ein russischer Fabrikarbeiter bist, Herald, ist uns allen klar. Und daß der Professor eine wüste Krämerseele ist, wissen wir auch. Hier handelt sich's aber nicht um eure zwei hochverehrten Seelenzustände, die sind uns bereits aus den Zeitungen zur Genüge bekannt. Hier handelt sich's um Krieg oder Frieden in Ladiz, wenn wir schon einmal auf die Hilfe der Gendarmerie verzichten, heldenhaft wie wir alten Sioux-Indianer mit unseren wilden Squaws nun einmal sind.«

Er rauchte seine kohlschwarze Importe an, während Nora Pleß und die Quendel den Kriegsruf der Sioux probierten.

»Allen Ernstes, Kinder! Entweder wir lassen uns bluffen, dann geben wir unsere archäologische Expedition auf. Oder wir graben weiter, dann aber unter Anwendung aller Maßnahmen, die uns gegen diese Frechheiten schützen.«

Selbstverständlich waren alle für den letzten Vorschlag. Die Sensation, die Papa Fergus mit der Expedition zum Alten Mann angedreht hatte, mußte zu Ende geführt werden.

Stettenheimer war der einzige, der widersprach.

»Nonsens, anklingeln, Bremen, keine Heldentaten, kein Wildwest.« Er glaubte weder an die prähistorischen Funde noch an die Möglichkeit, mit diesem Doktor Ragaz fertig zu werden. Aber da er seit dem vorhergehenden Abend bereits als »sentimentaler Nihilist« abgestempelt war – er hatte selbst die Diagnose der Quendel weitergegeben –, wurde er glatt überstimmt.

Man beriet, welche Schutzmaßnahmen für die bedrohte Expedition in die Bronzezeit getroffen werden sollten. Frau Waag, die alte Verkünderin des Himmels und der überirdischen Liebe, war für die Offensive. Sie wurde dabei, wie immer, von ihrem Mann sekundiert. Ihr Clownchen hatte während der ganzen Nacht gewinselt. Ganz gewiß hatte es auch Fieber. Leider war es Onkel Waag nicht gelungen, das Fieberthermometer richtig anzubringen, so daß man nicht genau sagen konnte, wieviel Grad. Sie schlug daher vor, man sollte als Gegenmaßnahme den Köter des Doktor Ragaz erschießen oder vergiften. Sie hatte sich gestern nachmittag bereits mit einem der Holzknechte angefreundet, einem herrlichen Naturmenschen. Der war für eine entsprechende Summe bereit, diese Sache zu übernehmen.

»Aber gestern nachmittag waren die Gruben doch noch gar nicht zugeschüttet?« warf Glenn ein, der bis jetzt noch kein Wort gesagt hatte.

»Aber mein Hund war schon gebissen, wenn Sie sich vielleicht erinnern wollen«, sagte Tante Waag. Sie wußte ganz genau, daß Glenn sowohl gegen ihr Clownchen wie gegen ihren Gott war. Clownchen hatte er schon oft mit dem Fuß weggestoßen, wenn es seine Männchen gemacht hatte, um gestreichelt und bewundert zu werden. Und ihren Gott hatte er einmal weißen Nebel und einmal sogar grauen Nebel genannt. Jawohl, sie war dafür, den Köter des Doktor Ragaz ermorden zu lassen. Und wenn das nicht half, sollte man noch einen Schritt weitergehn und seine kleine Tochter entführen lassen und im Pürschhaus versteckt halten, bis der Herr Papa Ruhe gab. Sie wollte schon dafür sorgen, daß das kleine Mädchen, mit dem sie sich auf ihren Spaziergängen ebenfalls bereits angefreundet hatte, im Pürschhaus gut aufgehoben wäre, bis es durch ein feierliches Friedensversprechen wieder ausgelöst würde.

»Ein christlicher Vorschlag«, sagte Glenn und wandte sich wieder seinem Frühstück zu, während Frau Waag ausgelacht wurde, womit auch dieser Plan erledigt war.

Nach langem Hin und Her einigte man sich endlich. Der Attentäter sollte ignoriert werden, sollte Luft für das Pürschhaus sein. Die Arbeit sollte weitergeführt werden, als ob nichts geschehen wäre. Durch Einstellung von drei oder vier neuen Arbeitskräften sollte der Schaden wieder quitt gemacht werden. Und vor allem sollten die Gruben des Alten Mannes Tag und Nacht unter scharfer Bewachung gehalten werden.

Papa Fergus wollte selbst dafür sorgen, daß ein paar neue Arbeiter aus der Riß engagiert würden. Das Bewachungssystem sollte von Nora Pleß und Herald ausgearbeitet werden. Und das Ganze war ein Riesenspaß und kostete nichts weiter wie ein bißchen mehr Kapital, als bisher für den Alten Mann vorgesehen war. Aber das spielte ja bei Papa Fergus keine Rolle.

Nur der Quendel war es aufgefallen, daß Philipp Glenn, nach seinem kleinen Zwist mit Frau Waag, nicht mehr an dem Kriegsrat teilgenommen hatte. Er aß mit großem Appetit sein Frühstück, nahm sich ausgiebig vom Porridge, vom Tee und Toast und Jam, präparierte mit Inbrunst seine Pasteten, als alle andern Gäste längst damit fertig waren, danach rauchte er seine Zigaretten vor sich hin, als ginge ihn die Sache nichts an. Dabei war er doch der Anstifter der ganzen Graberei? Und dabei hatte er doch, nach seiner Rückkehr vom Ragazer Hof, offiziell verkündet, daß der Streit beigelegt wäre?

Sie war wütend auf ihn. Schon gestern abend hatte er sie so kühl behandelt, als hätte er das gemeinsame Geheimnis vergessen. Und heute früh hatte er sie noch kaum angeschaut. War er auf den guten alten B. O. S. eifersüchtig? Oder war er wirklich einer von jenen armseligen Snobs, die ihren Scharm nur bis zur Minute des Besitzes spielen lassen, um dann mit einem Schlag kalte Affen zu werden? Sie wußte es nicht. Nur daß der Dünkel, mit dem er sich jetzt abseits hielt, bestraft werden mußte, wußte sie.

»Was sagt eigentlich Herr Glenn zu unserm Plan?« fragte sie in eisigem Ton, nachdem bereits alle Richtlinien der großen Defensive festgelegt waren.

»Ich?« sagte Glenn. »Wieso ich? Was geht es mich an?«

»Ich dachte, Sie sind der Obermacher? Der verantwortliche Redakteur?«

»O nein«, erwiderte er. »Ich bin nur der archäologische Sachverständige, gnädiges Fräulein. Das andere ist nicht meine Sache.«

Es klang sehr gereizt, und alle hörten es.

»Wenn Sie mich aber fragen, was ich zu diesem großen Krieg sage«, fuhr er fort, »dann möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß es noch lange nicht sicher ist, ob die Gruben von Doktor Ragaz zugeschüttet worden sind.«

»Ah so?« sagte sie. »Wer soll es denn sonst gewesen sein?«

»Jemand anders«, erwiderte er lachend. »Zum Beispiel ich.«

»Machen Sie keine Witze, Glenn«, sagte Fergus. »Aber darin haben Sie tatsächlich recht, man kann nicht gegen diesen Mann vorgehn, ohne Beweise in der Hand zu haben.«

»Wir gehn ja auch gar nicht gegen ihn vor«, meckerte Nora Pleß, »Wir schützen uns doch nur gegen Herrn Unbekannt?«

»Richtig, mein Mädchen«, sagte Fergus, und Nora Pleß wurde ganz rot vor Freude über ihre Klugheit.

»Sie glauben wirklich, Glenn, es kommt ein anderer Attentäter in Frage?« fragte B. O. S. »Wer könnte das sein?«

»Alle möglichen Leute«, sagte Glenn. »Zum Beispiel dieser Herr hier.« Mit einem Zorn, den kein Mensch verstand, wies er auf den Arbeiter mit dem Glasauge, der allmählich seine Scheu abgelegt hatte und schon das dritte Glas Portwein trank. »Das wär gar kein schlechtes Geschäft, was, du? Am Wochenend schütten wir unsere Gruben immer wieder ein, dann haben wir Arbeit bis zum Winter, dann können wir jede Woche einmal Pasteten essen und Wein trinken und uns über diese ganze Bande hier lustig machen, wie?«

»Det is alles mögliche, Meister«, knurrte der Arbeiter und warf ihm einen giftigen Blick zu.

Die andern lachten ein sprödes Lachen und redeten schnell über diese Taktlosigkeit hinweg. Es war klar, daß Doktor Ragaz der Attentäter war. Glenns Einwand war ein unverständlich dummer Witz.

Aber das hatte er erreicht, daß die gute Laune des Kriegsrats zu Ende war. Es blieb bei den Defensivbeschlüssen. Der Arbeiter rekelte sich hoch, um seinen Kollegen Bericht zu geben.

»Ich geh mit«, sagte Glenn. Er verabschiedete sich mit einem kleinen Nicken von Herrn Fergus und stieg hinter dem Mann die Stufen hinunter, den angenehmen Kribbel der empörten Blicke im Rücken.

Auch der Arbeiter hatte einen Kribbel im Rücken, als er vor seinem »Meister« den Weg zu den Gruben marschierte, das war deutlich zu merken. An der Ecke, wo der Viehtrieb von der Karrenstraße abzweigte und das Pürschhaus außer Sicht war, drehte er sich um und grinste fragend, ob sie nicht zusammen gehn wollten. Aber Glenn wies ihn mit einem hoffärtigen Ruck an, weiterzugehn und nicht auf ihn zu warten. Also schlenkerte der Mann weiter, extra langsam, träge wie ein widerspenstiger Esel, der bereit war auszuschlagen, wenn der Stock des Herrn über ihn kam.

Glenn war verärgert. Die Nichtigkeit der Fergus-Leute, ihr Kriegsrat, ihre Wichtigtuerei, das war alles schlimm genug, wenn's hinter verschlossenen Gardinen vor sich ging. Solang diese reichen Leute unter sich blieben, konnte man ihre Nulligkeit mitmachen, aus Langeweile, aus Müdigkeit und Mattigkeit, im Bewußtsein, daß es eine Art Winterschlaf des eigenen Herzens war, weil's zur Zeit kein besseres Gestade gab für einen Mann auf dieser dahinsinkenden Welt. Aber sobald sie anfingen, sich sozial zu gebärden und die Urwüchsigkeit ihrer Knechte zu umschmeicheln, wurde die römische Lüge unerträglich.

»Das war wohl sehr lustig«, sagte er, als der Lümmel an der unteren Grube so langsam ging, daß sie Seite an Seite gerieten, ob er wollte oder nicht. »Lustig, was?«

»Was war lustig?« sagte der andere und blieb stehn.

»Das auf der Veranda!« Er wußte ganz genau, was der Kerl sich bei diesem schroffen Ton dachte. An seine körperliche Überlegenheit dachte er natürlich. Daß es ihm eine Kleinigkeit wäre, den unbequemen »Meister« hier ohne Zeugen niederzuschlagen. Aber er sollte sich täuschen, der Gute. »Da bei den reichen Leuten und den schönen Pasteten, meine ich. Glaubst vielleicht, ich hab nicht gemerkt, was du dir dabei gedacht hast, alter Freund?«

»Was werd ich denn gedacht haben, Herr?« sagte der andere. Er war sehr erstaunt. »Was hat denn der Herr gegen mich, wenn ich fragen darf?«

»Ich hab nichts gegen dich«, sagte Glenn. »Nichts gegen dich und nichts für dich.« Er machte wieder den bösen Ruck mit dem Kopf. »Weiter!«

Aber der andere blieb stehn. »Ich mache mir durchaus nicht lustig über die Herrschaften. Ich weiß gar nicht, wie Sie darauf kommen, Meister? Gestern haben Sie's schon einmal gesagt.«

»So? Hab ich's schon einmal gesagt? Wo denn?«

»Als Sie mit der jungen Dame an der Arbeitsstelle waren. Können Sie Ihnen nicht erinnern? Mein Kollege hat auch gesagt: Wo haben wir uns denn lustig gemacht, wenn wir nur unser Vesper gegessen haben?«

»Macht euch lustig, soviel ihr wollt, ihr dummen Kerle! Aber bildet euch nur um Gottes willen nicht ein, daß ihr diesen reichen Kerlen irgendwas voraushabt.«

Der Mann war sprachlos. »Voraushabt? Natürlich haben wir nichts voraus, wenn wir nichts zu fressen haben und uns ausbeuten lassen müssen.«

»Natürlich bildet ihr euch ein, ihr habt was voraus!« schrie Glenn los. »Ihr verlogenen Hunde! Ihr seid ja noch viel verlogener als diese Hunde da drunten! Die fressen wenigstens Pasteten und saufen Wein zu ihrer Nulligkeit. Und ihr bildet euch ein, ihr seid keine Nullen? Nur weil ihr keine Pasteten freßt und keinen Wein sauft? Hängt euch doch auf, wenn das euer ganzer Trick ist, daß ihr nichts zu fressen habt und euch ausbeuten läßt.«

»Ich bin kein Kommunist, Meister. Ich glaube, der Meister hält mich und meinen Kollegen für kommunistisch angehaucht?«

Glenn mußte lachen. Der Mann glotzte ihn mit ehrlicher Blödigkeit an und konnte kein Wort mehr verstehn, »Wissen Sie, warum ich so wütend auf Sie bin?« fragte er in heiterem Ton.

Der andere schüttelte den Kopf und schien jetzt wirklich Angst zu bekommen, daß er es mit einem Verrückten zu tun habe.

»Weil ich mit dir nach Mexiko tippeln wollte, du Idiot. Oder nach Rußland. Oder nach China. Aber das war ein gewaltiger Irrtum. Nicht um ein Streichholz mehr Feuer steckt in euch als in denen dort drunten. Und deshalb sollt ihr euch auch nicht über diese armen reichen Hunde lustig machen, ihr armen armen Hunde! Verstanden? Marsch!«

Der Mann drehte sich auf dem Absatz um und schritt weiter, ohne zu antworten. Glenn lachte vor sich hin, während er sich ebenfalls wieder in Gang setzte.

Es war klar, daß der andere ihn für wahnsinnig hielt. Und kein Mensch der Welt konnte ihm das verübeln. Es war Wahnsinn, was er soeben mit seiner Fistelstimme, deren Mißklang ihm selber noch in den Ohren lag, vorgebracht hatte.

Heller Wahnsinn! Man konnte mit diesem Kerl über die Weiber zoten, über die armen und über die reichen Weiber; und man konnte aus ihm einen Joseph Fergus machen, indem man ihm Geld und einen guten Anzug und ein Telephon gab; und man konnte einen Bolschewisten aus ihm machen, einen Schreihals oder einen Aktenmappenrevolutionär, einen Halsabschneider vielleicht sogar, wenn er das nicht schon von selber war; und man konnte ihn lassen, wie er war, und sich wie Herald Fergus an seiner ungeschickten Fresserei erbauen – das alles konnte man mit ihm machen, nur grad dieses nicht, was er mit ihm versucht hatte. Nein, man konnte ihn nicht zu seinem Mann machen. Nicht zu dem Mann, der mit einem über der toten Pürschhauswelt stand, jenseits von arm und reich, jenseits von oben und unten, ein Mann zwar mit scharfem Arme-Leute-Geruch, doch ein Mann. Und wenn man's in seiner einsamen Verzweiflung doch versuchte, wenn man mit den Knechten zu hadern begann, nachdem der Hader mit Gott und den Mächtigen dieser Welt langweilig geworden war, dann wurde man eben für einen Wahnsinnigen gehalten, mit Recht, mit vollem Recht.

Aber kurz bevor sie an den Arbeitsplatz kamen, blieb der andere noch einmal stehn und nahm das Gespräch mit dem Wahnsinnigen, der lachend hinter ihm her schlenkerte, noch einmal auf. Er hatte scheinbar irgendeinen Sinn aus dem Zank herausgefunden.

»Kennen Sie das, Meister?« fragte er und zog aus der hinteren Tasche seiner samtenen Hose ein schmieriges Heftchen.

Glenn sah darauf, ohne es zu nehmen, obwohl es ihm mit einer sehr freundlichen Geste hingehalten wurde. »Det is das Richtige, Meister. Ich hab's von einem frommen alten Mann bekommen, wie ich durch Schwaben gemacht habe. Die Schwaben sind ordentliche Leute, det sagt jeder, wo mit ihnen zu tun hat. Bitte schön.«

Glenn nahm gelangweilt das zerlesene Traktätchen aus Schwaben in die Hand.

»Wenn du mal in Herzensnot bist, hat der alte Mann gesagt, dann liest du da drin, hat er gesagt, da steht alles drin, da gibt's nich arm und reich drin, hat er gesagt.«

»Glauben Sie, ich bin in Herzensnot?« sagte Glenn belustigt und blätterte mit vorsichtigen Fingern in dem Heftchen herum. »Ah, die Offenbarung Johannis? Die Apokalypse? Sehr schön.« Er reichte es ihm wieder hin.

»Behalten Sie es, Meister. Mein Kollege hat noch vier Stück davon bekommen. Der gibt mir ein anderes. Bitte schön.«

»Besten Dank, ich hab leider keine Verwendung dafür.«

»Sie sollten drin lesen und dran glauben, Herr«, sagte der andere in dem penetranten Bekehrerton, den er bei dem frommen Mann in Schwaben aufgegabelt haben mochte. Er hielt die Offenbarung Johannis scheinbar für eine gute Medizin gegen Wahnsinn.

»Ach was!« sagte Glenn ärgerlich. Er begann aber doch den Satz, auf den sein Blick gefallen war, zu Ende zu lesen.

Zwischen Fettflecken und Kaffeeflecken stand da: »Und es erschien ein groß Zeichen im Himmel: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen, und auf ihrem Haupt eine Krone mit zwölf Sternen, und sie war schwanger, und schrie in Kindesnöten, und hatte große Qual zur Geburt.«

»Na?« sagte der Arbeiter triumphierend, als er merkte, daß der andere von der Weisheit seines Traktats gefesselt zu werden begann. »Det is gut for derartige Zustände, was? For reich und arm, was? Ich verehre es Ihnen, Meister, mit Handkuß.«

»Besten Dank«, sagte Glenn, klappte das Heftchen zu, nahm aus seiner Hosentasche eines von den Fünfmarkstücken, die er seit Wochen klimpernd mit sich herumschleppte, reichte es dem Arbeiter hin, bis der es wie unter einem Bann annahm und in die Tasche steckte; dann zerriß er die Offenbarung Johannis in vier Teile und warf die Fetzen in die Grube des Alten Mannes hinunter.

»Och«, machte der andre erstaunt.

»Weiter«, sagte Glenn lachend.

Diesmal gehorchte der Mann. Sein letztes Pulver war verschossen. Dem kleinen Narren kam man auch mit heiligen Dingen nicht bei? Er eilte los, um an den Arbeitsplatz zu gelangen, zu den Kollegen.

Und schrie in Kindesnöten, dachte Glenn, jawohl! Und hatte große Qual zur Geburt, geh, geh! Die wahnsinnige Attacke auf den Arbeiter war durch das Fünfmarkstück und durch das zerrissene Traktätchen quitt gemacht, aber gegen den Wahnsinn des frommen Mannes aus Schwaben war er gefeit.

Und schrie in Kindesnöten? Und hatte große Qual zur Geburt? Das war etwas für Weiber, für fromme Männer aus Schwaben, vielleicht auch für Leute mit Glasaugen und scharfem Arme-Leute-Geruch und scheinheiligen Tricks, wenn die sozialen Tricks versagten – nichts für Männer.

Wer schrie in Kindesnöten? Wer hatte große Qual zur Geburt? Was sollte geboren werden? Wer war mit der Sonne bekleidet, und zu wessen Füßen stand der Mond? Nein, nein, ihr kriegt mich nicht, ihr Hunde, mich nicht, mich nicht! Mit alten Worten und mit neuen Worten nicht!

Wenn man ihn aber gefragt hätte, wer ihn denn kriegen wollte, gegen wessen Gewalt er denn aufbegehrte, was hätte er dann geantwortet? Warum attackierte er das arme Pürschhaus und den armen Tropf mit dem Glasauge? Was taten ihm die guten Fergusleute? Was tat ihm der gute Mexikanerlümmel da?

Niemand hatte etwas gegen ihn. Er war es, der angriff. Warum? Wozu? Und schrie in Kindesnöten? Und hatte große Qual bei der Geburt? Geh, geh!

Schluß mit dem Wahnsinn und der Kindesnot! Der fromme Mann aus Schwaben und die Apokalypse mit den Kaffeeflecken und Fettflecken: das war die richtige Antwort auf den blöden Zorn, der grundlos in ihm schwoll und schwoll, seit Wochen, Monaten, seit Jahren. Traktätchenzorn, du lieber Gott!

Er besah sich den Schaden, der durch Doktor Ragaz angestellt worden war. Er sprach mit den Arbeitern und teilte ihnen die Beschlüsse des Herrn Fergus mit. Der alte Irgel kannte zwei tüchtige Burschen in der Riß, die gerade arbeitslos waren und sofort eingestellt werden konnten. Der eine war taubstumm, aber ein tüchtiger Erdarbeiter. Der andere hatte sieben Kinder, man tat ein menschenfreundliches Werk, wenn man ihm einen Verdienst vermittelte.

Gut, der alte Irgel bekam Vollmacht, sie zu engagieren. Und da es Samstag war und bald Mittagszeit, konnten sie jetzt Schluß machen. Abmarschieren, Feierabend, sich im Pürschhaus den Lohn auszahlen lassen, zu den Weibern und zum Bier ins Tal trollen. Am Montag ging's dann mit Volldampf wieder los.

Allright, grüß Gott, grüß Gott.

Nein, wozu der Zorn? Es war still und schön im Wald, wenn man allein war. Ein tiefer Friede war auf der Welt, wenn man mit dem Gesindel fertig war, mit dem reichen Gesindel, mit dem armen Gesindel. Tief unter allen Dingen lag ein großer, großer Friede. Ein leiser Föhnwind in den Bäumen: Friede. Der träge Regenwurm im ausgehobenen Erdreich: Friede. Ob man ihm zusah, wie er ringelnd mit dem Humus sich vermählte, ob man mit einem schnellen Fußtritt ihn zertrat, und es war aus mit ihm, und er war eingegangen in die Regenwürmer-Unendlichkeit: Friede.

Und auch dies war schön und konnte in das große Reich des Friedens einbezogen werden, daß Herr Doktor Ragaz seine Drohung wahr gemacht und die Gruben eingeschüttet hatte. So gab es doch noch Männer auf der Welt, die ihre eigenen Wege schritten? Das ging doch gegen Philipp Glenn, dies Attentat, das war doch klar seit dem gestrigen Streit, nicht gegen Joseph Fergus oder Herald Fergus? Der gute alte Noah wollte Krieg mit ihm, mit keinem andern Menschen sonst? Und wenn es noch einen Krieg gab zwischen zwei Kavalieren, einen lustigen sinnlosen Krieg, einen Krieg ohne Politik, Geld, Weiber, Maschinen, keinen Krieg im Gehirn, einen Krieg im Gestrüpp der Männerseelen, einen richtigen Krieg, dann gab's auch noch einen richtigen Frieden auf der Welt? Ja, dort nur, wo kein richtiger Krieg mehr war, in der Gesindelwelt, in der verlogenen Welt der Wasserköpfe, da gab's auch keinen richtigen Frieden mehr.

Sehr schön, Herr Noah! Die Arche aus Lärchenholz ist zu eng geworden? Und draußen nichts wie Sinflutwasser? Und immer weitersteigend, bis zum Ararat, bis zur Nordwand von Ladiz? Und nirgendwo ein Mann, mit dem ein Krieg sich lohnte, damit es dann zu einem wahren Frieden käme?

Den Krieg, den kannst du haben, Enzianklotz. Der Friede ist für mich allein, dazu bist du zu dumm, mein Freund. So schwer errungen, wie mein tiefer Friede ist, tief wie die Regenwurm-Unendlichkeit, tief wie die Menschenkinder-Unendlichkeit, wenn man bereits zertreten war und wieder auferstanden – o nein, mein Lieber, das ist nichts für dich, das ist für einen Menschen ganz allein. Das läßt sich schwerlich teilen, Kamerad, nicht mit einem Weib, nicht mit einem Mann.

Von der unteren Grube drang ein Juhu herauf, Mädchenstimmen. Und als sie dann da waren, die Quendel und Nora Pleß und Herald, war er bereits bester Laune, unverwundbar in seinen neuen Frieden eingehüllt.

Die Quendel spürte es sofort. Sie war begeistert von seiner Wärme. Und nachdem Nora und Herald sie allein gelassen hatten, um selber allein zu sein, waren alle Skrupel schnell vergessen.

Warum denn nicht? Da er sich seines Friedens sicher war, so sicher wie der Regenwurm im Humus, warum sollte er nicht tun und lassen, was ihm grad gefiel? Sie war so froh mit seiner ungewohnten Zärtlichkeit? Sie war so frisch gewaschen unter ihrem Bauernleinen? Der Herald und die Nora waren nicht zu fürchten, die waren weg, weit weg, und hatten mit sich selbst zu tun? Der Wald war leer? Er küßte sie, trieb seinen Spaß mit ihr im Moos und nahm sie hin.

»Du bist ein sonderbarer Kerl, einmal so und einmal so«, sagte sie, während sie sich ihre Zigarette an seiner Zigarette anzündete.

Sie setzten sich dicht nebeneinander an einen Buchenstamm und rauchten schweigend. Wie Hänsel und Gretel saßen sie da, verirrt im großen Wald, jedoch manierlich hingehockt wie auf den alten Kinderstichen, als ob es eine Schulbank wär und kein erbarmungsloser Hexenwald. »Einmal so gemein und einmal so lieb.«

Er lachte.

»Und wenn ich ein Kind bekomm, was ist dann?«

»Dann schenk ich dir die Apokalypse, mein Mädchen. Da steht alles drin, hat der fromme Mann aus Schwaben gesagt.«

»Was?« Sie lachte mit ihm, obwohl sie den Witz nicht verstand.

Er fiel in den fetten Bekehrerton aus Schwaben: »Und es erschien ein groß Zeichen am Himmel, ein Weib, mit der Sonne bekleidet, der Mond unter ihren Füßen, auf ihrem Haupt eine Krone mit zwölf Sternen. Und sie war schwanger und schrie in Kindesnöten und hatte große Qual zur Geburt.«

»Das ist schön, das ist schön«, rief sie, »das ist nicht zum Lachen, das ist nicht zum Lachen.«

»Warum denn nicht?«

Er sprang hoch und riß sie mit sich. Sie trabten Hand in Hand zum Viehtrieb hinab.


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